Danke fürs Abschweifen, mega interessant, auch wenn es nicht so gut zu meiner "so einfach ist das" Politikvorstellung passt
ABER: Ich frage mich, ob wir die selben Menschen sehen und unterschiedlich wahrnehmen, oder wo sonst die Ablage liegt. Meine sporadischen eigenen Eindrücke und die durch den Beruf meiner Frau sind andere. Da scheint es mir, als habe ein großer Teil der Leute einfach keinen Bock und ist desinteressiert daran gute Arbeit abzuliefern. Bei jedem Zipperlein gehts erstmal zum Arzt und man holt sich eine Woche Krankschreibung und interessieren tut man sich vor allem fürs Wochenende. Das ist jetzt so pauschal, dass man damit nichts anfangen kann, ich weiß.
Aber ich sehe diese Menschen kaum, die körperlich nicht arbeiten könnten, sondern viel mehr diejenigen die eigentlich nicht arbeiten wollen.
Ich bin natürlich nicht auf dem Amt unterwegs und sehe darum die echten Härtefälle nicht.
Selbstverständlich gibt es die und ich verstehe auch jeden Arbeitgeber, der sich diese Personen nicht ans Bein binden will. Grundsätzlich würde ich differenzieren zwischen dem, was bpsw. Boot umtreibt, da wäre es Leistungsgerechtigkeit innerhalb des Arbeitsmarktes und dann zwischen XantoS' Anliegen der Aktivierung von 'Arbeitslosen' mit der Gerechtigkeit Erwerbsarbeitende vs. Empfänger.
Erster Fall sind Insider, die schon fest im Sattel sitzen und meistens auch gut durch die Arbeitsgesetze geschützt sind. Sich da auszuruhen und einen auf Trittbrettfahrer zu machen ist "immer" eine Option. Fraglich wäre da was von der Person und was durch den Führungsstil entsteht. Prinzipiell kommt noch dazu, was es halt der Firma wert ist. Wenn Booty über den Vertrieb und Provisionen kotzt verstehe ich es, bin aber auch vorsichtig, weil erfahrungsgemäß das Gras auf der anderen Seite immer grüner ist. Man mag für Vertrieb nicht viel an Fachwissen haben müssen, wird aber trotzdem auch seine Kackseiten (Dienstfahrten mit Übernachtungen Usus, muss man mögen / Zeiten ohne Provision / Schreikultur mit Management / ... ) haben, die es im Bürojob evtl. nicht gibt. Daneben gibt es aber auch das Phänomen, dass es irgendwann einfach nicht mehr bockt, ständig im Akkord Überstunden zu schieben und fröhlich den Oompa-Loompa zu zelebrieren, wenn es nach 9/11, Bankenkrise, Corona jetzt Ukraine + Energie heißt und sich irgendwie nie was am Druck ergibt. Gibt noch x andere Faktoren, die eine Arbeitsmoral einschränken, von Mikro-Management, über fehlende Inflationsausgleiche, über Kack-Kollegen, egal wie. Könnte man alles mit Jobwechsel verbessern, nur macht das der Deutsche zu wenig, oder es gibt die Gelegenheit je nach Region und Lebensalter irgendwann nicht mehr. Eine Umqualifikation ist aus Gründen immer sehr risikant und mit steigendem Lebensalter immer schwieriger.
Sind alles potenzielle Gründe. Leute sind aber auch einfach teilweise Arschlöcher und Trottel. Wenn man am Anfang der Karriere genug Glück hat und sicher sitzt, dann hat man's halt auch einfach. Die Masse wird jetzt nicht die Kleinste sein, aber an sich überschaubar. Schlimm wird's, wenn Arschloch und Trottel auf demotivierte Personen treffen und schon kippt die Leistung der ganzen Abteilung.
Zweiter Fall sind dann die angesprochenen Arbeitslosen mit Drehtürfaktor. Cele hat es etwas skizziert, was da an Arbeitsvermittlung stattfindet, bzw. rückgemeldet wird. Hier sitzen dann Leute, die am Anfang der Karriere dumme Entscheidungen getroffen haben und sich nicht ausruhen können, wenn sie was finden, weil sie nie einen Fuß in die Tür bekommen haben. Oder Leute mit veraltetem Berufsbild (bspw. Drucker), oder der typische Handwerker mit Rücken / sonstigem Leiden, oder Mütter / Berufsrückkehrer mit niedriger Qualifikation. Oder eine Kombination aus allem.
Als Jobcenter-Mitarbeiter hast du im Optimalfall ein Spezialstudium in Potsdam oder Nürnberg erfahren, im schlechtesten Fall bist du über den öD (in einer Kommune) befristet angestellt und hast einen Crash-Kurs in einem Bildungszentrum der Agentur bekommen. Als erste Herausforderung hast du das System der deutschen Berufsabschlüsse und Berufsfelder, die du in der Regel in Gänze verstehen müsstest. Neben dem Verständnis für die Ausbildung, Aufstiegssysteme (Meister/Techniker/Fachwirte + Betriebswirt) auch die akademische Welt (FH, Uni, Bundeswehr), die öffentlichen Systeme (Beamtentum + Studienmöglichkeiten dort) und die benachbarten Integrationssysteme (Anerkennung, Fördermöglichkeiten), sowie die internen Fördermöglichkeiten (SGB II für Jobcenter iirc) oder andere Bundesmöglichkeiten (Bafög et al). Ist eine Menge.
Nun kommt "das System" (c) mit "den rechtlichen Grundlagen" (tm). Runtergebrochen auf das Wesentliche: An einem 8-Stunden-Tag hast du pro Beratungstermin pro Person 45 Minuten Zeit für die Beratung und 15 Minuten für die Dokumentation. Dir wird intern eine Vermittlungsquote vorgeschrieben, die auch mindestens einmal im Jahr zur Debatte steht und über deinen Werdegang intern maßgeblich entscheiden kann. Wenn du einen Deppen-Chef hast, der selbst Karriere machen will, ist das hart behindert. In diesen 45 Minuten redest du mit Leuten unter anderem darüber, ob sie Pflichten nachgekommen sind, erklärst evtl. was die notwendigen Dokumente sind, fragst blöd wo sich beworben wurde, wie evtl. Gespräche gelaufen sind, ob sie was gefunden haben etc. pp. Heißt, von deiner Zeit gehen 20-30 Minuten mit Foramlien ab, eine richtige Beratung ist da kaum möglich. Eine Orientierung, was denn tatsächlich möglich wäre (Jobs, Weiterbildungen, ...), oder eine gezielte Verbesserung von Anschreiben und Lebensläufen vorzunehmen ist nicht drin.
Daher haben viele Berater halt ihr stumpfes Schema F, das keinem 100% gerecht wird, aber die internen Zahlen so halb erfüllt und so mittel sinnvoll ist. Üblich ist, dass man unbekannte Personen pro Forma erstmal in "die" Weiterbildungen steckt, die "immer" helfen: Bewerbungstraining und Office-Kurse. "Macht man nie was verkehrt". Stimmt auch so halb, viele Personen können eine Bewerbung (Formulierung) eher nur schlecht, noch sind sie Office-Anwender jenseits von "ich tippe mal in Word und speichere". Dann gibt es noch ein paar mehr Kurse, die in etwa in die Richtung gehen, aber auch eher so... naja sind. Tastschreiben, Büroknigge, was weiß ich. In zwei Wochen Beruf lernt das auch der 0815-Mensch.
Zwischendurch wirst du u.U. auch "gezwungen" dich auf Inserate der Jobbörse zu bewerben und das zu belegen. Die Jobbörse schickt dir aber die Post automatisiert, entsprechenden Stuss bekommst du manchmal. Wenn du jetzt nicht weißt, dass du das ignorieren kannst, solange du einen formalen Grund findest, musst du auch das mitnehmen. Formale Gründe gibt's immer, auch der Berater könnte ich da unterstützten. Nur wäre das dann ein Punkt weniger auf seiner Vermittlungsskala.
Gute Berater versuchen dann, wenn sie es können, etwas gezielter agieren, wenn die halt durch Zufall was vom Arbeitgeber-Service hören, oder über eine andere Initiative bescheid wissen. Nur finde die mal im Jobcenter, da fängt man meist an und ist nur wenig vernetzt.
Der Weg eines Jobcenter-Kunden führt nach einer Beratung (und anderen Behördengängen, die ähnlich im Fließband funktionieren) viel zu häufig in so ein Nest von Zeitarbeitsarschlochparasiten-Firmen*. Die Optimieren den Lebenslauf und verschicken halt wild die Personen an Dulli-Aufgaben, unabhängig ob sie das gesundheitlich packen oder die das interessiert, hauptsache es wird vermittelt, weil Provision. Das meist mit Erfolg, weil es genug Mistfirmen gibt, die sich so Leute suchen und nach außen so tun, als gäbe es eine reele Chance übernommen zu werden. Dann geht's in eine Firma in eine Abteilung, die meist schon zu 70% aus Quiet Quitter besteht, für irgendwas zwischen 3 Monten und zwei Jahren. Entweder die Person gibt auf, weil sie's nicht packt, oder der Vertrag läuft aus. Die Leihfirma schickt die dann zurück ans Jobcenter und das Rad geht weiter.
Ich hatte mal eine Kollegin, die folgenden Verlauf hatte (Selbstbeschreibung): jung + dumme Tochter einer Alleinerziehenden (Vater Ami und getürmt), auf alles geschissen, mit 16 Schwanger, Hauptschule kurz vor Quali abgebrochen. Durch Tochter dann "Lebenswandel", mit 19 Quali + M-Zug nachgeholt. Mit 20 Anfang Ausbildung Bürokauffrau, mit 21 abgebrochen, weil Firma geschlossen, IHK vermittelt nicht weiter. 21 dann Anstellung als Bürohilskraft, mit 22 hat die Firma dann den Vertrag auslaufen lassen und sie stand da. 8 Jahre obiger Zirkel: "Weiterbildung", 0,5-1,5 Jahre Vermittlung im Büro/Lager, Weiterbildung, ... . Wie ihr Lebenslauf nach Beratungen ausschaute war ein Witz, die Leute haben ernsthaft irgendwelche Agenturkürzel für die Weiterbildungen reingeschrieben, die sich lasen wie "Grundqualifizierung BGS - Bürogrundlagen, Postbearbeitung". Natürlich stellt das keine normale Firma ein, weil das nach Idiot aussieht. Haben es dann mal umgeschrieben auf Bullshitbingo-Deutsch und sie kam dann über eine Umschulung nach dem Qualifizierungschancengesetz des Jobcenters um und ist mittlerweile Bürokauffrau. Über diesen Weg hat sie keine Sau informiert (und die möglichen Arbeitgeber erst recht nicht), eine Frechheit eigentlich.
Andererseits verstehe ich aber auch den Sachbearbeiter der Kommune - wo Zeit und Wissen hernehmen? Selbst wenn man das hat gibt es weitere Baustellen. Beispielsweise bei der Ausgabe eines Bildungsschecks, der für die Weiterbildung genutzt werden kann. Es liegt im Ermessen des Entscheiders, ob der ausgegeben wird. Handelt man aber "fahrlässig" kann das Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen, die bis zur Pfändung des Gehalts führen könnten. In der Praxis passiert das eher selten, aber die Drohung ist real und wird auch hervorgehoben. Jedoch muss man auch irgendwie das Budget leer machen, weil es sonst die Regionaldirektion für das nächste Jahr kürzt. Also greift man halt zu Dulli-Varianten.
Die Firmen, die von diesem System profitieren, sind irgendwo zwischen naiv-inkompetent und einfach verachtenswert.
Auf eine dieser Leiharbeits-Haie bin ich mal ausversehen gestoßen, weil ausversehen dort beworben. Die schienen eine normale Firma zu sein, bis man halt da aufschlägt und sieht, dass da nur 2-3 Arschlöcher sitzen und deine Daten farmen Das waren wirklich 30 befremdliche Minuten meines Lebens. Bewirbt man sich auf eine Stelle, dann steht da ein Typ und droht mit Meldung bei der Agentur, wenn man da nicht "mitwirkt am Prozess". Sein Pech, dass ich noch in der Agentur gearbeitet habe, ging also direkt zum Kollegen des Arbeitgeber-Service und hab das in der Jobbörse gemeldet. Also wtf, wirklich. Verstehe aber jeden Arbeitslosen, der mangels Wissen auf so Maschen reinfällt.
Bildungsträger, die sinnfrei Angebote erstellen, gibt's wie Sand am Meer. Allen voran diese ganzen eLearning-Träger mit virtuellen Klassenzimmern. Da gibt's zwar sehr gute Ansätze, aber noch mehr Schatten. Gerade Personen, die lange aus der Schule waren, werden da selten wirklich abgeholt und unterstützt, weil die pädagogischen Skills der Betreiber vor Ort schrecklich sind. Dazwischen gibt's noch so Ideen, bei denen ich gespalten bin, beispielsweise "Teilqualifikationen". In diesen lernst du nur ein Halbjahr pro Ausbildungsberuf, wobei 3 Monate Praxis mit 3 Monate Theorie verheiratet sind. Die Vermittlungsquote ist enorm hoch, aber...
Für die Arbeitgeber ist das natürlich nice, bekommste Achmed, der den Gabelstaplerschein so gesponsort bekommt. Zudem wird der Lohn von Achmed gezahlt und du siehst, wie der drei Monate arbeitet. Dann übernimmst du ihn für 2 Jahre und kegelst ihn wieder raus. Achmed hat jetzt einen Gabelstaplerschein und bißchen Erfahrung. Toll für Achmed, toll für die Firma, die hat nämlich schon den Ronny in der Teilqualifikation angestellt, der könnte auch wieder 2 Jahre auf Einstiegsgehalt buckeln. Achmed sitzt bei Ursula im Jobcenter und kriegt jetzt einen neuen Bewerbungskurs, weil er hat ja jetzt etwas, das man auf den Lebenslauf schreiben kann.
-> Daher, das System ist nicht drauf ausgelegt wirklich gezielt zu vermitteln, bzw. kann das alles nicht komplett Ausschöpfen.