Hervorragender Gastbeitrag von Boris Palmer (Oberbürgermeister von Tübingen) zur Flüchtlingskrise in der FAZ
"Die Nazis, die Flüchtlinge und ich"
http://www.faz.net/aktuell/politik/...rungen-in-der-fluechtlingskrise-14541360.html
Aus dem Schlussabsatz:
Hatte heute mit nem Kollegen ne recht ausufernde Diskussion über genau das Thema. Zum Kontext: Wir arbeiten an ner großstadtnahen Realschule mit relativ hohem Migrantenanteil für den eher mittleren Urbanisierungsgrad des Schuleinzugsgebiets. (ca. 1/3 der Schüler hat Migrationshintergrund)
Die Schule an der ich davor gearbeitet habe, hatte nen Migrantenanteil von < 2%. Die Anzahl der Vorurteile ggü. Migration waren natürlich dort weitaus höher als am jetzigen Ort. Der Witz ist, dass die Schüler mit Hintergrund i.d.R. sogar fleißiger, höflicher und kooperativer sind. Allerdings muss man bedenken, dass es eben eine Real- und keine Mittelschule ist. Mittelschulen sind soziale Brennpunkte, wo sich Jugendliche täglich aufs Maul geben. Wobei das Konfliktpotenzial an den Schulen mit dem Urbanisierungsgrad steigt, da in Ballungsräumen weitaus häufiger Elternhäuser existieren, in denen Kinder quasi nicht erzogen werden, bzw. in den sattsam bekannten "Parallelgesellschaften" aufwachsen. Worauf ich hinauswill, ist, dass Migranten viel zu sehr über einen Kamm geschoren werden. Diejenigen, die sich integrieren wollten, haben das nach einer oder zwei Generationen geschafft. Natürlich unter völlig anderen Bedingungen als heute. Ein total nicht-repräsentatives Beispiel aus meinem Alltag: Karim, 12, Sohn algerischer Einwanderer gewinnt den Vorlesewettbewerb der Klasse mit gewaltigem Vorsprung. Liest und schreibt Deutsch besser als 90% seiner Mitschüler. Wie gesagt, null repräsentativ. Aber eben auch ein positives Beispiel, das man berücksichtigen muss. Die Mehrheit vieler nordafrikanischer Immigranten schätze ich allerdings weniger gut integriert ein.
Auch in den 60ern wurde den türkischen Migranten viel Hass entgegengeschmissen. Heute wage zu behaupten, dass Türken ca. so gut oder schlecht integriert sind wie Sachsen.
Um mal weg vom Circleflame der letzten Seite zu kommen, eine Zusammenfassung der hier breitgetretenen Subthemen:
1. Die Arbeitswelt hat sich stark verändert und wird es noch weiter tun. "Einfache" Jobs werden substituierbar.
2. Das Bildungssystem steckt strukturell noch immer im 20. Jahrhundert. Ein System, das auf Einheit / Gleichmacherei ausgelegt ist, ist zu starr, um auf Diversität zu reagieren.
3. Die Medienrevolution hat Diskurse verschärft und zu den vielzitierten Bubbles geführt. Man kann auch hier am Thread gut beobachten, dass es letzten Endes im Netz nur um die Darstellung / Bestätigung der eigenen Meinung geht. Wer anders denkt als man selbst, wird ignoriert oder beleidigt.
4. Die zunehmende Urbanisierung wirkt wie ein Katalysator für grundständige Probleme. Ländliche Strukturen sind stabiler und langfristig aufnahmefähiger für Fremdes, wenngleich die Anfangshürde größer ist. Der Assimilationsdruck ist auf dem Land größer als in der Stadt. Andersrum wird nun ein Schuh draus: Die moderne Arbeitswelt zwingt zum Umzug in die Ballungsräume, was wiederum dazu führt, dass jene mit geringerer Bildung in Außenbezirke verdrängt werden, wo sie dann fröhlich in der eigenen Kacke schmoren dürfen. Was dann im Extremfall passiert, sieht man in Frankreich.
5. Um Fundiertes zur Finanzierungsdiskussion der letzten Seiten beizutragen, fehlt mir das VWL-Wissen. Bedenkt man, wie unterfinanziert bereits jetzt öffentliche Einrichtungen in der BRD sind, schwant mir Übles. Auch das Sozialsystem dürfte mittelfristig noch weiter eingedampft werden. Vom Rentensystem ganz zu schweigen. Dass nun die Flüchtlinge der Auslöser für diese Einsparungen seien, halte ich allerdings für übertrieben. Vielmehr dürften sie als Vorwand fungieren, nach dem Motto: Wenn wir die hierbehalten wollen, müssen alle kürzer treten! Was zu Verwerfungen an den Wahlurnen führen dürfte.
Dass Deutschland sich ganz ohne Flüchtlinge in eine äußerst prekäre Schuldenlage manövriert hat und dass unser Steuersystem gelinde gesagt reformbedürftig ist, ficht keinen an. Aber wie gesagt, möchte ich hier nicht ins Trübe hineinlabern. Da gibts Leute, die sich besser auskennen.
Letzten Endes müsste es mMn mal eine grundsätzliche Ideologiedebatte geben. Dass nämlich z.B. eine Claudia Roth ebenso ideologisch verbohrt ist wie eine Frauke Petry, wird zu selten thematisiert. Überhaupt habe ich das Gefühl (ist ja heutzutage in), dass öffentlich kaum noch über Inhalte geredet wird. Danke Mrs Makrele.
Die Medien ballern nach dem Ejakulationsprinzip auf alles, was Auflage macht und sich beleidigen lässt, wenngleich Trump ein wenig die Stimmung gedreht hat. Dass nun z.B. Texte wie der von Palmer abgedruckt werden, spricht Bände. (Finde den Text btw grundsätzlich nicht verkehrt.)