Tja, tut mir leid, da pflichte ich Dir schlichtweg nicht bei. Jede in irgend einer Form mit Macht ausgestattete Ideologie nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Mittel um ihr Gedankengut unter die Leute zu bringen, auch mit Druck. Von der Berieselung mit Fernsehspots bis hin zum Umerziehungslager klassischer Ausprägung. Im Übrigen in der UDSSR, DDR und sonstigen Auswüchsen sozialistisch/kommunistischen Oberwassers regelmäßig zu finden. Deine Schlussfolgerung, die "rechten" würden das sogar viel mehr tun als die "linken" halte ich für schlichtweg erfunden. Jeder nutzt was er für sinnvoll und effektiv hält und womit er denkt, durchzukommen.
Ok, hier hätte ich mich deutlich klarer ausdrücken müssen: Bestreite ich gar nicht, wäre auch abstrus es zu tun (siehe den "new soviet man"). Was ich hätte sagen sollen: Wenn ich an jemanden wie Orban oder die AfD denke und sie "rechts" nenne, dann nicht primär wegen der ökonomischen Komponente, sondern wegen der gesellschaftspolitischen. Ökonomisch gibt es radikale bis extreme Spielarten sowohl links (man denke an solche Länder wie Ecuador bis zu Extremfällen wie der UdSSR) als auch von rechts (sowas wie Chile unter Pinochet wäre das Paradebeispiel). Gesellschaftspolitisch gibt es als einflussreiche politische Strömung aber nur einen Radikalismus von rechts (sowas wie Orban oder Kaczynski, Extremismusbeispiele sind vermutlich im wesentlichen historisch), aber nichts auch nur annähernd Vergleichbares von links. Zumindest in (halbwegs) funktionierenden Demokratien, in denen man auf die Meinung der Mehrheit nicht einfach pfeifen kann, ist Gesellschaftspolitik primär Politik für diejenigen, die nicht in der "Mitte der Gesellschaft" stehen und damit lässt sich nicht polemisieren. Deshalb stört mich auch das Bild von der "Moralkeule" so: So zu tun als wäre es in der Politik standardmäßig ein Gewinnerargument, die moralisch überlegene Position einzunehmen, ist eine komplette Verzerrung der Wirklichkeit.
Ich tue mir schwer Entscheidungsfindungen in der Politik auf ein (stark simplifiziertes) Modell runterzubrechen, weil das immer Komplexitätsreduktion bedeutet und natürlich nicht für jeden Fall zutrifft, aber insgesamt wirst du kaum jemanden finden, der sich ernsthaft mit Entscheidungsprozessen in der Politik beschäftigt und glaubt, dass der eigene Nutzen des Entscheiders nicht häufig eine entscheidende Rolle spielt. Wie Grau so zu tun als müsste man nur mal eben mit der "Moralkeule" winken und schon würden alle die Waffen strecken ist eine völlig lächerliche Sichtweise, das Gegenteil ist der Fall: Wenn du dir mal anschaust was Grau für "Hypermoral" hält ("Denken wir an Fragen der Ernährung, des allgemeinen Lebensstils, des Rauchens. Der Konsum hat nachhaltig zu sein. Die Produkte haben fair gehandelt zu sein.") wirst du sehen, dass das alles Themen sind, bei denen ich keinen Zweifel habe, dass die große Mehrheit eine bestimmte Handlungsweise als "moralisch" betrachtet, aber es nicht gelingt, sie allgemeinverbindlich durchzusetzen. Genau dasselbe bspw. in der Umweltpolitik. Selbst in der Frage dieses Threads waren viele Gegner von Merkel der Meinung, dass es durchaus nachvollziehbar ist, warum Flüchtlinge hierher kommen wollen und dass sie es ihnen nicht verdenken, nur dass Deutschland es eben nicht zulassen sollte, weil es schlicht nicht die Mittel hat, allen zu helfen und auf dem Weg dahin den Ast absägt, auf dem es sitzt.
[...] Rechte kann ich unter Umständen (wenn halbwegs Hirn da ist) argumentativ überzeugen, das sie mit ihren Annahmen faktisch falsch liegen. Linke nicht. Die hören nicht zu. Die interessiert keine Umsetzbarkeit von Vorschlägen, die interessiert keine Nachhaltigkeit, keine Nebenwirkungen auf die Gesamtgesellschaft. Die wechseln bei jeder Diskussion nach kürzester Zeit auf die emotionale Moralebene und claimen schlicht den Highground. Der Gegenüber ist Nazi und damit per se im Unrecht. Wie kann man nur? Das ist unmenschlich, kalt, herzlos, [insert irgend einen schwammigen Begriff here].
a. Ich glaube der größte Teil des Ärgers über den "Hypermoralismus" kommt lediglich daher, dass man konzedieren müsste, dass zumindest an der moralischen Betrachtung durchaus etwas dran ist, wenn man sich ernsthaft auf diese Diskussion einlässt. Ohne jetzt große Ahnung von Politischer Theorie (vulgo politische Philosophie) zu haben erscheint es mir als Laie zumindest moralisch schwer zu begründen, warum ein so großer Teil der Lebenschancen dadurch determiniert wird, ob man in Marokko oder Mettmann zur Welt kommt.
b. Ich halte das bis zu einem gewissen Grad für eine Karikatur. Das ist nur ein kleiner Teil des politischen Spektrums, der wirklich so argumentiert und das liegt daran, dass
c. diese Argumentationslinie in der praktischen Politik bei weitem nicht so erfolgreich ist, wie man aus Graus Artikel schließen könnte. Falls du mir nicht glaubst, frag dich mal warum bspw. der Großteil der Republik zustimmt, dass Pfleger unterbezahlt sind, aber dass sich daran seit Jahrzehnten nichts ändert. Oder frag dich, warum alle den Umgang mit der Autoindustrie für zu nachsichtig halten, aber letztendlich niemand etwas dagegen tun will. Oder warum im Grunde jedem klar war, dass Dublin konsequent umgesetzt ungerecht ist, aber es sich keine Mehrheiten für Änderungen finden. Selbst in der Flüchtlingskrise, deren Umgang in Deutschland am Anfang erstaunlich stark durch moralische Erwägungen geprägt war, ist das sicherlich nicht die einzige Erwägung: Niemand hat Deutschland gehindert, in den ersten 4 1/2 Jahren des Syrienkriegs Flüchtlinge aus Lagern aufzunehmen, wenn einzig die Moral die entscheidende Rolle gespielt hätte wäre das der offensichtliche Weg gewesen.
Das ist natürlich erstmal nur meine persönliche Erfahrung aber sie wird halt auf breiter Front bestätigt. In den Medien, hier im Forum, im Bekanntenkreis. Mag nicht universell gültig sein, aber so valide wie die aus dem Bierglas in Budapest geschöpften Erkenntnisse sind sie auf jeden Fall. Aber erneut bin ich erstaunt, wie groß der Löffel war, mit dem Du die Weisheit gefressen hast. Der promovierte Philosoph und die Redakteure von cicero die solch einen Artikel abdrucken sehen das ganz klar alles falsch. Mr. IchmachwasmitpolitikindenUSA weiß es besser. Wundert mich, dass Du keine Studie in den Ring geworfen hast.
"Promovierter Philosoph", ist klar. Bin gespannt auf welcher der 313 Seiten seiner Dissertation "Ein Kreis von Kreisen: Hegels postanalytische Erkenntnistheorie" die Grundlage seiner bahnbrechenden Erkenntnisse über den öffentlichen Diskurs in der BRD zu finden sind.
Davon ab: Ich denke es ist offensichtlich (und nichts anderes sollte mein Beispiel zeigen), dass es sehr viel leichter ist, gegen Flüchtlinge zu polemisieren als für sie. Konsequenterweise ist das auch ein Gewinnerthema für Orban. Wie du mit gesellschaftspolitischem Liberalismus der Art, die Grau beschreibt, außerhalb des Zeit-Feuilleton irgendwas gewinnen willst, ist mir völlig schleierhaft. Um selbst etwas zu polemisieren: Das ist inhaltsleeres Geschwätz für rechte Querulanten, die es in den Mördergruben ihrer Herzen nicht ertragen, dass es nicht alle für spätrömische Dekadenz halten, dass ihnen mit moralischen Argumenten widersprochen werden kann, selbst während ihre Meinung den politischen Kurs seit spätestens Anfang 2016 prägt. Ich erfreue mich ja immer innerlich ein bisschen, wenn jemand behauptet, Merkel wäre die Kanzlerin der offenen Grenzen, selbst wenn a. die Grenzen standardmäßig offen sind und b. Merkel genauso versucht hat die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, nur eben auf eine Art die nicht goutiert wurde (Deal mit der Türkei).