Puh, hartes Thema. Und ich bin echt hin- und hergerissen. Wem mein rant zu lang ist: Fazit ist im letzten Absatz.
Meine Frau und ich gehören mit unserem Haushaltseinkommen schätzungsweise zu den top 10% in Deutschland, aber dürften sehr weit weg von den top 1% sein. Es reicht bei gemeinsam ca. 65 Wochenstunden Erwerbsjob, um unser Leben als Familie finanziell recht sorgenfrei recht nachhaltig zu gestalten, ohne, dass wir dabei nennenswert Geld übrig hätten (und wenn doch, vergrößern wir Gutmenschen die eine oder andere Spende). Eigenheim, gebrauchte Familienkutsche, zwei ebikes und ein woom sowie die Heißluftfritteuse als Luxusgegenstände; Bio/fairtrade/Öko beim Essen, bei den Klamotten und beim Strom. Rund 2 Wochen Urlaub im Jahr in einer Ferienwohnung.
Ich finde, so ein Lebensstil sollte Durchschnittsverdienenden offen stehen, nicht nur den top 10% Verdienenden.
Wir sind weiß (bzw. schweinchenfarben), in Deutschland geboren, mit jeweils zwei deutschen Elternteilen, durften beide studieren. Viel priviligierter geht nicht.
Ich bin voll dafür, dass in einer Partnerschaft (erst recht: Elternteile) beide arbeiten gehen können sollten, wenn sie es möchten, ohne dass das finanzielle Nachteile hat.
Ich bin voll dafür, dass Kinder keinen finanziellen Nachteil ggü. Kinderlosen darstellen sollten.
Ich bin voll dafür, dass durch 40-50 Std. arbeiten in der Woche auch bei "Arbeiterfamilien" (ich würd mal sagen, definiert durch eine x-beliebige Ausbildung der/des Arbeitenden) genug Geld zusammenkommen sollte, um eine Familie recht sorgenfrei zu finanzieren, wenigstens in einer passablen Mietwohnung.
Ich finde, dass Menschen, die auf Dauer nicht arbeitsfähig sind (z.B. chronisch schwer Kranke) verdammt nochmal vernünftig am Leben teilhaben können sollten. Und ja, dazu gehört, dass die Kinder gesund ernährt werden können und nicht wg. ihrer Klamotten in der Schule ausgeschlossen werden, dazu gehört mal Essen gehen und auch ein Standardurlaub, dazu gehört ausreichend Mobilität genauso wie ausreichende Krankenversorgung.
Ich finde, dass ich mit meiner recht hohen Angestellten-Entgeltgruppe im TVöD mit recht hoher Erfahrungsstufe gemessen an meiner Ausbildung(szeit) und meinen Tätigkeiten gut und auch angemessen verdiene. (Bei meiner Teilselbständigkeit verdiene ich i.d.R. viel mehr pro Stunde.) Ich finde, dass meine Frau (SuE-Tarif) den deutlich wichtigeren und oft schwierigeren Job macht - sie verdient bei gleicher Erfahrungsstufe ganz grob ein Drittel weniger pro Stunde.
Ich könnte relativ oft kotzen, wenn ich sehe, wie nah an meinem Gehalt andere im TVöD sind, die viel einfachere Aufgaben erledigen, schlechter ausgebildet sind und auch schlechtere Arbeit machen.
Ich könnte ganz oft kotzen, wenn ich sehe, wie schlecht manche extrem fähigen und engagierten Bürosachbearbeitungen, Hausmeisterinnen & Co. bezahlt werden.
Ich habe im engeren Freundeskreis zwei Leute, die unverschuldet krankheitsbedingt beruflich komplett ausgefallen sind. Beide promoviert und ehemals sehr gut in ihren Jobs.
Die eine Person hat seit der Schulzeit sehr viel Geld in eine Berufsunfähigkeitsversicherung eingezahlt und kommt deswegen finanziell halbwegs über die Runden. Aber auch nur deswegen.
Die andere Person (alleinstehend) ist wegen der Krankheit in ALG II gerutscht, musste um ihre 1-Zimmer-33m²-Wohnung bangen, hat im Winter im alten Skianzug mit Wolldecken in der Wohnung gesessen und sich fast nur mit nem Waschlappen gewaschen, weil Heizen und Warmwasser zu teuer waren (besonders lustig bei einer rheumatischen Erkrankung), hat sich weitgehend von Haferflocken ernährt und konnte nur deshalb zu Familienfeiern & Co. kommen, weil sie verbotenerweise Zugtickets dahin geschenkt bekommen und diese nicht beim Amt angegeben hat. An Kino, Netflix oder mal einen Drink mit Freunden war genauso wenig zu denken wie daran, für weniger klima-/umweltschädliches Essen oder Klamotten mehr Geld auszugeben.
Ein anderer Freund - 2014 aus Syrien geflohen, wie die Meisten mit heftigsten Erfahrungen (die mich ziemlich sicher in den Selbstmord getrieben hätten), inzwischen Deutscher und mit C1-Sprachnachweis - hat sein syrisches Studium nicht anerkannt bekommen, hat sich hier schon während der Integrationskurse ehrenamtlich engagiert und sobald möglich den nächstbesten Job angenommen, um ja keinen WBS zu brauchen. Er hat nach rund 90 Bewerbungen auf Wohnungs-Kaschemmen im Kölner Osten (auf Deutsch! Mit Gehaltsnachweisen!) dann endlich eine Wohnung bekommen - aber auch nur, weil ich ihm eine Bürgschaft gegeben habe. Davor hat er x-fach (teils auch schriftlich, ich hab's gesehen) frei heraus gehört, dass an Ausländer nicht vermietet wird.
Er hat dann hier studiert, dafür ein Stipendium bekommen und noch nebenbei geminijobbed (mehr ist ja nicht erlaubt). Sein Studium ist gerade eben fertig, neuerdings ist er Vater, seine Frau ist Hausfrau (gegen seinen Wunsch, aber das ist eine andere Geschichte). Mit seinem Einstiegsgehalt (und langem Arbeitsweg) hat er nicht den Hauch einer Chance, seine Familie in der drittbilligsten Wohngegend Kölns ohne Stütze durchzubringen - und mit Stütze reicht es auch für fast nichts.
Fazit:
Wer ernsthaft glaubt, die Stütze würde ein Leben ermöglichen, das irgendwie sorgenarm wäre oder bei dem sogar Teilhabe an ganz normalen gesellschaftlichen Aktivitäten möglich wäre, glaubt an Märchen. Dass Arbeiten-gehen in vielen Berufen finanziell kaum oder nicht attraktiver ist, ist ein vollständig separates Thema.
Und dass die Armen auf die noch Ärmeren spucken, das ist traditionell der große Coup von CSU, CDU und AfD, aber meinem Eindruck nach wollen auch SPD und Linke da in den letzten 5 Jahren ein zunehmend größeres Stück vom Ruhm abhaben.
Ich habe und bin fertig.