Was mich bei solchen Themen fuchsig macht, ist die ewige Diskussion, die wir als Gesellschaft darüber führen, statt den offensichtlichen Weg zu gehen und einfach mal eine nützliche Datengrundlage zu schaffen. Ich seh schon, dass es für sowas gesetzliche Hürden gibt, aber z.B. mal relevante Daten wie Alter, Qualifikation, Gesundheitszustand, Arbeitswünsche etc. für alle Arbeitslosen zu erfassen und für ein paar exemplarische Gruppen verschiedene Anreizsysteme auszuprobieren, sollte doch irgendwie möglich sein?
Stattdessen können wir natürlich auch noch in 50 Jahren philosophisch darüber diskutieren, was eventuell wem helfen könnte ...
Ich hatte schon mal etwas länger darüber geschrieben:
https://broodwar.net/forum/threads/deutschland-im-vergleich.244949/page-11#post-7095783
Das IAB hat die Daten normalerweise vorliegen, die Bundesagentur normalerweise auch. Für eine Meldung muss man zwingend den Lebenslauf ausfüllen, damit der Sachbearbeiter nicht bei 0 mit einer Beratung anfängt. Basierend auf den Dingen kommen auch automatische Stellenvorschläge, allerdings mit teilweise sehr fraglichen Ergebnissen - auch in dem Topic behandelt. Einige Probleme entstehen aber automatisch:
- Zensur: Bei Aufnahme einer Tätigkeit verschwindet die Person, ohne Möglichkeit die Paneldaten zu füllen. D.h. du wirst nicht wirklich wissen, ob die Anstellung dauerhaft erfolgreich war, oder welche Qualität die Aufnahme hat (Entlohnung, Wochenstunden, ...). Theoretisch lassen sich die Punkte füllen, u.a. wäre es denkbar andere Ämter (Finanzamt, GKV, PKV, RV) zu verschränken. Dafür fehlt jegliche technische Schnittstelle (daher eher ein Punkt an dich) und auch datenschutztechnisch ist es eher fraglich, ob und in welchem Ausmaß wir das tatsächlich wollen.
- Juristische Aspekte: Maßnahmen sind immer denkbar, wobei ich stützende meine, allerdings gilt, dass jeder eine Wahlfreiheit hat, was den Beruf angeht. Das finde ich sehr gut. Entsprechend umsichtig sollte so was ausgewertet werden.
- Regionalspezifika: Die gehen aus den Daten nicht ohne weiteres vor. V.a. bei speziellen Formen der Arbeitslosigkeit (strukturelle) sollten diese Faktoren berücksichtigt sein. Besonders außerhalb der Ballungsräume kannst du sehr spezifische Stellenmärkte haben, für die Instrumente augenscheinlich schlechter funktionieren als andernorts.
- "Die Realität": Erlebte in der Zentrale mal ein wirklich furchtbares Gespräch zur Einführung eines Sternesystems für Maßnahmen in einer Datenbank. Grundsätzlich war die Idee gut, die Sterne sollten auf einer Skala zeigen, wie gut die Bildungsinteressenten das Angebot fanden, eine zweite Skala wie hoch der Ermittlungserfolg danach war. Die Umsetzung lasse ich mal aus, ich weiß nicht wie viel ich darüber schreiben darf, da interna. Allerdings viel von einem Juristen-Brain so ein Satz wie "Eine einzige Bewertung ist statistisch signifikant, insofern die Person das ja tatsächlich gemacht hat". Sagen wir es so, es gibt leider das Phänomen, dass viele Köche in diesem Brei mitmischen wollen, weil man auch Scheiße als gute Werbung verkaufen möchte.
Grundsätzlich finde ich das Thema unfassbar spannend und spielte damals auch mit der Idee eine Diss exakt darüber zu schreiben, weil es schön kompliziert aber lösbar scheint. Allerdings hatte ich dann auch irgendwann die Schnauze von dem Laden voll und die Stellen am IAB für so was waren echt unterirdisch entlohnt.
Danke für die ausführliche Antwort!
Mich würden mal Statistiken interessieren,[...]
Und meine Hoffnung wäre, dass #2 realistisch ist, aber auf monetären Anreizen beruht.
Aus o.g. Gründen fände ich da eine strukturelle Reform besser als so eine "€1000 Bestechungs-Aktion", hätte aber nichts gegen einen lokalen Test.
Ich bin grundsätzlich bei dir, würde aber dann im Gegenzug die Sozialabgaben für Geringverdiener anders einphasen.
Also nicht "gar keine bei €450 Job" zu "direkt voll deine GKV selbst zahlen".
Sondern ein System, wo die Abgaben bei Einkommen unter dem Existenzminimum viel niedriger sind als heute.
Die Zitate mal zusammengefasst, sorry für die massiven Edits, habe gerade ausversehen schon abgeschickt.
Ja, dagegen habe ich überhaupt nichts, also gegen die Einphasung, die du ansprichst. Gegen eine De-Regulierung allerdings schon. Mein Kernproblem an dem aktuellen System ist, dass die Arbeitgeber, v.a. die, die auf viele Hilfskräfte angewiesen sind, alles daran setzen, Exploits zu generieren und das Insider/Outsider-System zu stärken und zu rekonstruieren. Ihnen freie Hand zu lassen hilft, meine Einschätzung, kein bißchen. Mir ist kein Wohlfahrtsstaat bekannt, in dem es selbst mit Hire & Fire so viel besser läuft. Meist kommen viele andere Themen dazu, die in Deutschland so nicht existieren. Um deinen anderen Punkten vorwegzugreifen: Deutschland ist in meinen Augen an irgendeinem Punkt aus der Industrialisierung nicht vorwärts gekommen, der Übergang zur Dienstleistungsgesellsschaft stottert, um es milde auszudrücken. V.a. ist es immer noch sehr untypisch Kinder von früh an in eine Betreuung zu geben, allerdings nicht aufgrund von Einstellungen, sondern von fehlendem Angebot. In Bayern bekomme ich 250€, damit "ich selbst entscheiden darf" - gemeint ist: weil wir zu dum sind Kita-Plätze zu organisieren. Nur so als Beispiel. In skandinavischen Ländern und im angloamerikanischen Raum ist es da anders, zumindest soweit mir bekannt. Auch innerhalb der EU sehe ich da keine besseren Beispiele als uns. Stärkere De-Regulierung würde den Wettkampf nur verschärfen und mehr Leute in den Bereich drängen, in dem es langsam prekär wird. Völlig falsche Marschrichtung.
Ansonsten: Was ich mit den Leuten tun würde, steht in dem Link oben. Vieles ist ganz okay bis jetzt, man sollte nicht vergessen, dass Arbeitslosigkeit bis zu einem Grad normal ist und nie völlig verschwinden wird. Wir sind nunmal gerade durch zwei globale (!) Krisen gelaufen, eine Untergangsstimmung ist imo nicht gerechtfertigt.
Ist es wirklich so schwer, einen gering qualifizierten Job zu bekommen?
Kellner, Produktionshelfer, Logistik etc.
Kann grundsätzlich schon nachvollziehen, warum man Leute bevorzugt, die nicht jahrelang arbeitslos waren.
Daher sind natürlich eher Jobs realistisch, bei denen es einen ungedeckten Bedarf auf AG-Seite gibt.
Ja und Nein, ich greife auch hier wieder deinen Fragen vor. Dein Kellnerbeispiel ist ja schön und gut, aber auch nicht auf jeden übertragbar. Schau dir Frauen an, die kellnern oder in die Gastro könnten, aber noch Kleinkinder haben. Überlege wann du in der Gastro (oder vma. als Bäckereifachverkäuferin) arbeiten müsstest und stelle dem gegenüber, wann deine Kinder betreut werden müssen. Das geht meist bis zur 7. oder 8. Klasse (bis ganztags Schule "normal" ist), das sind schnell mal 10+ Jahre, in denen eine bessere Anstellung einfach nicht geht. Das beißt sich früher oder später. Abgesehen davon ist Gastro nicht gleich Gastro, ein Kellner ist ein Restaurantfachmann, also eine Fachkraft. "Kellnern" allgemein gemeint sind eher Helfer als Bedienung, so viele richtige Kellner gibt es nicht und die Helfer werden auch völlig anders entlohnt und behandelt. Es macht einen riesen Unterscheid ob du in der Gammelkneipe hinterm Thresen stehst, auf dem Oktoberfest drei Wochen arbeitest, in einem Schankhaus ausschenkst oder in einem 0815-Restaurant Teller von A nach B bringst, oder in einem gehobenen Restaurant tatsächlich ein Kellner bist. Die Spannbreite ist massiv. Hint, die richtigen Scheiß-Hilfsjobs kriesgte schnell, die sind aber i.d.R. eher prekär und saisonal.
In der Logistik und der Industrie kriegt man relativ schnell etwas, aber relativ ist... relativ. Die typischen Drehtür-Leute fliegen raus und tanzen dann erst wieder 1-3 Monate mit Ämtern, in der Zeit geht i.d.R. auch relativ wenig, weil das beschäftigt, doppelt und dreifach, wenn du eher simpel gestrickt und wenig strukturiert bist. Darauf kommt dann die Bewerbungs- und Vorstellungsphase, selbst wenn diese ultrakurz ist gehen wieder mehrere Wochen ins Land, bis HR und Ämter alles gestrickt kriegen. So entstehen schnell fragmentierte Lebensläufe, die bei "normalen" Menschen fast ohne Unterbrechung wären. Sieht grausig aus, ist aber eigentlich nicht wild. Auch hier ist die Entlohnung meist wirklich am untersten Spektrum.
Zu schweigen von den komischen Formen der AÜN, in denen du da irgendwie als Pseudo-Freelancer bist. Theoretisch vermitteln die dich, geben dir Auflagen analog zu ämtern bezüglich Bewerbung, Vorsprechen, etc. pp. und geben dir halt Spesen zurück. Lohn gibt's aber erst, wenn du auch wirklich irgendwo genommen wirst, in der Zwischenzeit bist du noch im ALG (1 oder 2).
Wenn ich ehrlich bin, muss ich auch hier die Kirche im Dorf lassen. Es ist völlig utopisch jeden Deutschen auf ein qualifiziertes Niveau zu heben. Es wird immer diese Leute geben, die überall die Klinke putzen und alle zwei Jahre in einem neuen Betrieb sind. Nur sollten es deutlich weniger sein, als es jetzt der Fall ist. Früher oder später passiert das eigentlich auch immer, dass irgendwer irgendwo lang und bis zur Rente unterkommt.
Mein Kernproblem damit ist nur, dass die Leute bis dahin schon wirklich geschleift sind, d.h. dass zu den Erwerbsbrüchen (Die uns alle Geld kosten) noch meist eine Frühverrentung kommt, weil dann der Saft raus ist, entweder physisch oder psychisch. Je früher also eine stete Stelle genommen werden kann, desto besser für alle Systeme.
Bei Frauen ist es häufig dann ein langer fragmentierter Lebenslauf nach Kindern, die mit Teilzeit und gering entlohnter Beschäftigung einhergeht. Auch hier wäre früher und höher besser. Da fehlt die Infrastruktur, die Systeme und die Willigkeit der "Wirtschaft" das auch zu unterstützen. Hier sind wir schnell wieder in der Gender-Debatte, ob da noch Einstellungen verkalkt sind oder nicht. Ich kann nur berichten, dass ich verkalkte Einstellungen in dem Kontext selbst häufig zwischen den Zeilen und als Ergebnis erlebt habe. Kann man anders sehen, muss man nicht.
Eventuell erledigt sich das Thema früher oder später durch die Boomer und deren unabdingbaren Abgang von selbst. Nur Automatisieren hilft nicht, also muss es wohl mehr an Qualifikationen geben. Oder es stellt sich raus, dass die Wasserköpfe in Privatwirtschaft und Staat von alleine schrumpfen und es allein dadurch irgendwie leicht effizienter wird.
Ich verstehe die Idee, habe aber bei Aspekten davon Sorgen vor "noch mehr Bürokratie."
Stichwort "es wird geprüft." Bitte Lösungen, wo keine Behörde irgendwas überprüfen muss-
Das mit den Fördergeldern, da bin ich aber ganz bei dir.
Vorsicht, ich meine schon wirklich Förderungen, die existieren und eine Schwelle überschreiten. Nicht so Kleinkram wie den Digitalbonus in Bayern, der maximal 50.000€ sind. Ich rede von den großen Paketen, die sehr gängig sind, bspw. wenn mit EFRE eine neue Werkshalle hingekotzt wird, oder den Auffangsschirm von Söder zu Corona für Automotive / Maschinenbau in höhe von 40.000.000€. In diesem Zug (google: De-Minimis) muss ich sowieso ziemlich viel über meinen Betrieb sagen, u.a. auch die Mitarbeiterzahl. Da langt nicht "X Personen", sondern aufgeschlüsselt nach TZ, VZ, 450€-Jobs, usw. usf. Eigentlich braucht man da einen Wirtschaftsprüfer. Die Angabe eines weiteren Kennpunkts, der v.a. mit "Ja/Nein" + Freitext angegeben wird, wäre jetzt nicht die Welt. Geprüft wird das jetzt schon und das auch völlig zu recht, weil die Höhe nicht gerade wenig ist.
Unabhängig davon spielt die EU-Taxonomie (hoffe das richtige Wort gewählt) auch in diese Richtung, für einen Kredit soll mittelfristig auch die Aspekte der Nachhaltigkeit geprüft werden. Ich empfinde es als sozial völlig gerechtfertigt auch zu prüfen, ob der Staat (und somit wir als Gesellschaft) als Investor dort fördern und subventionieren sollte, wo gegebenenfalls einfach nicht nachhaltig geplant wird. Es werden ja sonstige Ausgaben geprüft, warum nicht auch ob die Angestellten gerecht behandelt werden? Stattdessen erlebe ich eher pauschalen, weil die Denke anders ist: Wenn ich die nicht fördere, dann fallen GANZ SICHER Arbeitsplätze weg. Und dann werden die trotzdem abgebaut. Erlebe ich hier im Eck und in den Medien gefühlt viel zu häufig. Und das macht verdammt wütend.