Ab Freitag treffen sich in Hiroshima die Regierungschefs der G7-Staaten, gewissermaßen der oberste Führungskreis des »kollektiven Westens« (
Wladimir Putin). Im 15. Monat nach dem
russischen Überfall auf die Ukraine stehen sie in einem Weltkonflikt, der an Breite und Intensität zunimmt und längst nicht entschieden ist.
Die Bilder vom Gipfel in Japan dürften wie immer sorgfältig poliert ausfallen. Doch die Inszenierung kann kaum übertünchen, dass die westlich dominierte Weltordnung am Ende ist.
Offensichtliches Indiz: Trotz harter Sanktionen, die die USA, die EU, Großbritannien, Japan und weitere Verbündete verhängt haben, ist der Aggressor längst nicht zusammengebrochen. »Russlands Wirtschaft hat sich bislang als widerstandsfähiger erwiesen, als viele Beobachter ursprünglich dachten«, konstatiert der Internationale Währungsfonds (
IWF). Auch wenn sich Engpässe infolge der westlichen Technologieembargos verschärfen, soll Russlands Wirtschaft dieses Jahr schneller wachsen als der Durchschnitt der Eurozone, prognostizieren die Washingtoner Experten. Selbst im ersten Kriegsjahr 2022 schrumpfte die russische Wirtschaftsleistung nach IWF-Diagnose nur um 2,1 Prozent statt der vorhergesagten 3,4 Prozent.
Man muss sich das vorstellen: Der Westen hat Russlands Devisenreserven in Dollar, Euro und Pfund eingefroren, den West-Ost-Handel weitgehend unterbunden, Öl- und Gasimporte heruntergefahren oder mit einem Höchstpreis belegt, Versicherern die Absicherung des Seetransports untersagt und einiges mehr. Doch Moskaus Wirtschaft läuft weiter. Holprig, aber immerhin. Dass dies möglich ist, zeigt, wie sehr sich die Welt in den vergangenen Jahren verändert hat.
Das Paradoxon der Globalisierung
Bevor die
Globalisierung 1990 ihren Lauf nahm, erwirtschafteten die G7-Staaten gut die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Inzwischen ist der Anteil auf ein Drittel gesunken. Beim Welthandel sieht die Sache ähnlich aus. Der Westen ist groß, reich und mächtig. Aber der Rest der Welt hat aufgeholt.
Das Paradoxon der Globalisierung (wie ich das vor 15 Jahren im Buch »Die sieben Knappheiten« genannt habe) zeigt sich in all seinen Auswirkungen: Die durch die USA garantierte Weltordnung, die ab den Neunzigerjahren den politischen und rechtlichen Rahmen der Globalisierung darstellte, ermöglichte anderen Ländern den ökonomischen Aufstieg – und verhalf ihnen dadurch zu Machtmitteln, die letztlich die Vormachtstellung der USA schwächen. In der Folge gerät die globale Ordnung selbst ins Rutschen. Sie geht an ihrem eigenen Erfolg zugrunde. Ebendies erleben wir derzeit.
Dass die westlichen Sanktionen nicht greifen wie erwartet, liegt vor allem daran, dass es eine Menge Länder gibt, die sich nicht daran beteiligen und sie unterlaufen. China, Indien und andere kaufen russisches Öl und Gas, das der Westen nicht mehr will oder bekommt, zum Discountpreis. Russland akzeptiert dafür nicht westliche Währungen, die man wiederum dafür einsetzt, Einfuhren aus diesen Ländern zu bezahlen. Auf diese Weise lassen sich Westimporte teilweise ersetzen, nicht vollständig und nicht in gewohnter Qualität, aber Russland ist keineswegs abgeschnitten vom Rest der Welt. Die USA und die EU können die Verwendung von Dollar und Euro unterbinden, nicht aber von Yuan oder Rupie.
Iran, bislang ein Paria der internationalen Beziehungen, liefert Waffen. Auch in Südafrika soll militärisches Gerät gen Russland verschifft worden sein, sagen US-Behörden. Die Saudis, jahrzehntelang eng mit den USA verbunden, gehen eigene Wege und agieren auf der Weltbühne zunehmend eigensinnig, nicht nur bei Entscheidungen über Ölfördermengen. (Achten Sie Freitag auf den Gipfel der Arabischen Liga in Riad.)
Lateinamerika, Afrika, auch große Teile Asiens sind dem Westen nicht in das Sanktionsregime gefolgt. Den mörderischen Landkrieg im Osten Europas betrachten sie als Sache des »globalen Nordens«, der seine Probleme gefälligst selbst regeln soll. Der Peking-Besuch des brasilianischen Präsidenten
Luiz Inácio Lula da Silva kürzlich lässt sich als unmissverständliches Signal verstehen, dass man nicht gewillt ist, sich von Washington, Berlin oder Brüssel einspannen zu lassen. Klar, dass Lula auch keine Munition für alte Leopard-Panzer verkaufen will, um sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen, wie Kanzler
Olaf Scholz vor einigen Monaten vorgeschlagen hatte.
Die USA und die EU verschärfen nun ihre Gangart und nehmen verstärkt Länder und Firmen ins Visier, die helfen, westliche Beschränkungen gegenüber Russland zu unterlaufen. Maßnahmen, die nicht gerade zur Popularität des Westens beitragen, zurückhaltend formuliert.
Kein globaler Schulterschluss der Demokraten
Wenig überraschend: Chinas Außenminister Qin Gang beschwerte sich kürzlich beim Berlin-Besuch über westliche »Lehrmeister«. Dass China, dem Aggressor Putin in vielfach beschworener Treue verbunden, auf die angebliche westliche Übergriffigkeit empört reagiert, mag zu erwarten gewesen sein. Entscheidend für den Fortgang der Weltgeschichte im 21. Jahrhundert werden all die anderen Länder sein, die zwischen dem Westen und dem neuen sino-russischen Fernostblock stehen.
Diese dritte Gruppe umfasst einen Großteil des Globus. Darunter sind riesige, wenn auch unvollständige Demokratien (Indien, Indonesien, Brasilien, Nigeria, Südafrika) – Länder, die der Westen eigentlich zu seinen natürlichen Verbündeten zählt. Aber im Angesicht des neuen Kalten Krieges ist von einem nordsüdlichen Schulterschluss der Demokraten nichts zu sehen.
Und je mehr diese Länder von westlichen Sekundärsanktionen betroffen sind, desto größer dürfte der Graben werden, der sich zwischen dem Westen und dem Rest auftut. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sich all diese Länder in totalitäre Autokratien nach fernöstlichem Vorbild verwandeln. Aber die Anziehungskraft des Westens war wahrlich schon mal größer.
Powerplay – statt liberaler Verheißung
Der Appeal des Westens bestand mal im Versprechen auf Wohlstand und Freiheit. Die liberale internationale Ordnung sollte gleiche Rechte für alle sichern. Das war zwar immer ein etwas irreales Ideal, aber zumindest in der Welthandelsorganisation (WTO) haben alle Länder eine Stimme, ganz kleine und sehr große. Jedes kann sein Recht einklagen. Auch deshalb war die große Öffnung, die in den Neunzigerjahren die Welt veränderte, so erfolgreich und so weitreichend.
Doch diese Ära ist vorbei. Der internationale Handel ist in ein Powerplay der Großmächte umgeschlagen. Die USA und die EU haben ihre liberale Handelsdoktrin aufgegeben und betrachten die wirtschaftliche Arena nun als Austragungsort strategischer Auseinandersetzungen. Es geht nicht nur darum, Russland dazu zu bewegen, die Kämpfe in der Ukraine einzustellen und sich zurückzuziehen, sondern um diverse Ziele: China technologisch einzudämmen, die eigene Industrie widerstandsfähiger zu machen, klimapolitische Ziele zu erreichen und einiges mehr – all diese Beweggründe, so verständlich sie im Einzelfall sein mögen, stellen Hürden dar für den wirtschaftlichen Austausch und mindern die Entwicklungsmöglichkeiten des »globalen Südens«.
Vielleicht noch gravierender: Das große Versprechen des Westens verliert immer mehr an Überzeugungskraft. Die liberale Vision lautet, grob gesagt: Jeder soll eine Chance haben, auch die Armen und die Kleinen: Auf einem ebenen Spielfeld können die Tüchtigen zu Gewinnern werden, auch wenn sie von ganz unten gestartet sind. Nicht Macht und Waffen sind entscheidend, sondern Geist und Tatkraft.
Leider ist das Land, wo dieses Versprechen besonders erfolgreich verwirklicht wurde, China. Und das hat sich bislang nicht zur Demokratie entwickelt, anders als beim WTO-Beitritt 2001 erhofft.
Wie der Westen punkten kann – und wie nicht
Peking wiederum betreibt seine eigene Handelsstrategie, insbesondere in Form der mit reichlich chinesischem Staatsgeld finanzierten »Belt and Road Initiative« (
»Neue Seidenstraße«), im Kern ein sinozentrisches Infrastrukturprojekt globalen Ausmaßes. Autokraten und korrupte Eliten vielerorts können diesem Angebot durchaus etwas abgewinnen.
Um im neuen Kalten Krieg punkten zu können, braucht die G7 ein neues Globalisierungsmodell, das für Länder jenseits der Blöcke attraktiv ist. Sie sollte eine Entwicklungsperspektive eröffnen – und den scheinbar großzügigen Seidenstraßenkrediten Chinas (die in Wahrheit häufig in eine Art Knechtschaft führen, wie kürzlich
eine Studie unter Beteiligung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft darlegte ) mehr entgegensetzt als die bloße Abwesenheit von Sanktionen bei Wohlverhalten.
Bislang agieren die großen, unentschlossenen Schwellenländer überwiegend opportunistisch. Aus der neuen geostrategischen Unübersichtlichkeit versuchen sie für sich selbst kurzfristige Vorteile zu ziehen. Das wird auf Dauer nicht funktionieren. Sie müssen verstärkt Mitverantwortung für die internationale Ordnung übernehmen, um ein Abgleiten ins Chaos zu verhindern. Damit das gelingen kann, muss der Westen ihnen attraktive Angebote machen.
Dazu kommt noch etwas: Im Innern wirkt der Westen zunehmend morsch. Wir müssen ernsthaft an uns arbeiten, wenn wir den neuen Kalten Krieg für uns entscheiden wollen.
Amerika vor dem Crash?
Beim G7-Gipfel wird sich die Schwäche des Westens, aller polierten Bilder zum Trotz, kaum verbergen lassen. Aus Washington reist US-Präsident
Joe Biden an, formal der mächtigste Mann der Welt. Er kann sich allerdings nicht sicher sein, ob seiner Regierung in einigen Wochen nicht das Geld ausgeht, weil die oppositionelle Parlamentsmehrheit weiteren Haushaltsdefiziten nicht zustimmen mag. Käme es zum befürchteten »Government Shutdown« – und zum Zahlungsausfall von Staatsanleihen –, könnte sich
eine schwelende Bankenkrise in ein Finanzdesaster von globalen Dimensionen ausweiten. Zur Erinnerung: Die Washingtoner Budgetkrise von 2011 hatte dazu geführte, dass die Ratingagenturen die Bonität der USA herabstuften und sich dadurch auch die Eurokrise verschärfte. Ein Vorgeschmack auf das, was dieses Mal droht, sollte es nicht zu einer Einigung auf den letzten Metern kommen.
Sollten China, Russland und Konsorten noch einen Beweis für die Dekadenz und Unfähigkeit des Westens brauchen: Ein solcher Crash als Folge der Dysfunktionalität demokratischer Institutionen wäre ein propagandistisches Fest für Peking und Moskau.
Aus Brüssel, Berlin, Paris und Rom reisen die Vorleute der Europäischen Union und ihrer größten Mitgliedstaaten zum G7-Treffen an. Verglichen mit der Tatkraft der Biden-Administration steht die EU-Führung orientierungslos in der Weltgeschichte herum. Statt sich zusammenzuraufen und
einen großen Integrationssprung zu wagen angesichts der veränderten Bedrohungslage, geschieht zu wenig zu spät.
Die Bundesregierung hat keine Idee, wohin sich Europa entwickeln soll, wie Olaf Scholz dieser Tage mal wieder in einer blassen »Grundsatzrede« vor dem EU-Parlament unter Beweis stellte. Frankreichs Emmanuel Macron gibt von China aus USA-kritische Interviews und redet einer »strategischen Autonomie« das Wort, für die der EU die militärischen Mittel und politischen Strukturen fehlen. Italiens hart rechte
Giorgia Meloni spielt auf internationaler Bühne bestenfalls eine Statistenrolle. Derzeit sieht es so aus, als sei ihre Regierung gewillt, viele Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds NGEU sausen zu lassen, weil sie sich nicht an die mit Brüssel vereinbarten Programme halten will.
Großbritannien ist nur noch ein Schatten seiner selbst, seit sich das Land mit dem EU-Ausstieg selbst geschwächt hat. Von wirtschaftlicher Dynamik und vernünftiger politischer Tatkraft ist in Europa wenig zu sehen. Japans Alterung ist weit fortgeschritten. Nein, der Westen gibt wahrlich kein gutes Bild ab.
Den letzten Kalten Krieg haben wir gewonnen, weil wir besser waren: dynamischer, wohlhabender, letztlich auch wehrhafter. Doch nun verblasst die einstige Strahlkraft. Die Wirtschaft lahmt. Europas
Militär ist schwach. Das Einzige, was wächst, sind die Schulden.
Viele Bürgerinnen und Bürger machen es sich in einem produktivitätsfeindlichen Umfeld bequem: Frankreich streikt für die Beibehaltung der Rente mit 62. Deutschland richtet sich ein
in einer schleichenden Verarmung . Italien ist auf diesem Weg schon weiter fortgeschritten. Populisten treiben ihr Unwesen, beiderseits des Atlantiks.
Es mag sich nach wie vor gut leben lassen in Europa und in Nordamerika. Aber glauben wir ernsthaft, in diesem Zustand als zukunftsfähiges Modell dienen zu können? Können wir uns den unentschlossenen Teilen der Welt als Inspiration empfehlen? Bestehen wir im Systemwettbewerb mit den fernöstlichen Diktaturen?
Ich habe da ernste Zweifel. Wir müssen besser werden – in mehr als einer Beziehung.