Stell dir vor, du bist ein reporter für die Neutral-Zeitung und sollst einen Artikel über die Hintergründe für das Impeachment von Donald Trump schreiben. Was machst du, wo fängst du an?
Irgendwie muss das Telefongespräch mit dem Präsident der Ukraine verarbeitet werden, aber wie genau?
Auf der einen Seite gibt es die Both-Sides-Variante: "die Demokraten" sehen das so, das Team Trump sieht das aber so. Man stellt beide Positionen ohne eigene Stellungnahme nebeneinander und lässt das Publikum entscheiden, was nun richtig ist. Das wäre die Berichterstattung ohne Eier, in der der entsprechende Reporter seiner Informationspflicht bewusst(?) nicht nachkommt. Hintergründe können da mannigfaltig sein, liegen meistens in Abhängigkeit von Geldströmen, die man durch allzu aggressive Worte nicht abschrecken will. Also bleibt man "neutral" in dem Sinne, dass Magerquark neutral schmeckt.
Eine andere Herangehensweise wäre die Schuldig-Variante: Trump hat X gesagt, in der Verfassung steht ausdrücklich, X darf ein Präsident aber nicht sagen/tun, ergo Impeachment. Das wäre aus meiner(!) Sicht ein neutraler Artikel, aber die Herangehensweise unterliegt einer bestimmten Tendenz in der Berichterstattung. Wer den Artikel so schreibt, MÖCHTE Trump schuldig sprechen. Das geht aus der Auswahl des Hintergrundes hervor, mit dem der Fall erklärt wird. Hier wird gar nicht erst versucht, von einer Nichtverletzung geltender Regeln auszugehen. Die talking Points aus dem Weißen Haus werden nicht erwähnt, und falls doch, müsste man die regierung der Lüge bezichtigen: das Weiße Haus sagt zwat dieses, aber lol seien wir mal ehrlich ...
Eine ganz andere Möglichkeit wäre zu sagen, dass Trump dieses zwar vorgeworfen wird, aber eingebettet in den Kontext Hunter Biden etc. sieht das ganze schnell anders aus, quasi Tagespolitik wie sie jeder betreibt. Aus meiner(!) Sicht ist das absichtlich unehrliche Berichterstattung, da ich den Kontext für an den Haaren herbeigezogen sehe. Den Kontext gibt es nun aber, wird u.a. vom Rudy Giuliani verbreitet, und als neutraler Reporter darf man das jetzt nicht unter den Tisch fallen lassen. Bei der Gelegenheit kann man auch darauf hinweisen, dass Korruptionsvorwürfe gegen Trump seit dessen Amtsantritt gepusht werden und das nun Eintrag Nummer drölftausend in seiner noch lange nicht abgeschlossenen Reihe sein wird.
In dieses Horn kann auch die Zyniker-Variante blasen: die neuste Ausrede, sich nicht um die wirklichen Probleme des Landes zu kümmern, ist das politische Theater um ein gar nicht so langes Telefonat zwischen zwei Staatsoberhäuptern. Klimawandel, weit verbreitete Medikamentanabhängigkeit, Verschuldung unter Jungakademikern, Obdachlosigkeit, Waffengewalt, Polizeigewalt, etc., etc. werden nach wie vor nicht angepackt, damit sich der Kindergarten weiterstreiten darf. Leider business as usual, dass sich nichts bewegt, ist ja nichts neues. Stattdessen wirft man mit Exkrementen um sich. Und dann weist man auf die wenigen Maßnahmen hin, die erfolgreich durch das Parlament gekommen sind und ordnet das in einen trend seit den späten Neunzigern ein. Man comittet nicht, bleibt neutral über den Dingen, ergreift keine Partei, gibt allen die Schuld, wirft die Arme in die Luft, kann man halt nicht dran ändern.
Diese Liste ist bestimmt nicht vollständig. Alle Beispiele hier versuchen, Kontext für die Story zu liefern. Dieser Kontext ist nicht ausgedacht, den gibt es ja tatsächlich. Die Auswahl des Kontextes ist aber durch Eigeninteresse gefärbt. Ich persönlich halte nicht alle Beispiele für gleich neutral oder gut, das habe ich hoffentlich deutlich gekennzeichnet. Schwieriger wird es aber, wenn es nicht genau zwei verfeindete Lager gibt, sondenr die Sachlage komplexer ist. Die Neutral-Zeitung muss ja auch über den Brexit schreiben. Neben der Zyniker-Variante und der Magerquark-Variante gibt es da ja noch 1) Remain, 2) NoDeal, 3)MayDeal und 4)NewDeal. Je nach bestehender Eigenmeinung kann man die Nachricht aus einem dieser Standpunkte neutral schreiben. Kontext gibt es für alle 6 Positionen genug.