Ich finde das Argument etwas unehrlich, weil die Aussage imo wahr bleibt, wenn man sie auf quasi jedes beliebige einzelne Thema anwendet.
Natürlich kriegt nicht jedes Thema so viel Aufmerksamkeit wie die Flüchtlingspolitik. Allerdings hätte man das Thema schneller und versöhnlicher abräumen können, wenn man nicht in einem infinitiven Regress von rechtspopulistischer Panikmache und linksidealistischem Realitätsverlust gefangen gewesen wäre.
Dazu ergibt es imo wenig Sinn, die Politik der Flüchtlingskrise isoliert zu betrachten, statt als Bestandteil der Migrationspolitik. Und hier bin ich nicht mehr auf deiner Seite, wenn du meinst, dass die den Durchschnittsbürger doch irgendwie nich so richtig tangiere.
Zur ersten Aussage: Vielleicht. Ich gebe zu, dass das auch eine relativ hohe Hürde ist, weil der typische Bürger eigentlich nur eine Art von Veränderungen wirklich gut erkennt, nämlich kurzfristige positive oder negative Änderungen. Aber letztendlich spricht das für mich eher dafür, genauer darüber nachzudenken, was für einen Staat unter den Parametern*, die die Wahlbevölkerung vorgibt, optimale Outcomes produziert, nicht was die Bürger sagen was sie wollen. Ich würde generell dazu tendieren, den "Wählerwillen" ein bisschen weniger ernst zu nehmen, weil der durchschnittliche (!) Wähler kaum wirkliche Präferenzen hat und eigentlich nicht weiß, was er will.
Zum Zweiten: Ich glaube auch bei der Migrationspolitik insgesamt wären die Unterschiede eher marginal. Führt uns aber vermutlich zu weit vom Thema weg, genau wie die Debatte über die Ethik der Flüchtlingspolitik 2014-2016. Ich fand sie wie gesagt nicht so problematisch wie die meisten, aber mein Vergleich ist halt auch das kontrafaktische Szenario, das ich erwartet hätte, wenn man die Grenzen dicht gemacht hätte, nämlich dass dann in etwa so viel für Flüchtlinge getan worden wäre wie 2012-13: Viel zu wenig.
*was ich meine sind da die klassischen Fragen, die nicht Valenzissues sind, bspw. alle Arten von Verteilungsfragen, wo eine Optimierung mit einem Parameter entweder nicht möglich ist oder möglicherweise völlig absurde Ergebnisse produziert
Das Argument ist gut. Ein paar Probleme hab ich trotzdem damit:
1. Ganz so einfach kaufe ich nicht, dass "relativ unproduktive" Tätigkeiten bereits vor "allzu hoher" Alimentierung schützen.
https://www.ifo.de/DocDL/sd-2016-04-2016-2-25.pdf
2. Migration und ihre Folgen konzentrieren sich erfahrungsgemäß auf relativ wenige Teile des Landes. Daher ist es imo nicht hilfreich, sich nur auf den Durchschnitt zu beziehen. Und erzähl mal bitte einer Familie in Berlin Gesundbrunnen, dass ihre Lebensqualität durch Zuwanderung nicht beeinflusst wird.
1. Nichts für ungut, aber Raffelhüschen ist ein Schwätzer, der zu allem Möglichen (auch gerne ohne irgendeine nachgewiesene Expertise) "Modellrechnungen" aufstellt, die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar herausstellen. Auch wenn das Thema heute nicht mehr so heiß ist, würde nach drei Jahren Erfahrung niemand auch nur annähernd etwas in diese Richtung behaupten.
2. Na ja, bei 20% Bevölkerung mit Migrationshintergrund kann das wohl kaum stimmen. Und ja, ich sage nicht dass jeder einzelne Stadtteil heute nicht besser aussehen könnte. Aber das ist halt auch kein fairer Vergleich: Erstens ist auch Berlin-Gesundbrunnen immer noch sehr viel begehrter als viele Teile Deutschlands, wo quasi nur Deutsche wohnen und zweitens wissen wir ja auch nicht so richtig, wer später mal in einer "Parallelgesellschaft" abtaucht.
Naja Borjas ist ja immer der Held von EJMR, weil er in seinen Papern einen negativen Effekt auf die Einkommen der einheimischen low skilled worker findet. Ist das auch der, der negative Effekte für Mindestlohn findet?
Der negative Effekt für die low skilled Einhemischen erscheint mir selbstevident. Gerade wenn wir von 1 Mio Einwanderen reden würden, die sich eher im low skilled bewegen. Daher solltest du Gustavo wohl dein privilege checken, wenn du behauptest, dass es keinen Effekt aufs Land im Allgmeinen hätten. Ob die Kosten jetzt 30, 100, 500 MRD sind, k.a. Das Ifo rechnet bestimmt extra viel aus. Zu einem nicht marginalen Effekt muss es über die Zeit durch Steuern oder Abgaben gegenfinanziert werden. Und in der politischen Debatte wird immer vom Sparen geredet, aber bei den Flüchlingen/Einwanderen halten wir uns halt an die Vorgaben, die dann endogen die Ausgaben bedingen. Da muss man sich nicht wundern, wenn der Bürger sauer ist.
Nee, Borjas schreibt quasi nur zur Migration und minimum wage, glaube nicht dass er jemals was zu generellen Effekten veröffentlicht hat.
Und bzgl. self evident: Das dachte ich auch mal, aber es ist nicht wahr. Lies dir den Kram zum Mariel Boat Lift durch. Im AER war letztes Jahr eine Sache zu Immigration Restrictions für Braceros, die du lesen kannst. Wenn du da auf lokale Arbeitsmärkte schaust, ist der Influx durchaus vergleichbar und da kriegst du keinen Effekt zu fassen.
Und ganz ehrlich: Wenn wir von sowas wie 150 oder selbst 300 Milliarden Kosten pro Million reden, sollte man nicht vergessen dass das mit einem extrem langen Zeithorizont gerechnet ist. Wenn der deutsche Staat dafür 1% seines BIPs ausgibt, heißt das wir wären als Land wirtschaftlich auf dem Niveau von vor ein paar Jahren (bei Staatsquote zwischen 40 und 45%). Das ist alles nicht nichts, aber davon merkt der durchschnittliche Einheimische nichts. Wer 2015 denselben Job gemacht hat wie heute sitzt sicher 2019 nicht zuhause rum und denkt sich "whoa, wie viel besser es mir geht als damals".
Mir ist durchaus bewusst, dass Collier weniger den wirtschaftlichen Impact im Fokus hat, als die sozialen Kosten. Das ist aber auch mein Punkt. Ich will gar nicht behaupten, dass der wirtschaftliche Effekt so katastrophal ist (er ist mE nur nicht positiv, sondern eher negativ, aber für Deutschland im verkraftbaren Rahmen). Die sozialen Kosten sind aber das eigentliche Problem. Das fängt schon auf struktureller Ebene an, wo sich eben Stadtteile ghettofizieren und man Schulen bekommt, wo kein deutscher Muttersprachler mehr dabei ist. Bis zu dem politische Drive nach Rechts. Der kommt nämlich mE nicht (nur) aufgrund der Berichterstattung zusammen. Ich höre von sehr vielen Menschen und nehme auch selbst wahr, dass sich das Straßenbild deutlich verändert hat - sogar für mich, der seit den 90ern hier lebt und einen Gutteil davon in Großstädten. Wie muss die Veränderung für Menschen ankommen, die im Deutschland der 60er oder 70er sozialisiert wurden?
Das halte ich gefährlich. Ich denke im Gegenteil, man darf diesen Leuten nie im Leben zugestehen, dass sie darin im Recht sind, andere Menschen (ggfs. auch Bürger!) nach ihrer Hautfarbe zu beurteilen. Was glaubst du was für eine Nachricht es sendet, wenn wir jungen Leuten zu verstehen geben, "ok, IHR seid ok aber mehr als X% der Bevölkerung von euch wollen wir dann doch nicht"? Bürger haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten und das ist imho das absolute Minimum, was man von Bürgern verlangen kann, nicht zuletzt von denjenigen, die zumindest theoretisch die Vorteile der Mehrheitsgesellschaft genießen. Ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie du Migranten einerseits sagen kannst "ok, ihr seid jetzt hier, sink or swim" und dann andererseits Leuten, die größtenteils nicht mal irgendwelche Nachteile für sich selbst geltend machen können*, sagen, man müsse auf ihre Gefühle bzgl. ethnischer Zusammensetzung Rücksicht nehmen, klare Sache.
Zumal diese Einstellungen ja nicht unwandelbar sind: Schau dir bspw. an wie sich der Süden in den USA gewandelt hat. Klar ist es dort noch nicht so wie im Norden (der sicher auch alles andere als perfekt ist), aber da gab es innerhalb von einer Generation einen Wandel, der größer war als der Wandel in den 200 Jahren zuvor. Das wäre niemals passiert, wenn man die Leute dort nicht zur Veränderung gedrängt hätte. Imho kann man in Deutschland durch die Trennung gut erkennen, dass es ein absoluter Fehler ist, den Leuten Fremdheit nicht zumuten zu wollen, weil man sie damit nur in ihren Vorurteilen bestärkt. Zumal die Zeit, in der die Mehrheit der Leute in der Straßenbahn weiß ist, wenn man in bestimmten Stadtteilen einsteigt, nicht zurückkommen wird, dafür sorgt schon die Zusammensetzung an den Schulen. Kompletter lost cause, den man den Leuten dringendst ausreden sollte.
*schau dir nur mal an, wo die AfD stark ist und wo nicht
Das ethische Argument interessiert mich nicht, tut mir leid, so kaltherzig bin ich nunmal. Mich interessiert nur der benefit für mich und meine peer group, also insb. andere Bürger Deutschlands.
Das sei dir unbelassen, wo man seinen persönlichen Kreis zieht sollte eh jeder selbst entscheiden. Ich bin btw selbst nicht unbedingt mit der Idee einverstanden, dass man die Entscheidung, wer schutzbedürftig ist, daran festmacht (lexikalisch), wie viele Schutzbedürftige es gibt, sondern eher (1) was Deutschland leisten kann und (2) was ein fairer Anteil ist. Das Einzige was ich denke was man von jedem erwarten kann, der Teil unserer Demokratie ist, ist, dass er die Entscheidung dann auch mitträgt, wenn sie nicht zu seinen Gunsten ausgefallen ist. Mir ist egal, wie viele oder wenige Flüchtlinge jemand aufnehmen will, solange er menschlich anständig mit denen umgeht, die jetzt nun mal hier sind.
€dit:
Davon ab: Das Thema wird medial zurückkommen. Ich gönne den Grünen ihren aktuellen Höhenflug, aber sollten sie in eine Machtposition gelangen und migrationspolitisch Versagen (wovon ich ausgehe) wird der Wind sich drehen. Ich hoffe in eine anständige Richtung.
Ich bezweifle, dass die Grünen migrationspolitisch groß etwas verändern könnten, zumindest etwas, was über Symbolpolitik hinausgeht. Was auch mal gesagt werden muss: Es wird immer so getan als wäre der große Impetus von Deutschland ausgegangen, dabei ist das völlig absurd. Weder hat Deutschland diese Leute "eingeladen", noch hat Deutschland viel dazu beigetragen, dass die Zahlen dann auch wieder so deutlich zurückgingen; was Deutschland getan hat war durch seine Passivität die Transitländer Europas nicht zum Handeln zu zwingen. Vielleicht würden marginal weniger Flüchtlinge abgeschoben (was von dem niedrigen Plateau, von dem man starten würde, sowieso keinen großen Unterschied macht), vielleicht würden marginal mehr humanitäre Visa ausgestellt; dass die Grünen sich tatsächlich hinstellen und eine unilaterale Regelung erzwingen, die den Impetus nach Deutschland verschiebt, glaube ich genau dann, wenn ich es sehe. Eine echte Korrektur zu einer de facto (!) großzügigeren Flüchtlingspolitik hieße nämlich Stand 2019, dass man Leute in großen (!) Zahlen aus Flüchtlingslagern einfliegen ließe.
Wenn ich Migrations-Thanos wäre, würde ich sicher nicht randomisiert schnippsen (mal davon ab dass es ja nur am Rande um die Türken gibt, die stellen halt nur das Lehrbeispiel da, wie man es nicht machen sollte).
Gedankenexperiment bzgl. "public opinion", nicht bzgl. Policy.
[Aus dem Pressethread rauskopiert]