JAVIER MARIAS: Dein Gesicht morgen
Javier Marias neues Buch ist ein brillantes Gedankenfeuerwerk über Reden und Schweigen. Über das Bild, das wir uns vom Anderen machen. Kann er morgen ein Verräter sein? "Dein Gesicht morgen" übertrifft noch das Versprechen der Bücher, die ihn berühmt gemacht haben. Es ist ein Diskurs über das unergründliche Wesen des Menschen und über die Gefährlichkeit des Redens.
Marias: "Der erste Satz heißt: man soll nie etwas erzählen. Und dann folgen 500 Seiten. Und das ist ja nur der erste Band einer Trilogie, also ein Drittel. Also kann man mir vorwerfen, ich hätte den Rat, nichts zu erzählen, besser selbst befolgen sollen. [...] Die meisten Leute realisieren, dass das, was sie sagen, nicht ohne Konsequenzen ist, manchmal ist es Dynamit."
Im Roman ist der "Erzähler wider besseren Wissens" Jaime Deza nach längerer Abwesenheit nach Oxford zurückgekehrt. Da hat er bereits an sich die Gabe, oder den Fluch entdeckt, zu sehen, wie ein Mensch sich später verhalten wird. Er entdeckt, dass sein früherer Mentor in Oxford ein Mitglied des britischen Geheimdienstes MI 6 ist, der in einem einschüchternden Gebäude an der Themse untergebracht ist. Er will sich diese Gabe zunutze machen.
Dabei ist die Handlung äußerst sparsam: es genügt Marias ein Abendessen, eine Nacht und ein Morgen, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum wir soviel reden, die Wahrheit aber eigentlich gar nicht wissen wollen.
Marias: "Das Problem ist doch, dass wir es in den meisten Fällen gar nicht wagen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Zum Beispiel bei jemandem den wir lieben. Da sehen wir manchmal Reaktionen, oder Fehler, oder Charakterzüge, die uns missfallen. Aber wir schieben das weg und sagen uns: das war ein schlechter Moment. Wir sind so oft enttäuscht von Menschen, fühlen uns verraten. Nehmen Sie nur zum Beispiel Ehepaare. Wie oft haben wir das gehört, dass einer sagt: das war nicht der , den ich gekannt habe."
Wir formen uns einen künstlichen, fiktiven Menschen. Und das umso mehr, als die Welt um uns herum immer fiktiver wird.
Marias: "Ich habe den Eindruck, dass wir in Zeiten leben, in denen wir einem enormen Ansturm von fiktiven Geschichten ausgesetzt sind. Selbst wenn wir das nicht wollen, wir werden davon überhäuft, im Fernsehen, in den Zeitungen , in der Literatur. Es passiert uns sogar, dass wir etwas durchaus Reales erleben, und wir hinterher sagen: das war wie in diesem Film von Almodovar."
Marias stellt die Frage: Wieviel Wahrheit verträgt der Mensch? Was wagen wir zu wissen? Und wieviel davon ist ein Leben aus zweiter Hand? Wie ambivalent ist der Mensch eigentlich, wenn er die Zukunft wissen will, dies Wissen aber doch nicht erträgt? Wieviel unserer Wahrnehmung ist Projektion?
Marias: "Es gefällt uns nicht zuzugeben, dass wir eigentlich blind sind, selbst Menschen gegenüber, die wir glauben zu kennen. Und daher rührt dieser Widerspruch: einerseits wollen wir alles vorhersehen , egal ob es das Wetter ist, oder ob wir uns mit allen möglichen Versicherungen das Leben absichern. Auf der anderen Seite wollen wir etwas Voraussehbares, das nicht in unser Bild passt, wegleugnen."
Javier Marias ist ein Kenner des empfindlichen Gleichgewichts. Er konfrontiert uns mit der Frage: Wer wird morgen ein Verräter sein, der heute als Dein Freund erscheint? Es ist Javier Marias ureigene Frage: Sein Vater wurde unter Franco von seinem besten Freund verraten und wäre fast an die Wand gestellt worden.
Marias: "Im Roman fragt der Sohn den Vater: Wie war es möglich, dass Du nicht erkannt hast, dass er Dich verraten wird? Er habe das nicht erkennen können, sagt der Vater. - Hast Du nicht sein Gesicht morgen erkennen können? - Denn alles, was wir erkennen, ist das Gesicht heute. Wir würden schon gern in die Zukunft sehen, aber die Gewissheit scheuen wir, sie wäre langweilig."
Nicht sicher zu wissen, wie es ausgeht - das ist ein Faszinosum des Fußballs. Marias Fußball-Kolumnen, die er für die Zeitung El Pais geschrieben hat, sind auch als Buch erschienen.
Marias: "Da gibt es ein dramatisches Element im Fußball. Das ist es, was die Menschen womöglich so stark anspricht. So wie man einen Schauspieler an seinen Bewegungen erkennen kann, so kann man einen Fußballer an ihnen erkennen. Ohne dass man die Nummer sehen muss."
Auch die Gestalten des Marias-Kosmos brauchen keine Nummern. Sie sind unverkennbar "Marias".
Ursula Bushneli