Nochmal zum Thema Brandmauer:
Die "Brandmauer" zur AfD wäre nur dann eine akzeptable Idee, wenn sie nicht missbraucht würde, dass Bestrebungen für eine restriktivere Politik dann eine Mehrheit in "Bundestag ohne AfD" finden muss.
D.h. absolut sehe ich gerade die SPD und die Grünen in der Pflicht, die Brandmauer so möglich zu machen, dass sie der CDU quasi implizit die Stimmen der AfD zuschlagen wenn es um das Thema Migrationspolitik geht.
In der Praxis passiert aber das Gegenteil.
Das ist btw genau was ich oben meinte, was in einer Demokratie schlicht nicht legitim ist: Du kannst natürlich NICHT erwarten, dass die anderen Parteien der Union einen Bonus geben, nur weil du bei dem Thema der Meinung der Union bist. Wenn SPD und Grüne der Meinung sind, dass es substanziell geboten ist, keine oder weniger Einschränkungen zu machen, dann kannst du nicht erwarten dass sie gegen diese Überzeugun stimmen. Es ist in einer repräsentativen Demokratie absolut legitim, dass Parteien ihre eigenen Ansichten vertreten, auch wenn sie nicht der Mehrheitsmeinung entsprechen. In einem System das so viele Vetospieler hat wie das der BRD führt das häufig dazu, dass der status quo bestehen bleibt, auch gegen den Mehrheitswillen. Es gibt in der Geschichte der BRD btw sicher keine Partei, die von diesem System so sehr profitiert hat wie die Union.
ABER: Ich glaube keineswegs, dass die SPD sich da nicht bewegen würde. Vielleicht nicht dorthin wo du oder die Union gerne würden, aber doch schon ein gutes Stück. Man muss ihr halt etwas dafür anbieten und das kann eben nicht vier Wochen vor der Wahl passieren.
In gewisser Weise hast du ja durchaus mein Verständnis, weil ich auch häufig von Meinungen überzeugt bin, die im politischen System aktuell keine Chance haben umgesetzt zu werden. Aber bevor man zu so drastischen Mitteln greift wie zum Einstürzen der Brandmauer würde ich dann doch gerne sehen, dass die Union einen genuinen Versuch startet, sich mit den potenziellen Regierungspartnern in der politischen Mitte zu einigen. In "Friss oder stirb (oh und übrigens umgesetzt wird das eh nicht)" drei Wochen vor der Wahl sehe ich keinen genuinen Versuch und ich würde jede Wette mit dir eingehen, du würdest das auch nicht, wenn es um ein Thema ginge das dir nicht am Herzen liegt.
Die Position von SPD und Grünen ist beim Thema Migrationspolitik im Wesentlichen "tja, kann man nichts machen" mit wechselnden Argumenten wie Grundgesetz, Europa, Moral, etc.
Das ist auch so eine Behauptung, die sich verselbstständigt hat. Insbesondere die Grünen haben schon eine Menge Dinge mitgemacht, die ganz sicher weit jenseits ihres Idealpunktes liegen. Aber du musst halt auch einfach mal realistisch bleiben: Was die Union vorschlägt ist eine ENORME Änderung des status quo. Deutschland hat dieses Jahr 250k Erstanträge bearbeitet, abzgl. Folgeanträgen und Geburten von Kindern deren Eltern Flüchtlingsstatus haben sind das so roundabout 200k Menschen. Die Union will die deutsche Gesetzeslage dahingehend ändern, dass niemand mehr reinkommt. Geburten wird es immer noch geben und man wird auch sicher nicht jeden an der Grenze abweisen können, insofern weiß ich nicht genau mit welchen Zahlen die Union rechnet, wenn das von Merz verkündete Programm Gesetz werden sollte, aber ich würde mal vermuten sie stellen sich eine (niedrige) fünfstellige Zahl vor. Was man sich bei Abschiebungen vorstellt (außer "jeden Tag") ist ebenfalls schwer zu sagen, aber ich gehe mal davon aus dass es auf deutlich Mehr hinauslaufen soll, d.h. dahingehend würde die Belastung sinken (wenn sie das durchsetzen könnten).
Jetzt weiß ich auch nicht was die Idealvorstellung der SPD (lassen wir die Grünen mal außen vor) ist. Aber gemeinhin ist der normale Lauf der Dinge in der Politik nun mal schlicht nicht, dass man bei einem Thema, das sich letztendlich doch relativ einfach quantifizieren lässt (wie viele Leute kommen neu und wie viele sind schon da) einfach sagt, aktuell sind wir bei 200k, Partei X will 0 und Partei Y will (?) und am Ende läuft es auf Nahe 0 hinaus. Klar gibt es Themen die so entschieden werden, aber das sind eben Themen bei denen man halt nur dichotome Lösungen hat: Bspw. kann man Schwangerschaftsabbrüche nur verbieten oder erlauben, alles dazwischen läuft effektiv auf dasselbe hinaus. Das hier ist aber kein solches Thema und auch wenn mir durchaus klar ist dass dir das Thema wichtig ist könntest du schon eingestehen, dass eine Änderung auf nahe 0 eine fundamentale Änderung wäre, die, je nachdem was man sich idealerweise als Policy vorstellt, eine ziemlich bittere Pille wäre.
Und nochmal: Ich verstehe, dass DU das für richtig hältst. Du solltest in einer Demokratie eben durchaus die Möglichkeit vorhalten, dass andere es anders sehen. Aus meiner ganz persönlichen Sicht: Ich vertrete (wenn auch mit deutlich weniger Eifer als du) die Position, dass dieses Thema maßlos überschätzt ist. Jetzt kannst du sagen ich sehe das falsch, aber man kann mir zumindest nicht vorhalten dass ich mir über das Thema keine Gedanken gemacht hätte oder dass die Mehrheit, die es anders sieht, irgendwelche Informationen hat, die meine Meinung zu dem Thema ändern würde, würde ich sie nur kennen. Würde man das Thema dichotomisieren ("Flüchtlinge/Keine Flüchtlinge") dann wäre ich mit meiner Meinung in der Minderheit, das weiß ich schon. Aber gemeinhin ist das nicht, wie Policy in Deutschland gemacht wird. Dort, wo ich in der Mehrheit bin, erwarte ich auch nicht, dass die Meinungen von allen anderen ignoriert werden und zu 100% die Mehrheitsmeinung durchgesetzt wird, weil ich weiß dass das nicht ist wie Themen in einer Demokratie normalerweise behandelt werden. Warum sollte ich also im Gegenzug akzeptieren, dass meine Meinung exakt Null Einfluss auf das Aufnahmeniveau haben soll? Das ist aber genau, was die Union von SPD und Grünen erwarten und das scheint auch zu sein, was du von allen links der politischen Mitte erwartest und ich frage mich: Mit welcher Legitimation?
Aus meiner Sicht eben zwei Optionen:
1. Das was ich oben beschrieb.
2. Keine Brandmauer mehr und irgendwann ggf gar eine Koalition CDU / AfD.
Nur aus Interesse: Das ist ja eine empirische Behauptung, wenn ich dich richtig verstehe. Irgendwann würde die Union eine Koalition mit der AfD eingehen, weil sie nicht mehr anders könnte, würden sich rot/grün weiteren Reformen beim Thema Asly verweigern. Das glaube ich persönlich keine Sekunde, aber wenn wir das mal dahingestellt lassen: Ist das denn auch, was DU für wünschenswert hältst? Wenn SPD/Grüne jetzt sagen "mit uns keine weiteren Verschärfungen, unter keinen Umständen" würdest du persönlich dann lieber eine Union/AfD-Koalition sehen als eine GroKo oder schwarz/grün?
Es reicht hier einfach nicht, deine Meinung ("nicht so wichtig") als Fakt hinzustellen und damit zu rechtfertigen, dass die Mehrheit der Gesellschaft und die CDU sich deiner Vorstellung der Brandmauer unterzuordnen haben.
Nichts für ungut, aber das machst du hier die ganze Zeit.
Ich sehe nicht wieso es das tun sollte. Wenn man eine schnellere Lösung haben will zeigt man nur dass man die Umsetzungsgeschwindigkeit der Klärung der Legalität nicht maximal unterordnet.
Was völlig normal ist, es kommt bei quasi keinem Gesetz vor dass zuerstmal ein Testballon gestartet wird um die Leglität zu klären.
(Ich antworte mal unter der Prämisse, dass du mit "man" die Union meinst. Letzter Absatz dann dazu, falls du die Wähler meintest)
Wie oben geschrieben: Du gehst davon aus, dass die Union "eine schnellere Lösung" wirklich will. Das stimmt aber eben nur abstrakt, wenn wir in einem luftleeren Raum argumentieren in dem die Union (a) das auch so schnell durchsetzen könnte und (b) keine Opportunitätskosten existieren. Das ist aber eben nicht die Welt, in der wir uns befinden: Als Merz verkündet hat, die Lösung müsse noch vor der Bundestagswahl kommen, war das nur noch hohles Geschwätz, weil alle wissen dass das nicht mehr möglich ist. Selbst wenn du ein Einspruchsgesetz statt eines Zustimmungsgesetzes schreiben könntest, das diese schnelle Lösung beinhaltet, müsstest du das normale parlamentarische Prozedere umgehen und alle Lesungen in dieselbe Woche (die letzte Sitzungswoche) legen. Dafür brauchst du eine 2/3-Mehrheit im Bundestag, welche die Union ohne SPD oder Grüne nicht hat, selbst wenn alle anderen Parteien dafür gestimmt hätten. Das wusste die Union auch, das ist ja genau der Grund warum sie ursprünglich überhaupt nicht über einen Gesetzesentwurf wollte, sondern eben nur den unverbindlichen Beschlussantrag einbringen wollte, bis man gesehen hat dass man sich dann blamiert weil die AfD den eigenen (CDU-)Antrag aus der Versenkung holt und man dann gegen das eigene Gesetz stimmen müsste. Hätte die Union wirklich wert darauf gelegt, ein Gesetz noch vor der Bundestagswahl zumindest im Bundestag zu verabschieden, wäre das durchaus möglich gewesen nachdem die Koalition zerbrochen ist. Aber das hat die Union nicht getan; im Gegenteil hat Merz sogar noch gesagt dass er explizit keine "Zufallsmehrheiten" (=mit der AfD) zulassen möchte.
Was man jetzt dagegen hat sind verhärtete Fronten. Wenn ich mal von der Prämisse ausgehe (welche ich, nur ftr, sowohl als policy als auch als politics für falsch halte), dass eine Lösung wirklich so notwendig ist wie die Union es behauptet (ob aus echter Überzeugung oder weil Wahlkampf ist sei mal dahingestellt) gäbe es nur zwei mögliche Szenarien, in denen das Vorgehen Sinn ergibt: (1) Man kann die Gesetzeslage direkt ändern oder (2) man bringt sich in eine bessere Ausgangslage, um das nach der Wahl zu tun. Wir wissen dass (1) de facto unmöglich war, insofern bleibt nur (2). Ich sehe aber einfach kein Szenario, unter dem (2) realistisch ist, weil man effektiv jetzt aus Sicht der Union bei SPD und Grüne die Fronten eher verhärtet hat. Das heißt man stellt sich vermutlich sogar schlechter, außer dieser Stunt führt dazu dass nach der Wahl Koalitionsoptionen möglich würden, die so nicht möglich sind. Es gibt (vorsichtig gesagt) sehr, sehr wenig Grund das zu glauben. Ich wäre ehrlich gesagt überrascht, wenn die Union von den Ereignissen dieser Woche überhaupt profitiert.
Falls du die Wähler meintest: Für die Behauptung gibt es keine direkte Evidenz in dem Sinne, dass das in Deutschland so schon mal versucht wurde, aber es gibt jede Menge indirekte Evidenz aus der Politik, die sich seit Jahrzehnten stark sträubt in direkte Konfrontation mit Gerichten zu gehen, wenn ihnen die Urteile der Verwaltungsgerichte oder des BVerfG nicht passen. Zumindest in der Politik ist die Ansicht weit verbreitet, wenn man die direkte Konfrontation mit den Gerichten sucht wird man verlieren, weil Gerichte in den Augen der Öffentlichkeit gegenüber Parteipolitik einen deutlichen Legitimationsvorsprung haben.
Es ist eine Sache, darauf zu vertrauen dass die Wähler es schon goutieren würden, dass man die Gerichte im Zweifelsfall ignoriert, weil sie es abstrakt in einer Umfrage sagen. Ob das tatsächlich so ist, wenn die Politik es dann macht, ist eine andere Frage. Aber im Mindestmaß würde man seine Chancen enorm erhöhen, wenn die Menschen davon überzeugt sind, dass das wirklich die letzte Option ist (das alte Argument "the constitution is not a suicide pact" aus den USA auf Europa übertragen quasi). An dem Punkt sind wir aber ganz sicher noch nicht, bevor die Wahl nicht vorbei ist und sich zeigt was die neue Regierung für Maßnahmen beschließt und welche Wirkung diese haben werden.
Aber selbst wenn es das tun würde, sehe ich nicht wie es der Union auch nur Ansatzweise nutzen könnte. Es wäre ein Nutzen wenn das Ziel "Verzögerung, eigentlich wollen wir nicht dass was passiert" wäre, aber das ist es ja nicht, das ist eher ein Ziel der Grünen. Und helfen tut es nicht wirklich - wenn nach ewig langer Prüfung rauskommt (mal realistisch, da ist nichts durch bis zur Wahl, und auch nicht in absehbarem Zeitraum danach, solange kann/will die Union eh nicht warten) dass es legal ist, ist man an dem Punkt das man es machen kann, was man aber auch so schon gekonnt hätte (Frankreich macht ja im Prinzip genau das gleiche schon eine ganze Weile), und wenn rauskommt dass es nicht legal ist, hat man ein zusätzliches Hindernis was man beseitigen muss. So oder so ist "Verzögerung" das einzige was man damit erreicht.
Du missverstehst den Punkt glaube ich. Die Union hat jetzt schlicht keine substanziellen Optionen mehr, weil sie bis vier Wochen vor der Wahl gewartet hat. Bei dem, was ich "Testballon" geht es nicht darum, dass das in irgendeiner Form substanziell helfen soll (würde weder helfen noch würde es schaden), sondern darum noch irgendein Zeichen zu setzen, das man als (bestmögliches) credible commitment sehen könnte, dass die Union gewillt ist etwas zu tun, was aber gleichzeitig (a) tatsächlich noch vor der Wahl durchsetzbar wäre und (b) nicht dazu führt, dass die Koalitionsbildung mit der SPD noch schwieriger wird als ohnehin schon. Das ist natürlich auch keine Verzögerung, weil es nicht darum geht abzuwarten bis man eine Entscheidung hat*, sondern darum überhaupt etwas vor der Wahl zu beschließen. Die Koalitionsverhandlungen wären davon nicht berührt und genau dort müsste jede mögliche Lösung entstehen.
Wenn es Merz tatsächlich ernst meinen würde mit seiner Behauptung, hätte er ja Folgendes sagen können: "Sie können jetzt mit uns stimmen, dann beschließen wir unser Gesetz vor der Wahl mit den demokratischen Parteien. Oder sie können jetzt gegen uns stimmen, dann stimmen wir über den Inhalt unseres Beschließungsantrags zum frühestmöglichen Zeitpunkt im nächsten Bundestag ab, nur dann in Form eines Gesetzes. Wenn sie nicht mit uns stimmen, stimmt eben die AfD mit uns und das wird für eine Mehrheit reichen." Aber das tut Merz nicht, eben weil er weiß dass keine Partei sich auf diese Art erpressen lassen würde und er dann das Land in eine echte Staatskrise stürzt, weil keine Mehrheitskoalition mehr möglich wäre (zumindest keine, die die Union eingehen will).
*die übrigens von einem Verwaltungsgericht keineswegs so lange dauern würde, weil es ja einen konkreten Geschädigten gäbe, der um Rechtsschutz ersucht; auch wenn das Gesetz letztendlich dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt würde müsste dieser für die Zwischenzeit geklärt werden
Also ich widerspreche dir nicht dass das wahrscheinlich das einzige ist was man mit den Grünen durchbekommt, das stimmt wahrscheinlich, aber ich widerspreche deutlich dass das auch nur Ansatzweise eine Lösung für die CDU sein könnte. Das ist im wesentlichen Anerkennen dass die Grünen zumindest bis zur Wahl nach belieben blockieren können wenn man keine Stimmen der AfD in Kauf nimmt.
Die Grünen können auch blockieren, WENN man Stimmen der AfD in Kauf nimmt. Wo ich allerdings glaube dass wir unterschiedlicher Ansicht sind ist in der Frage, was die SPD bereit wäre mitzugehen. Ich glaube da gäbe es schon einiges, was die SPD bereit wäre mitzumachen. Aber dafür müsste die Union eben an anderer Stelle Kompromisse machen und dafür gibt es vor der Wahl einfach keine Gelegenheit mehr, weil es keine Verhandlungsmasse gibt. Wenn die Union überhaupt noch etwas Positives tun kann dann wäre es eben genau was ich meinte: Ein Zeichen setzen, dass man bereit ist politisches Kapital in die Hand zu nehmen, auch nach der Wahl. Und dass die anderen Parteien andererseits bereit sind, nicht a priori zu sagen "ok, der status quo ist unserem Idealpunkt näher als alles, was ihr vorschlagt, also ist das absolute Maximum was wir nach der Wahl machen es beim status quo zu belassen". Dafür sind die Mittel einfach ein paar Wochen vor der Wahl extrem begrenzt.