Danke für den ausführlichen Post, aber mir fehlt bis zum letzten Absatz der Bezug zur Migration. Ich habe verstanden, dass das deutsche Bildungssystem als eher undurchlässig gilt. Meine blasphemischen Nachfragen dazu wären:
In wieweit ist dabei berücksichtigt, dass schon alle möglichen Schranken aufgehoben wurden und mittlerweile jeder zweite Abitur macht? Dass trotzdem Fachkräftemangel besteht liegt doch eher an dem, was danach passiert und beruht auf einer Wahl, weniger auf Zwang, oder?
In meinen Augen ist es primär ein Ausdruck der Rolle des sozioökonomischen Status, gepaart mit den medialen Botschaften der verschiedenen Akteure des Systems, das man am besten am Begriff "Mittelschule" zeigen kann. Die Hauptschule wurde derart häufig in Medien, Politik, Wirtschaft und Studien dargestellt, dass man den Begriff "Resteschule" teils in offziellen Papers lesen konnte - bitte frage nicht nach der Quelle, ich erinnere mich nur dunkel. Aus der Wirtschaft wurden die Anforderungen in Zeiten des Überschusses im weiter höhergedreht, plötzlich musste ein Azubi im Finanzwesen Abitur haben, Mechatroniker mit sehr gutem Quali war eher die Ausnahme. Die Konsequenz dessen waren Eltern, die Kinder auf Gedeih und Verderb so hoch wie möglich positionieren, damit das Abitur da ist. Und dann wird studiert, weil ein Studienabschluss magisch für die praktische Wirtschaft als plakativ wichtig präsentiert wurde. Langsam verdrängen halbgare Akademiker mit fragwürdigen Abschlüssen normale Fachkräfte, nichtmal mehr Meister, Techniker oder Fachwirte, aber halt Fachkräfte. Die zu hohen Ansprüche führen dann ein paar Jahre später mit geburtenschwachen Jahrgängen zu einer Blase, weil "die Wirtschaft (tm)" Opfer ihrer eigenen Propaganda wird und man sich nur noch den Teil sichern kann, der an den Resteschulen und Realschulen tummelt. Und das sind die mit geringerem sozioökonomischen Status, der wiederum stark mit schlechteren Leistungen durch schlechtere Förderung durch das Elternhaus korreliert. Fun Fact, das Verakademisieren erhöht auch den Zeitpunkt der ersten Geburt und senkt die Fertilität, also gibt es auch noch nachgelagerte Effekte. Nun stellt sich am Ende der Kette raus, Abitur und Schmalspurstudium züchtet bessere Sachbearbeiter, ersetzt aber nicht erfahrene Fachkräfte, also müssen die sich am besten nochmal schulen oder versanden halt; das sind wahrscheinlich diese Leute, die du zu ihrem Germanistikstudium gratulierst. In der Zwischenzeit sind die Fachkräfte häufig auch eher die 2-Jährigen Ausbildungsberufe, nicht die 3,5 jährigen Pendants. Inklusive Lohndumping, Zeitarbeit und co. kommt zudem eine große, "stille" Masse, die die Blase relativ lange kaschieren konnte.
Aktuell kommt zu den Schmalspurstudien auch eine gute Propaganda seitens der Kammern: Meister ist jetzt Studium, weil das halt so in der DQR steht. Betriebe hören das gerne, weil Spezialisten, siehe voriger Post.
Obiges beschreibt keinesfalls jeden, wahrscheinlich sogar die wenigsten dieses Forums, oder deiner Bekannten, weil gleich-und-gleich-gesellt-sich-gern. Es ist jedoch ein signifikanter Trend, der je nach Region härter oder schwächer ausfällt. Rate mal wie es im Hauptgebiet der AfD sein könnte. Kannste dir denken.
Also ja, es ist wohl eine Wahl, aber selten zu jedem Zeitpunkt eine, die unter "vollständiger Informationsfreiheit" erfolgt wäre. Den Punkt lässt du in deiner Betrachtung gerne aus und gehst stattdessen vom perfekten Homo Oeconomicus aus: Wenn du die falsche Information kriegst, dann kann das auch gut in einer Sackgasse enden. Stelle ich mir gerade für Systemfremde extrem schwer vor, wenn du Spaß haben willst, dann wende dich mal mit einem fiktiven Anruf an die IHK-FOSA und lass dir erklären, was du für den deutschen Arbeitsmarkt brauchst. Hf.
Wenn das System pauschal gegen Outsider diskriminiert, warum gibt es so erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsgebieten?
Mir gefällt nicht, was da im Subtext mitschwingt und worauf es abzielt.
Zunächst einmal sind Migranten Personen ohne Pass, damit wir uns hier nicht verkanten. Unter Migranten, v.a. im Zuge der Flüchtlingskrise, hast du teilweise sehr seltsame Statistiken, die auf dem deutschen Anerkennungssystem basieren: Jemand, der primär in anderen Schriftzeichen liest und schreibt ist schonmal Analphabet, bis er nicht mindestens Deutsch B2 hat. Er ist es aber nicht. Er ist auch niemals eine Fachkraft, selbst wenn er im Ausland schon im Job arbeitete, weil ihm irgendwelche Datenschutzkenntnisse fehlen, die einfach kennzeichnend für die EU sind. Er ist aber schonmal Hilfskraft. Bewirb dich mit so was - du bekommst i.d.R. erstmal Praktika. Mit denen du aus dem ALGII fallen könntest. Oder die du nicht machen kannst, wenn du einen Sprachkurs brauchst. Das System hat seine idiotischen Abgründe. Glaube Yentoh kann dir dazu mehr erzählen, der sollte Experte sein, aber das sind Konstellationen, die mir untergekommen sind. Hier gibt es massiven Besserungsbedarf, wobei langsam aber stetig brauchbare Projekte anlaufen.
Wenn es um Deutsche mit Migrationshintergrund geht (!), sieht die Lage anders aus. Das ist meist historisch bedingt und geht primär weniger auf "die Kultur (tm)" zurück, als eher auf die Behandlung der ersten Generation, die meist eher hoffnungsvoll magisch selbst-assimilieren sollte. Ja, klappte nicht, Parallelgesellschaften und häufig Außenseiter. Natürlich nicht immer (jetzt fülle deine kAins und elaidas ein), aber häufig. Weil diese nachwievor existieren, wirst du die Unterschiede haben.
Kannste jetzt wieder mit Asiaten kommen, vma. Dennoch Äpfel vs. Birnen. Wenn du die kausale Erklärung nicht magst, solltest du begründen, warum deine besser ist. Meine hat wenigstens eine halbwegs fähige Konsensmeinung, abgesehen von diesem niederländischen Soziologen, der sowieso immer pro-forma pro-Assimilation ist. Der kann aber wenigstens seine Standpunkte begründen.
Wenn das deutsche Ausbildungssystem so schlecht ist, warum stehen wir dann so gut im Bereich Jugend- und allgemeine Arbeitslosigkeit dar? In welchem vergleichbaren Land läuft es denn besser?
Weil wir einerseits einen großen Niedriglohnsektor haben, andererseits auch durch diverse Maßnahmen Jugendarbeitslosigkeit einfach und konsequent aus den Statistiken rechnen können - etwa durch Aktivierungsmaßnahmen und irgendwelchen Teilqualifikationen. Schwups bist du schon über der Jugendarbeitslosigkeit.
Trotzdem ein valider Punkt, mir ist kein Land bewusst, das überhaupt vergleichbar wäre, weil es auch mit unserem Staatsgebilde nicht passen würde. Auch wenn das System hinten und vorne krankt, ist es noch relativ gut einen Großteil der Jugendlichen in den Markt zu drängen, v.a. weil aktuell wirklich alles genommen werden muss (siehe oben warum).
Was mich letztlich zu der finalen Frage führt: was müsste denn konkret getan werden?
Viele der Punkte hast du angesprochen, aber die sind bei weitem nicht gut genug ausgebaut. Kita-Pflicht, Ganztagesschulen, bessere Wechselmöglichkeiten "nach oben", oder ein Verbleib im System wenn der Quali gut genug ist. Ob wir noch ein dreigliedriges System unter drei verschiedenen Dächern brauchen ist fraglich. Iirc waren hier Lehrer, Piko darf hier gerne etwas sagen, beim Punkt didaktische Konzepte lässt sich mit Sicherheit auch was drehen. Ich wäre sogar für verpflichtende Praktika während der Schule, einfach um Perspektiven zu schaffen.
Dazu braucht es Personal und v.a. auch bessere Berater für Außenrum. Was die Agentur an Berufsberatung leistet ist ein schlechter Witz, auch die Kammern bekleckern sich nicht immer mit Ruhm, auch wenn diese langsam aufwachen. Ganz konkret wäre es sinnvoll dem Bachelorwahn einen Riegel hervorzuschieben und sich über andere Systeme Gedanken zu machen, wir haben viel zu viele Akademiker. Niemand braucht einen 2-Jahre-BWL-Justus, der dann im stillen Kämmerlein die Kekse aus den Meetings excelt. Ich frage mich auch, welchen Mehrwert ein Ingenieur mit BA-Abschluss mitbringt, Berufspraxis in der Regel nicht.
Generell sollten imo die Universitäten auf wirklich gehobene Stellen vorbereiten, Schwerpunkt sollte wieder in die Richtung Wissenschaft gehen. Ausgeklammert Expertenberufe, wie etwa Anwälte und Ärzte, aber um diese Disziplinen geht es nicht. Da darf man ruhig wieder sehr stark sieben und den Studenten mehr Zeit geben. Aktuell sind die Zertifikate meiner Einschätzung nach schon stark verwässert und unterstützen durch Zeitdruck jene, die durch ein Elternhaus kofinanziert werden, egal ob monetär oder auch durch Kontakte. Den letzten Satz kann ich aber nicht durch Zahlen belegen, erscheint mir aber logisch.
Edit2: "Bildung ist Ländersache" sollte komplett gestrichen werden. Dieses lokale Süppchenkochen schadet viel mehr als es nützt. V.a., weil Außenseiter und eher bildungsfremde Schichten bei einem Umzug gleich wieder mit den nächsten Sonderfällen der kuriosen Bildungs->Berufslaufbahn konfrontiert werden.
Ansonsten sollte die Laufbahn Fachkraft - Spezialist und dann "höhere Weiterbildung" auf Akademien (in etwa Bachelorlevel) verstärkt werden. Gerne durch Anrecht auf Bildungsurlaub und gepaart mit bezuschusstem Arbeitsentgelt durch den Staat. Imo hilft es den Betrieben auch mehr, wenn das Wissen immer durch Bildung - Tätigkeit - Bildung erworben wird, als durch "wir schicken/rekrutieren jemanden auf Verdacht", nur um festzustellen wie theoretisch der Kandidat Dinge weiß, aber sie nicht anwenden kann. Motiviert auch mehr, zumindest bei mir.
Letztendlich fehlen vielen Unternehmern auch einfach Einblicke in alternative Arbeitsformen. Lean und Agil sind erschreckend häufig Fremdworte, obwohl diese im Kern helfen Fachkräfteengpässe zu decken, ohne dabei jemanden auf der Strecke lassen zu müssen. Durch informellen Wissenstransfer zwischen Fachkräften werden so einige Potentiale möglich. Aber auch hier sind die Arbeitnehmer gefordert, das System überhaupt anzunehmen.
edit: auf Saidings geh ich gerade nicht ein, ist mir etwas zu stumpf alles über die OECD und Pisa zu erklären, gleichzeitig so zu tun, als ob das Bildungssystem dem Wohlfahrtsstaat entkoppelt wäre und dann lustig in einem Topf zu rühren.