Hatte ne halbe Stunde Zeit, und hab mal versucht, meine Gedanken zur Sache ausführlich zu formulieren:
Jetzt nehmen wir mal an, da "unten" eskaliert die Scheiße komplett. Die Großmächte Iran und Saudi-Arabien haben ja bisher nur Stellvertreterkriege geführt. Wenn die sich direkt auf den Kopf hauten, hätte das fundamentale Umwälzungen zur Folge. Dagegen ist der ganze syrische Bürgerkrieg und das IS-Gedöns Kindergarten. Der nahe Osten durchlebt gerade seinen dreißigjährigen Krieg, nur dass er viel länger dauert als der Name vermuten lässt. Solange der Islam nicht mit sich selbst klarkommt, wirds keinen Frieden geben. Nicht zwischen islamischen "Konfessionen", und schon gar nicht mit Israel. Was da gerade abläuft, sind Wandlungsprozesse historischen Ausmaßes, nicht nur ein bisschen Krieg und Flucht. Das Problem ist nun, dass die europäischen Nationen diese Dimensionen nicht wahrhaben wollen und / oder können.
Merkels Politik der heruntergelassenen Hos...Grenzen zeugt von geringem Bewusstsein für diese Tatsache. Das gleiche gilt allerdings auch für die isolationistische Position. Wir erleben gerade eine fundamentale Umwälzung auf der politischen Bühne. Nach Merkel wird - je nach Eskalationsstufe - eine mehr oder minder populistische Regierung an die Macht kommen. Man mag von der Kanzlerin halten, was man will: Sie versucht zumindest, den europäischen Humanismus in Politik umzumünzen. Auch wenn das ziemlich stümperhaft vonstatten geht. Dies ist aber nicht die Schuld der Regierung allein, sondern ein systemisches Problem, das seit Jahrzehnten an der Tür klopft und nun langsam aber sicher akut wird.
In Osteuropa kann man bereits beobachten, wohin die Reise geht. Autoritäre Regimes nach russischem Vorbild breiten sich aus. Nun gibt es zwei Grundoptionen: Entweder die EU rappelt sich auf und zieht die Blockgrenze in der Ukraine - was mit immensem Aufwand verbunden wäre - oder sie zerfällt, und es kommt zu einem Europa der Regionen. (Wirtschaftlich starker Westen / Norden, abgehängter Süden / Südosten, autoritärer Osten) Dieser Zerfallsprozess kann noch weitergehen, indem die EU-Staaten sich hinter die eigenen Grenzen zurückziehen. Das hat ja jetzt schon angefangen. (vgl. Dänemark)
Die Konsequenzen aus diesem Prozess sind derzeit nur per Glaskugelverfahren vorauszusagen. Fest steht, dass ein schwaches Europa anderen Großmächten direkt in die Hände spielt. Russland verfolgt schon jetzt offensichtlich das Interesse, den eigenen Macht- und Einflussbereich ohne Rücksicht auf Verluste auszuweiten. China ist auf der Kippe, wenn sie den Wirtschafts-, bzw. Finanzcrash abwenden können, können sie ebenfalls zum permanenten Global Player werden. Ähnliches gilt für die USA, die zwar wirtschaftlich unangefochten sind, allerdings in einer tiefen Identitätskrise stecken.
So paradox es sein mag, ich glaube, dass Russland / Putin die Zeichen der Zeit am konsequentesten deutet. Solange Russland wirtschaftlich halbwegs stabil bleibt, wird es in absehbarer Zeit endgültig wieder "ganz oben" mitspielen. Nicht unbedingt weil es selbst so stark wäre, sondern weil der Rest sich permanent selbst in den Fuß schießt. Man kann sich nicht an obskure Gedankenkonstrukte wie die EU klammern, wenn weder die Legimitation noch die Umsetzung gesichert sind.
Wenn nun also der nahe Osten komplett in den Krieg abdriftete, hätte das extreme Auswirkungen. Beim Ölpreis angefangen, aber auch hinsichtlich der Flüchtlingslage, den militärischen Bündnissen und der offensiven Interessenverfolgung. Das Zünglein an der Waage ist wohl die Türkei, wobei Erdogan wohl alles daran setzen wird, nationale Stabilität durch autoritäre Maßnahmen zu gewährleisten.
Lange Rede, kurzer Sinn: Das Flüchtlingsproblem wird mMn nach aus unzureichender historischer Perspektive gesehen. Die Debatte erschöpft sich in Verfahrensfragen. Ich halte es für richtig, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten Asyl zu gewähren. Ich halte es jedoch für falsch, dies blind und ohne grenzübergreifende Steuerung zu machen. Wobei sich durch die gegenwärtige Situation gut erkennen lässt, dass die Politik des puren Managements an einem toten Punkt angelangt ist. Der Haken ist nun, dass die Alternativen, die sich in Stellung bringen, langfristig die Lage noch weiter destabilisieren werden. (v.a. auf rechtsstaatlicher Ebene)
Die Presse steckt in der ganzen Sache in der Zwickmühle. Es gibt keine "Wahrheit", die sich in einen Artikel quetschen ließe. Boulevardmedien (dazu zähle ich auch SPON) positionieren sich klar und tendenziös. Davon mag man halten, was man will, unter dem Schirm der Pressefreiheit muss dies allerdings absolut möglich sein. An Diskussionen, wie sie z.B. auch hier stattfinden, erkennt man allerdings, dass ein fundamentales Problem besteht: Menschen, die eine Meinung artikulieren, bestehen meist auf deren Richtigkeit. Haben diese Menschen das Gefühl, die eigene Meinung im Spektrum medialer Äußerungen unterrepräsentiert zu sehen, neigen sie dazu, Tendenzen im Spektrum zu verabsolutieren. Niemand bestreitet ja, dass SPON tendenziös ist. Das sind die rechten Medien wie PI-News etc. allerdings ebenso. Das Verlangen nach Neutralität oder gar "Wahrheit" öffnet einer Unterkomplexität Tür und Tor, die gefährlich ist.
Da mühen sich Philosophen ein halbes Jahrhundert am Poststrukturalismus, der Dekonstruktion und der Diskurstheorie ab, und nichts davon zeitigt Wirkung. Wie auch, fand dieses Abmühen doch im Elfenbeinturm statt. Die Scheiße ist nicht simpel und sie wird in den kommenden Jahren noch kompilzierter werden. Allein die Medienrevolution durchs Internet hat den Öffentlichkeitsbegriff auf den Kopf gestellt. Das Denken, eine Zeitung verkünde die Wahrheit, stammt aus früheren Jahrhunderten. Wir leben heute in einer Zeit des Neben- und Gegeneinanders quasi unendlich vieler Stimmen, derer man mit althergebrachten Kategorien kaum Herr werden kann. Bourdieus Theorie vom literarischen Feld sei als Beispiel eines Kompensationsversuchs erwähnt.
Die Leute, die hier so nachdrücklich für klassisch nationalstaatliche law-and-order-Positionen eintreten, tun dies wahrscheinlich aus einem Reflex heraus. Sie projizieren ihre Vorstellung von Permanenz und Sicherheit auf alle möglichen Dinge, und verwechseln dabei Ursache und Wirkung. Die Geschichte zeigt, dass restaurative Bewegungen immer nur temporär erfolgreich sein können, ehe neue Gegenströmungen so populär werden, dass sie strukturelle Macht an sich reißen. (diese Dialektik bitte nicht hegelianisch verstehen) Entlang der Grundopposition von konservativ und emanzipativ entspinnen sich die meisten historischen Wandlungsprozesse. Derzeit steht die Sache wieder mal auf der Kippe, nach einer relativ emanzipatorischen Phase.
Wer nach einer neutralen Presse schreit, hat einen basalen Prozess der Gegenwart nicht verstanden: Gerade vollzieht sich eine grundlegende Karnevalisierung des polititsch-öffentlichen Diskurses, auf einer Ebene, die man vor 30 Jahren noch ins Reich der Science-Fiction verfrachtet hätte. Es ist daher nur logisch, dass sich nun wieder klarer voneinander abgegrenzte Lager herausbilden. Vielheit ist anstrengend und aufwändig. Daher bricht man Problematiken wieder auf Banales herunter, wie z.B. die Frage, ob man es nun mit Flüchtlingen oder Migranten zu tun hat.
Persönliche Meinung: Ich denke, dass es keine "Lösung" für die derzeitige Krise gibt, die sich in knapper Form verbalisieren und umsetzen ließe. Die Maschine läuft, und die einzige klare Tendenz, die ich beobachten kann, ist die der Auflösung. Alles andere ist Scheißeschmeißen. (aber natürlich unvermeidlich)