Ferner hält sich das Risiko niemals in Grenzen. Bist du bereits in der praktischen Ausbildung? Dann solltest du ja genug Fälle auf den Tisch bekommen haben, die sich am Anfang ach so aussichtsreich ausgesehen haben und nach der Klageerwiderung sah es mal ganz mau aus.
Momentaner Fall, den ich habe: Typ will 90K aus einem Verkehrsunfall bei 100 % Haftungsquote der Gegenseite. Die Beklagte soll mit 30 km/h (80 erlaubt) rechtsblinkend bei ner Abzweigung einfach geradeaus weitergefahren sein. Er dachte, sie biegt ab und fährt an. Die Gegenseite hat sich auf ne 1/3 Quote festgelegt und will nicht mehr zahlen. Nach dem Sachverständigengutachten wird es bei der 1/3 Quote bleiben, denn die Geschwindigkeit der Beklagten kann nicht eindeutig festgestellt werden.
Wenn ich sage, das Risiko hält sich in Grenzen, dann meine ich damit Folgendes: Man kann (ja auch ein Laie) grob abschätzen, wie gut man darsteht. Wenn nicht, dann holt man sich einen Beratungshilfeschein und lässt einen Anwalt drauf schauen. Dann beantragt man Prozesskostenhilfe und riskiert dann allenfalls die Kosten des gegnerischen Anwalts. Und die betragen, ich sage es hier immer wieder, nur einen Bruchteil dessen, was der Laie dahinter immer vermutet.
Mir ist schon klar dass es sowas wie Beweisprobleme gibt. Mein zweites Examen hab ich nämlich schon hinter mir.
Aber du redest hier von Klagen, die tatsächlich erhoben wurden, bei denen die Partei also meinte, Erfolg haben zu können. Von Fällen also, in denen sich die Parteien von dem Risiko bereits nicht mehr abschrecken ließen. Glaubst du nicht, dass ein Laie sich selbst die Frage stellen kann "was mache ich, wenn der Gegner es bestreitet"? Wir haben alle genug Krimis gelesen um zu wissen, dass man seine Behauptungen beweisen muss.
So. Wenn Fälle wie der obige vor Gericht landen, was sind dann die Fälle, bei denen heute noch nicht geklagt wird? Das sind Fälle, die so offensichtlich aussichtslos sind, dass selbst jeder Laie erkennt, dass er keine Chance hat; sei es aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen. Denk mal allein an die abstrusen Nachbarschaftsstreitigkeiten. Solche Fälle werden wir dann vermehrt kriegen und die werden inhaltlich eher noch absurder. Ich fürchte, bei vollkommen kostenlosen Zugang zur Justiz würde jemand selbst dann klagen, wenn er sich selbst sicher ist, z.B. mangels Beweisen nicht gewinnen zu können. Man hat ja nichts zu verlieren. Warum sollte man verjährte Ansprüche nicht einklagen? Wenn der Gegner sich auf die Verjährung beruft, verliert man halt, na und. Es wird auch nicht lange dauern, bis die Leute bemerken, dass man andere mit Klagen wirklich gut ärgen bzw. nerven kann und die dann allein deshalb klagen. Btw gibt es noch einen anderen Punkt den man bedenken sollte: Wenn es nichts mehr kostet, wer bezahlt dann eigentlich die Anwälte? Die arbeiten ja nicht umsonst. Der Staat? Ich höre schon alle diejenigen, die sich hier gerade über den ungerechten Rechtsstaat aufregen, aufschreien, weil das ein gigantisches Subventionsprogramm für Rechtsanwälte wäre.
Sicher, es mag Leute geben, die sich vor lauter Unwissen (über Prozesskostenhilfe, Beratungshilfe und auch über ihre prozessualen Möglichkeiten) gar nicht erst an das Gericht wenden, sondern die auf ihre Rechte gänzlich verzichten, weil sie meinen, eh nichts tun zu können. Aber abgesehen davon, dass sich daran wohl teilweise nicht viel ändern würde, handelt es sich dabei um eine so verschwindend kleine Gruppe - die noch dazu selbst schuld ist, weil man heute nicht zuletzt im Internet alle Informationen kriegen kann und sei es nur in einem Forum wie hier -, dass sie von der Gruppe der Querulanten die dann in die Gerichte strömen würden, hundertfach übertroffen wird.
Edit: Ich hab ja gar nichts dagegen, mehr Geld in die Justiz zu stecken, im Gegenteil. Aber dann doch bitte richtig. Für das Programm da oben müssten man den Justizhaushalt geschätzt verfünffachen bis verzehnfachen. Aber dann investiert das Geld doch lieber in mehr Richter, damit die Verfahren schneller bearbeitet werden können. Oder, mein Favorit: Bezahlt Richter endlich mal besser, damit der Beruf attraktiver wird und weniger Kollegen mit entsprechender Qualifikation nur wegen des Geldes in die Anwaltschaft "getrieben werden".
Edit 2: Mir fällt gerade noch was ein, was wir noch gar nicht bedacht haben: Wenn wir einem (mutwilligen) Kläger das Geld für das Gerichtsverfahren schenken, dann müssen wir das ja konsequenterweise erst recht dem Beklagten schenken, oder? Aber jetzt sag mir doch mal, und ich meine das wirklich ernst: Warum sollte ich in meinem Leben noch eine einzige Rechnung bezahlen, wenn ich es auch - vollkommen ohne irgendein Risiko - darauf anlegen könnte, in einem Gerichtsverfahren zu gewinnen, etwa weil der Kläger seinen Anspruch nicht bewiesen kriegt? Selbst wenn ich eine auch noch so entfernte Chance sehe, könnte ich mich bei begründeten Ansprüchen einfach verklagen lassen und wild alles mögliche bestreiten. Vielleicht ist der Richter doch nicht überzeugt. Vielleicht legt er den Vertrag ja doch anders aus. Vielleicht ergibt das Sachverständigengutachten ja, dass die Unterschrift gar nicht von mir ist (höhö, ich werde wohl extra krakelig unterschreiben). Vielleicht vielleicht vielleicht...
Unser Rechtsstaat funktioniert vor allem deshalb so gut, weil jeder Gläubiger darauf vertrauen darf, dass er im Zweifel seine Forderung bekommt und weil auf der anderen Seite jeder Schuldner weiß, dass er im Zweifel nicht nur die Forderung zahlen muss, sondern noch weitere Kosten entstehen, sodass es schlicht und einfach unwirtschaftlich ist, unbegründete Prozesse zu führen.