Deutschland im Vergleich

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Ja, mit dem Problem, dass das Produktivitätswachstum oft nicht messbar ist, bin ich voll bei Dir. Das macht meine oben gepostete Statistik sogar noch viel krasser. Google ist eines der produktivsten Unternehmen der Welt mit ihren >1m Umsatz pro Mitarbeiter. Google Maps, da sie das gratis rausgeben ist da aber nichtmal drin, bzw. senkt die statistische Produktivität pro Mitarbeiter sogar. Man müsste irgendwie messen, wie viel Wirtschaftsleistung durch massiv gefallene Preise verloren wurde.

Zum zweiten Teil: genau da sehe ich beim deutschen Mittelstand das langfristige Problem. Die nicht Kompetivität bei den Löhnen ist doch nur Ausdruck von fehlenden Produktivitätssteigerungen. Da meine ich auch nicht 10%, sondern 100%, oder 500%.

Mittelstand war grosser Profiteur der Globalisierung in den letzten 30 Jahren, scheint mir aber jetzt mangels Skala denkbar schlecht aufgestellt, um von den nächsten Produktivitätsgewinnen zu profitieren.
 
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Boot, ich verstehe Deinen Frust und kann Deine Erfahrung auch nachvol ziehen, habe dies in anderer Rolle ähnlich erlebt.

Es gibt aber auch noch eine andere Wahrheit und die ist, dass Dein Laden einfach zu unproduktiv ist. Das mag im Wettbewerb mit verstaubten deutschen Industriebetrieben noch angehen, aber nicht im globalen Tech Wettbewerb, wenn ihr Seniors nicht mal zahlen könnt wie andere Firmen Berufseinsteiger und trotzdem schln kaum profitabel seid.

Wir reden da auch nicht von Top Gehältern, die Top 1% in USA verdienen 200k ab Bachelor.

Da spricht auch einiges für was Du so schreibst. Viel Legacy, Euer Tech Stack scheint absurd breit, selbst für ne ganze Firma, geschweige denn für ein Team. Skaliert denn Euer Geschäftsmodell überhaupt?
 

Gustavo

Doppelspitze 2019
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@Gustavo: stimmt, ist genau einmal passiert in der Industrialisierung. Die Anzeichen sind aber die gleichen, manche Branchen sind auf einmal 10x produktiver und der Rest der Welt noch nicht. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht nach und nach alle erwischt.

Ich habe früher im Banking gearbeitet. Da wurden bisher alle die Filialen und Mitarbeiter durch komplexe IT Systeme ersetzt wurden, in die ein aberwitziger Aufwand reinfliesst und jede Bank hat ein eigenes (de facto in der Konfiguration). Ich sehe aber keinen Grund, warum man diese IT Systeme nicht auch mit 1/10 oder 1/100 der Leute betreiben könnte. Ich sehe auch nicht, warum Deutschland 1'000 Banken hat und nicht 5. Warum jede Firma eine eigene HR Abteilung hat und nicht einfach all die standardisierten Vorgänge in einer eingekauften Standardplattform durchgezogen werden. So können wir fast jedes Thema durchgehen. Das sehe ich sogar ohne AI.

Im Moment ist glaube ich die grösste Hürde Kompetenz im Arbeitsmarkt. Die Top Leute im IT Bereich gehen alle zu den Tech Firmen, die aufgrund ihrer Produktivitätssteigerung 2x-5x zahlen können. Siehe Post von Bootdiskette. Das haben wir in Deutschland halt nicht und sind deshalb in diesen Branchen nicht kompetitiv um Leute.


Das halte ich, vorsichtig gesagt, für eine deutliche Übertreibung. "Produktivität" ist in dem Fall ja einfach Bruttowertschöpfung. Solange es da aber nur um Verlagerungen geht, ergibt das als Maßstab wenig Sinn. Schau dir als Beispiel sowas wie Uber an: Vor Uber bestand das Taxi-Modell aus Fahrer und Taxizentrale. Der größte Teil des Werts verteilt sich auf die Fahrer, die Zentrale spielt nur eine organisatorische Rolle. Ubers App ersetzt die Taxi-Zentrale, hat aber ein solches Oligopol dass es eben nicht nur den Mehrwert der Taxizentralen nimmt, sondern direkt einen nicht unbeträchtlichen Teil des Fahrpreises zusätzlich, also dort wo am meisten wert generiert wird. Aber generiert Uber dadurch tatsächlich irgendeinen zusätzlichen wirtschaftlichen Wert? Nicht wirklich. Es hat sich als Mittelsmann zwischen Kunden und Taxifahrer geschaltet und schöpft jetzt ab. Gut für diejenigen die dort arbeiten, volkswirtschaftlich aber kein echter Gewinn.

Eine Produktivitätssteigerung, wie du sie dir vorstellst, setzt eine zumindest teilweise Überwindung physischer Grenzen voraus. Das geht nur, wenn der Mehrwert, den diese Firmen generieren, tatsächlich digitale Produkte sind. Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen. Google, Facebook und Tencent verkaufen hauptsächlich Werbung. Amazon (ohne AWS), PayPal, Uber, Expedia, eBay und Wayfair sind mehr oder weniger reine Mittelsmänner. Dell, Intel, Foxconn, TSMC und Samsung verkaufen hauptsächlich physische Produkte. Lediglich Microsoft, IBM, SAP, Oracle und Salesforce verkaufen im weitesten Sinne hauptsächlich digitale Produkte, hierbei allerdings hauptsächlich business solutions (Microsoft mit Abstrichen). Die im Land zu haben ist volkswirtschaftlich ein "nice to have", aber nicht spielentscheidend.

Was wir bisher sehen ist das, was der Gesamttrend zeigt: Weil immer weniger Menschen im Industriesektor gebraucht werden, wo die Produktivitätssteigerungen hoch waren, ist der Produktivitätstrend immer weiter gesunken. Was ich da oben gepostet habe ist ja nicht Deutschland, sondern die USA, die ja keine Probleme damit haben, die größten Talente anzuziehen.
Vergleich nur mal in was für einer Welt wir heute leben im Vergleich zu sagen wir mal 1993. Wenn Tech tatsächlich die Möglichkeiten hätte, die Wirtschaft so zu revolutionieren, wie du es dir vorstellst, würden wir das sehen. Wir sehen aber eher das Gegenteil. Und nur so nebenbei: Wenn wir wirklich die Art von Produktivitätswachstum sehen würden, über die du sprichst, dürfte die genauso ablaufen wie die industrielle Revolution auch: Ein einzelnen Land kann das nicht für sich alleine horten. Im Vergleich zu sowas wie Industriemaschinen lässt sich Code noch viel weniger horten.



Sie kommen von "hab keine Ahnung von der Praxis" zu "ich kenne in der Breite alles was man für end-to-end Implementierungen von ML-Projekten braucht", d.h. RDBMS (Postgres, MySQL, Oracle), NoSQL (Mongo, Graph), Airflow, RabbitMQ, Kafka, Python (pytorch, sklearn, pandas, streamlit, cython, spaCy, hf-transformers), Docker (Benutzung, build+multistage, push, prune, volumes), Kubernetes, AWS (S3, ECR, EKS, EC2, RDS), Linux (bash, ssh, termux, cron, vim), PyCharm und git (gitlab+CI/CD).
Ich denke das ist schon eine echt gute Bandbreite von Kram die man da als Junior geboten bekommt.

Jetzt nichts für ungut, aber aber bei der Breite an Kram wundert es mich kein bisschen, dass deine Werkstudenten besser passen als irgendwelche Absolventen frisch von der Uni. Schon klar, dass die Dinger alle für sich nice to haves für einen Bewerber sind, aber ich habe auch leichte Zweifel, ob deine Anforderungen wirklich so realistisch sind, wie du glaubst.
 
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Das halte ich, vorsichtig gesagt, für eine deutliche Übertreibung. "Produktivität" ist in dem Fall ja einfach Bruttowertschöpfung. Solange es da aber nur um Verlagerungen geht, ergibt das als Maßstab wenig Sinn. Schau dir als Beispiel sowas wie Uber an: Vor Uber bestand das Taxi-Modell aus Fahrer und Taxizentrale. Der größte Teil des Werts verteilt sich auf die Fahrer, die Zentrale spielt nur eine organisatorische Rolle. Ubers App ersetzt die Taxi-Zentrale, hat aber ein solches Oligopol dass es eben nicht nur den Mehrwert der Taxizentralen nimmt, sondern direkt einen nicht unbeträchtlichen Teil des Fahrpreises zusätzlich, also dort wo am meisten wert generiert wird. Aber generiert Uber dadurch tatsächlich irgendeinen zusätzlichen wirtschaftlichen Wert? Nicht wirklich.
In Deutschland generiert Uber wenig Value, weil Taxis schon zienlich gut waren.
In den USA hat Uber schon viel Wert generiert, weil viele Taxis shady waren (technisch, Verhalten).
Die Qualität ist daher in den USA gestiegen, gerade in Puncto Sicherheitsgefühl für Frauen.
Und die Produktdifferenzierung wie Sammeltaxis hat auch Wert generiert.

Damit will ich nicht sagen, dass der Anteil von Uber fair ist.
Aber dass du da schon etwas übertreibst / stark vereinfachst.

Eine Produktivitätssteigerung, wie du sie dir vorstellst, setzt eine zumindest teilweise Überwindung physischer Grenzen voraus. Das geht nur, wenn der Mehrwert, den diese Firmen generieren, tatsächlich digitale Produkte sind.
Auch hier würde ich etwas widersprechen.

Beispiel: Reisevermittlung online ist deutlich effizienter und damit produktiver als Reisebüros, eben weil diese vorher schon ein "teurer Mittelsmann" waren. Online-Reisevermittler sind gut für Konsumenten und für High-Quality Anbieter (weil diese Repeat Business & Word of Mouth haben, so dass relativ wenig über die Vermittler läuft & du relativ easy direct-to-consumer machen kannst).
Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen. Google, Facebook und Tencent verkaufen hauptsächlich Werbung.
Die Werbung ist ja nur das Revenue-Modell. Womit Google gesellschaftlichen Mehrwert & Produktivität generiert ist...
  • Suche = Kosten- & Zeitersparnis Informationsgewinnung
  • Maps = Kosten- & Zeitersparnis & Qualitätsverbesserung Navigation + Transparenz zur Qualität von Gastronomie
  • Wettbewerb im Bereich Mobile OS (Android vs iOS)
  • Wettbewerb im Bereich Office Software (Google Workspace vs MS Office)
Amazon (ohne AWS), PayPal, Uber, Expedia, eBay und Wayfair sind mehr oder weniger reine Mittelsmänner.
eBay & Classifieds allgemein steigert imo auch die Produktivität. Ist ja nicht so, dass es vorher easy war einen gebrauchten Rasenmäher zu verkaufen. Vorher musstest du recht teuer Anzeigen in Zeitungen schalten, die damit ja krasse Margen gemacht haben.

Ich will damit das ganze Zeug gar nicht heilig sprechen. Aber du unterschlägst imo wichtige Aspekte:
  • Dass es vorher offline auch teure, machtvolle Mittelsmänner gab wie Reisebüros & Zeitungen
  • Dass Zeitersparnis Produktivitätssteigernd ist, weil du die Möglichkeit hast, diese Zeit in etwas anderes zu investieren
  • Dass es indirekte Effekte wie den Qualitätsdruck auf normale Brick & Mortar Businesses gibt (bspw. Restaurants)
Demgegenüber steht natürlich die Gefahr von oligo-/monopolistischen Platformen, die zuviel Marge einstreichen.

Dell, Intel, Foxconn, TSMC und Samsung verkaufen hauptsächlich physische Produkte. Lediglich Microsoft, IBM, SAP, Oracle und Salesforce verkaufen im weitesten Sinne hauptsächlich digitale Produkte, hierbei allerdings hauptsächlich business solutions (Microsoft mit Abstrichen). Die im Land zu haben ist volkswirtschaftlich ein "nice to have", aber nicht spielentscheidend.
Du meinst, es ist ein nice-to-have, ob du Firmen wie Microsoft im Land hast oder deren Services aus dem Ausland kaufst?
Solange es nur in einigen Bereichen ist, vma.
Aber wenn wir neben Energie & Rohstoffen irgendwann auch noch 90% der Software, 90% der Hardware kaufen müssten & dazu noch mehr Entertainment im- als exportieren, dann stackt es sich schon auf. Klar, solange Deutschland's B2B-Business mit Machinery etc gut läuft, geht das. Aber es ist keine ultra-komfortable Position.

Was wir bisher sehen ist das, was der Gesamttrend zeigt: Weil immer weniger Menschen im Industriesektor gebraucht werden, wo die Produktivitätssteigerungen hoch waren, ist der Produktivitätstrend immer weiter gesunken. Was ich da oben gepostet habe ist ja nicht Deutschland, sondern die USA, die ja keine Probleme damit haben, die größten Talente anzuziehen.
Genuine Frage: Was wäre, wenn in den USA die Löhne im Service-Sektor höher wären? Also bspw. $15 Mindestlohn etc. -- würde das ggf in den Metriken nach Produktivitätswachstum aussehen? Bzw umgekehrt: Ist das Produktivitätswachstum ggf auch deshalb niedrig, weil eingesparte Arbeitskräfte in den letzten Jahrzehnten eher in geringer bezahlte Jobs gewechselt sind?
Vergleich nur mal in was für einer Welt wir heute leben im Vergleich zu sagen wir mal 1993. Wenn Tech tatsächlich die Möglichkeiten hätte, die Wirtschaft so zu revolutionieren, wie du es dir vorstellst, würden wir das sehen.
Ich finde schon, dass sich merklich viel geändert hat. Nicht so sehr im Bereich Nahrungsmittelproduktion bspw., aber wenn du "Änderung des Lebens" in "verbrachter Zeit" misst? Wieviel wir heute superflexibel Infromation + Entertainment konsumieren. Früher wäre das mit viel weniger Auswahl und/oder viel teurer und unpraktischer möglich gewesen.

Ich finde bspw. die Möglichkeit, im Flugzeug einen Film zu schauen und in der Bahn hier zu posten als sehr tangible Gewinne, was Quality of Life angeht.
 
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Eine Produktivitätssteigerung, wie du sie dir vorstellst, setzt eine zumindest teilweise Überwindung physischer Grenzen voraus. Das geht nur, wenn der Mehrwert, den diese Firmen generieren, tatsächlich digitale Produkte sind. Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen. Google, Facebook und Tencent verkaufen hauptsächlich Werbung. Amazon (ohne AWS), PayPal, Uber, Expedia, eBay und Wayfair sind mehr oder weniger reine Mittelsmänner. Dell, Intel, Foxconn, TSMC und Samsung verkaufen hauptsächlich physische Produkte. Lediglich Microsoft, IBM, SAP, Oracle und Salesforce verkaufen im weitesten Sinne hauptsächlich digitale Produkte, hierbei allerdings hauptsächlich business solutions (Microsoft mit Abstrichen). Die im Land zu haben ist volkswirtschaftlich ein "nice to have", aber nicht spielentscheidend.
Da sind wir am Kern angelangt. Freut mich, dass wir gut weiterkommen.

Meine Theorie ist, dass physische Produkte/Dienstleistungen durch digitale ersetzt werden und dadurch die physischen Grenzen überwunden werden.

Beispiele:
- Reisebüros -> booking.com, expedia, AirBnB
- Fotografie / Filmentwicklung -> Instagram & Google Photos
- Bankfilialen -> E-Banking
- Briefversand -> E-Mail
- Buchhandlungen -> E-Reader
- Videokassettenverleih -> Streaming

Die Liste kannst ausweiten, je mehr man drüber nachdenkt, desto mehr fällt einem ein. Dadurch, dass das physische Produkt durch ein digitales ersetzt wird, fällt alles weg: Vertrieb, Logistik und Produktion. Nimm Briefversand: zwischen Papier, Briefumschlag, Drucker, Briefmarken, Postfilialbetrieb, sowie der ganzen Logistik (Briefkästen, Sortiermaschinen, Lagerhallen, LKWs) => alles weg und ersetzt, auch in den Vorstufen und natürlich wieder in deren Vorstufen. Sobald E-Mails rechtssicher sind und ner Adaptionszeit wirds keine Post mehr geben. Ersetzt durch nen bissl Code, den man nur einmal schreiben muss, paar Servern und bissl Strom. Der Produktivitätsgewinn ist fast unendlich.

Ich sehe das in einer Branche nach der anderen kommen. Aus aktuellem politischem Anlass ein kontraintuitives Beispiel Starbucks. Schon in heutiger Technologie könnte man da reinlaufen, die Bestellung per Sprachsteuerung aufgeben und dann kommt ausm Vollautomaten der gleiche Kaffee raus. Namen aufn Becher schreiben und ausrufen, kriegt man mit bissl tüfteln auch noch hin. Dann braucht Starbucks nur noch Leute zum putzen: 90% des Personals eingespart bei gleichem Output. 10x Produktivitätssteigerung.

Ist das spielentscheidend, ob man diese Firmen nachher im Land hat oder von woanders einkauft? Das ist ne gute Frage. Könnte sein, dass digitale Produkte so low value werden, dass man sie nicht selbst haben muss, sondern ultra billig einkaufen kann. Ich bin intuitiv davon ausgegangen, dass man das unbedingt haben will, da man sonst komplett abgehängt wird. Vielleicht ist das aber nicht so klar, das muss ich mir nochmal überlegen.

Edit: xantos hat gepostet, während ich selbst am schreiben war. # an alles. noch ein kleiner Zusatz zu Eurer Diskussion. Gustavo, Du schaust bisher mehr darauf, was die Tech Firmen tun und wie sie Geld verdienen. Ich denke wir sollten aber wie Xantos es erwähnt, nicht vergessen, was sie beiläufig ersetzt haben. So wie Smartphones einfach mal nebenher den Markt für Taschenrechner, Wecker, Taschenlampen, Radios, Uhren, Fotokameras etc. massiv reduziert haben und langfristig abgesehen vom Luxussegment ausradieren werden.
 
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Gustavo

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In Deutschland generiert Uber wenig Value, weil Taxis schon zienlich gut waren.
In den USA hat Uber schon viel Wert generiert, weil viele Taxis shady waren (technisch, Verhalten).
Die Qualität ist daher in den USA gestiegen, gerade in Puncto Sicherheitsgefühl für Frauen.
Und die Produktdifferenzierung wie Sammeltaxis hat auch Wert generiert.

Damit will ich nicht sagen, dass der Anteil von Uber fair ist.
Aber dass du da schon etwas übertreibst / stark vereinfachst.


Na ja, das sehe ich anders, das war aber auch nicht wirklich mein Punkt. Es geht um die Produktivitätssteigerung, die Uber bisher erzielt. Wovon du redest ist nicht primär Produktivität, sondern hauptsächlich ein Gewinn an Bequemlichkeit, der dem Aufbrechen der relativ rigiden Regulierung der US-Taxibranche geschuldet ist. Ich weiß Letzteres auch zu schätzen, keine Frage (habe mich auch letztes Mal aus Philly zum JFK kutschieren lassen, statt dreimal mit dem Zug umzusteigen mit Koffern). Das macht es aber noch nicht zu einem volkswirtschaftlichen Gewinn.

Die Produktivitätssteigerung ist einerseits die bessere Routenplanung durch die App* und andererseits, dass jetzt auch Menschen ein paar Stunden die Woche Taxi fahren (oder Essen ausliefern) können, in denen sie sonst vermutlich volkswirtschaftlich weniger produktiv gewesen wären. Das ist nicht zu vernachlässigen, aber wie gesagt: Der geschaffene Wert einer Taxifahrt wird hauptsächlich aus dem Teil erzielt, zu dem Uber nichts beiträgt, nämlich der Arbeitskraft des Taxifahrers (und zu einem kleineren Teil dem Fahrzeug). Effektiv subventioniert hier der Staat (respektive die amerikanische Gesellschaft) Uber bisher massiv dadurch, gig worker von Arbeitsschutz-Maßnahmen auszunehmen.



*fairerweise muss man auch sagen, dass wegen der höheren Zahl der Fahrer die Auslastung bei Uber effektiv nur bei 60% ist, was für einen Taxifahrer ein miserabler Wert wäre


Auch hier würde ich etwas widersprechen.

Beispiel: Reisevermittlung online ist deutlich effizienter und damit produktiver als Reisebüros, eben weil diese vorher schon ein "teurer Mittelsmann" waren. Online-Reisevermittler sind gut für Konsumenten und für High-Quality Anbieter (weil diese Repeat Business & Word of Mouth haben, so dass relativ wenig über die Vermittler läuft & du relativ easy direct-to-consumer machen kannst).


Du lässt aber den "wie er es sich vorstellt"-Teil einfach hinten runter fallen. Natürlich gibt es Branchen, in denen man Effizienzgewinne hat, aber auch hier gilt: Der Wert einer Reise ist nur zu einem Bruchteil die Vermittlung. Wirkliche Produktivitätsschübe sind dadurch, einen relativ unproduktiven und doch auch recht überschaubaren Teil der Wertschöpfungskette wegzurationalisieren, nicht zu erwarten. Um tatsächlich Produktivitätsschübe zu erreichen, wie er sie sich vorstellt, müsstest du Wege finden tatsächlich deutlich mehr Wirtschaftstätigkeit zu generieren, nicht einfach denselben Service mit weniger Arbeitskräften anzubieten, weil man die Vermittlerfunktion digitalisiert. Das hat zwar auch einen Wert, passiert allerdings analog im Servicesektor durch Standardisierung seit jeher, weshalb der Produktivitätstrend der Gesamtwirtschaft eben aussieht, wie er aussieht. Reisebüros sind natürlich prädestiniert dafür, "disrupted" zu werden, weil es für die Kunden ein Mehrwert ist, sich ihre Reisen selbst zusammenstellen zu können (außerdem gibt es in Deutschland aus unerfindlichen Gründen viel zu viele Kleinunternehmen).




Die Werbung ist ja nur das Revenue-Modell. Womit Google gesellschaftlichen Mehrwert & Produktivität generiert ist...
  • Suche = Kosten- & Zeitersparnis Informationsgewinnung
  • Maps = Kosten- & Zeitersparnis & Qualitätsverbesserung Navigation + Transparenz zur Qualität von Gastronomie
  • Wettbewerb im Bereich Mobile OS (Android vs iOS)
  • Wettbewerb im Bereich Office Software (Google Workspace vs MS Office)

eBay & Classifieds allgemein steigert imo auch die Produktivität. Ist ja nicht so, dass es vorher easy war einen gebrauchten Rasenmäher zu verkaufen. Vorher musstest du recht teuer Anzeigen in Zeitungen schalten, die damit ja krasse Margen gemacht haben.

Ich will damit das ganze Zeug gar nicht heilig sprechen. Aber du unterschlägst imo wichtige Aspekte:
  • Dass es vorher offline auch teure, machtvolle Mittelsmänner gab wie Reisebüros & Zeitungen
  • Dass Zeitersparnis Produktivitätssteigernd ist, weil du die Möglichkeit hast, diese Zeit in etwas anderes zu investieren
  • Dass es indirekte Effekte wie den Qualitätsdruck auf normale Brick & Mortar Businesses gibt (bspw. Restaurants)
Demgegenüber steht natürlich die Gefahr von oligo-/monopolistischen Platformen, die zuviel Marge einstreichen.


Es geht mir nur darum, dass man nicht "gesellschaftlicher Mehrwert" und "Produktivität" miteinander vermischt. Der gesellschaftliche Mehrwert ist zweifellos vorhanden und groß, aber man sollte sich halt auch keine Illusionen machen, woraus er besteht. Hätte man jemandem vor 40 Jahren gesagt, dass man in der Zukunft so gut wie jede Information abrufen und fast alles was man möchte online lernen kann, hätte derjenige vielleicht auch vermutet, dass das zu riesigen Produktivitätssprüngen führen könnte. Die Wahrheit ist aber, dass die Verfügbarkeit dieser Informationen nur zu einem Bruchteil zu volkswirtschaftlich produktiver Tätigkeit genutzt wird und zu einem großen Teil für "leasure" (was ja auch völlig ok ist).
Unser Leben ist bequemer als das vor 30 Jahren, klar, aber man sollte auch nicht überschätzen wie groß die Sprünge früher waren (bis auf die industrielle Revolution, die tatsächlich qualitativ und quantitativ etwas anderes war als alles vorher und nachher). Ha-Joon Chang hat mal das etwas trollhafte Argument gemacht, dass Waschmaschinen das Leben des durchschnittlichen Haushalts mehr verändert haben als das Internet. Das kann man jetzt glauben oder nicht, aber alleine dass das Argument halbwegs sinnvoll gemacht werden ist schon bemerkenswert. Krugman hat neulich dasselbe Argument gebracht: https://www.nytimes.com/2023/04/04/opinion/internet-economy.html


Man sollte auch nicht ganz unter den Tisch fallen lassen, dass diese Produktivitätsgewinne zu unschönen Nebeneffekten führen. Der monopolistische Aspekt ist sicher der größte, der auch zu ungünstigen Verteilungseffekten führt. Dazu werden halt auch Industrien "disrupted", die man vielleicht besser unbeschadet geblieben wären: Es ist zwar schön, dass man in den USA heute seinen Rasenmäher viel einfacher verkaufen kann als vor 25 Jahren, dafür ist Lokaljournalismus aber am Aussterben.


Du meinst, es ist ein nice-to-have, ob du Firmen wie Microsoft im Land hast oder deren Services aus dem Ausland kaufst?
Solange es nur in einigen Bereichen ist, vma.
Aber wenn wir neben Energie & Rohstoffen irgendwann auch noch 90% der Software, 90% der Hardware kaufen müssten & dazu noch mehr Entertainment im- als exportieren, dann stackt es sich schon auf. Klar, solange Deutschland's B2B-Business mit Machinery etc gut läuft, geht das. Aber es ist keine ultra-komfortable Position.


Na ja, letztendlich wird es wohl darauf hinauslaufen, dass umso größer der Anteil der Tech-Branche an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung ist, umso weniger Staaten es sich gefallen lassen können und werden, wenn Gewinne, die durch Verkäufe im Inland erwirtschaftet werden, nicht auch dort versteuert werden. Aber zuerst mal müssten digitale Produkte für Endverbraucher tatsächlich ein größerer Teil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sein.

Dasselbe Problem hast du ja btw auch innerhalb der Staaten selbst: Umso mehr Profit du erzielen kannst, weil du mit zwar hochbezahlten, aber quantitativ doch einer überschaubaren Zahl von Leuten, die sich um Software kümmern, auskommst um deine Produkte zu entwickeln und pflegen, umso stärker wird der Druck auf Staaten werden, diese Gewinne anders zu besteuern und die gig worker arbeitsrechtlich besser zu schützen und die Plattformen härter zu reglementieren. Die USA sind dafür natürlich ground zero, weil dort die politische Ökonomie ohnehin schon so sehr zugunsten der wohlhabenderen Bevölkerung ausfällt, aber selbst dort merkt man langsam Widerstand. Da sehe ich auch teilweise durchaus negativen gesellschaftlichen Nutzen. Das ist kein reines Tech-Phänomen (subcontracting ist in den USA schon lange profitabel und ein Problem), aber es ist im letzten Jahrzehnt schon deutlich schlimmer geworden.

Genuine Frage: Was wäre, wenn in den USA die Löhne im Service-Sektor höher wären? Also bspw. $15 Mindestlohn etc. -- würde das ggf in den Metriken nach Produktivitätswachstum aussehen? Bzw umgekehrt: Ist das Produktivitätswachstum ggf auch deshalb niedrig, weil eingesparte Arbeitskräfte in den letzten Jahrzehnten eher in geringer bezahlte Jobs gewechselt sind?


Nicht direkt, aber vermutlich indirekt, weil dann weniger produktive Stellen wegfallen würden und Arbeitnehmer in einem heiß gelaufenen Arbeitsmarkt auf produktivere Stellen wechseln würden. Andererseits könnte es auch sein, dass Leute dann prinzipiell weniger arbeiten wollen. $15 wäre btw in Teilen des Landes wohl eindeutig zu hoch, wobei der aktuelle Mindestlohn von $7,25 vermutlich überall zu niedrig ist. Aber solange die Republikaner jegliche Anhebung auf Bundes- wie Landesebene verweigern bleibt das eh Makulatur.
 
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@Gustavo: Ich bin mir nicht sicher, ob ich deinen Begriff der Produktivität richtig verstehe.
Für mich ist Zeitersparnis für potentiell arbeitende Menschen direkt ein Produktivitätsgewinn.
Nur weil sie das dann nicht produktiv nutzen, sondern für Freizeit einsetzen, ändert doch daran nichts.

Wenn bspw. durch Booking.com viele Reisebüros unnötig werden & insgesamt deutlich weniger human touch für die Vermittlung nötig ist, so werden viele Arbeitskräfte frei. Für mich ist das Produktivitätsgewinn, auch wenn wir zunächst nicht wissen, was diese Arbeitskräfte nun machen.

Eine Waschmaschine wäre sonst ja auch u.U. kein Produktivitätsgewinn wenn (plakativ) die Hausfrau potentiell die Mehrzeit in Freizeit oder (schwer messbare) Kindererziehung steckt.

Viele andere Aspekte sind schwerer zu messen bzgl. Produktivität.

Wenn ich bspw. jetzt weltweit Computerspiele & "TV"-Serien vertreibe, so habe ich damit viel mehr Entertainment mit lokal geringem Personalaufwand. Schwer das als Produktivität zu quantifizieren, weil nicht direkt klar ist, was freigesetzt wird & weil teilweise einfach neue Bedürfnisse geschaffen wurden.

Oder wenn durch das Internet es nun möglich ist, sich selbst mit viel weniger "human touch" durch Lehrkräfte zu einem produktiven Programmierer weiterzubilden. Dann ist das für mich ein Produktivitätsgewinn im Bildungssystem & für die Gesellschaft, aber ich sehe ein dass man auch dies schwer quantifizieren kann.

Sprich: Ich glaube, dass es eine Menge indirekte und versteckte Produktivitätsgewinne gibt, die dann zu Teilen in neu geschaffene Bedürfnisse & Freizeit gesteckt wurden.
 
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Danke Euch für diese selten konstruktive Diskussion. Ich hatte gerade eine erhellende Erkenntnis, die mir irgendwie in 10 Jahren VWL entgangen ist. Wirtschaftsleistung/Produktivität hängt viel mehr am Preis als an sonst etwas.

Arbeitsproduktivität = Wirtschaftsleistung / Arbeitszeit = Preis * Menge / Arbeitszeit.

Gustavo, siehst Du das auch so in dieser simplistischen Form oder hast Du ne andere Definition?

Der Preiseffekt zieht das bei digitalen Gütern ins absurde. Wenn die Produktivität zu stark steigt, fällt der Preis irgendwann auf Nahe Null und dann knallts uns das trotz hoher Menge bei geringer Arbeitszeit aus den Statistiken.

Nehmen wir als Beispiel Enzyklopädien. Früher hatte jeder gebildete Haushalt eine, aber die anderen nicht, da die Dinger sauteuer waren. Aufwand für Recherche, Druck, Vertrieb war riesig.

Also früher: kleine Menge * hoher Preis / viel Arbeitszeit = durchschnittliche Produktivität

Heute, dank Wiki. Leute machen es freiwillig, also: riesige Menge * 0(Preis) / 0(Arbeitszeit) = ?
Die Produktivität ist undefiniert, die Wirtschaftsleitung ist 0, da es so unfassbar produktiv ist, dass es umsonst wurde.

Wäre Wiki damals anders abgebogen und sie hätten jetzt 100m Abonnenten, die je 100 Euro zahlen, mit nem Haufen bezahlter Editoren dahinter, hätten wir jetzt 10bn Wirtschaftsleistung und einen riesigen gemessenen Produktivitätsgewinn.

@Gustavo: wie siehst Du das? Ist die Produktivität bei der Erstellung von Enzyklopädien gestiegen oder gefallen? Wenn Wiki jetzt nen Abopreis einführt und 1% der User das abschliessen, steigt oder sinkt die Wirtschaftsleistung.

ich denke nämlich genau da ist wo wir uns drum drehen. Ich sage die Produktivitätsgewinne sind riesig und Du sagst, ich sehe sie nicht in den Daten. Absurderweise haben wir beide recht.

ich finde das Beispiel der Enzyklopädien bringt es etwas besser auf den Punkt als die Reisevermittlung, da letztere nur so eine Vermittlungsfunktion haben und Gustavo schon recht hat, dass der Mehrwert sich relativ zu den Reisekosten in Grenzen hält. Enzyklopädien waren aber wirklich einmal ein physisches Endprodukt an sich.
 
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Gustavo

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@Gustavo: Ich bin mir nicht sicher, ob ich deinen Begriff der Produktivität richtig verstehe.
Für mich ist Zeitersparnis für potentiell arbeitende Menschen direkt ein Produktivitätsgewinn.
Nur weil sie das dann nicht produktiv nutzen, sondern für Freizeit einsetzen, ändert doch daran nichts.


Versteh mich nicht falsch, das ist ja die Definition eines Produktivitätsgewinns. Es ist auch gar nicht mein Punkt, dass Digitalisierung und eine weltumspannende Kommunikationsplatform wie das Internet da nichts hergibt. Ich bin bloß extrem skeptisch, sich die Entwicklung anzuschauen wie die Grafik von @TealC (die ursprünglich von Ian Hathaways Blog stammt) es tut und das zu extrapolieren.
Produktivitätssteigerungen können ja prinzipiell in allen Teilen der Wertschöpfungskette anfallen, aber klassischerweise denken wir ja bei Produktivitätssteigerung an "Arbeitskraft produziert durch technischen Fortschritt mehr eines bestimmten Gutes/einer bestimmten Dienstleistung in ihrem Job."
Bei den Geschäftsmodellen der meisten Tech-Unternehmen ist es aber (mit Ausnahmen natürlich) gar nicht so, dass das Produkt oder die Dienstleistung zwingend "produktiver" erzeugt wird, es geht "lediglich" um den Vertriebsweg. Solange man keine materiellen Güter oder person-to-person Dienstleistungen verkauft wie bspw. Google oder Facebook ist das natürlich quasi die gesamte Wertschöpfung, insofern ist das dann natürlich produktiver, weil man einerseits den Lieferweg quasi automatisiert (niemand muss mehr aufwendig einzelne Announcen schreiben, bei einem Medium schalten lassen etc.) und andererseits effizienter ist, da man die Werbung genauer auf den Rezipienten zuschneiden kann.

Aber das ist halt ein eher kleiner Teil der Wertschöpfung in einer Volkswirtschaft. Die richtig großen Brocken sind und bleiben wohl bis auf Weiteres materielle Güter und person-to-person Dienstleistungen. Materielle Güter sind bisher nur zu einem ganz kleinen Teil durch digitale Güter substituierbar (man denke an sowas wie eBooks) und person-to-person Dienstleistungen wird man sehen müssen, aber bisher hat sich da noch nicht so viel getan. Ersetzt werden dementsprechend relativ unproduktive Jobs im Vertrieb von Produkten, die jetzt keine riesigen neuen Produktivitätspotenziale freisetzen. Das bietet alles durchaus eine Steigerung an Lebensqualität, aber man sollte sich davon jetzt auch keine Wunder versprechen.
Gleichzeitig ist das allerdings auch der Grund, warum ich jetzt nicht wahnsinnig besorgt bin, dass Europa den USA im Tech-Sektor hinterher hinkt. Die immateriellen Gewinne an Lebensqualität kriegen wir ja durchaus auch ohne dass diese Unternehmen europäisch sind. Und politökonomisch sind die Dinger gar nicht so toll, weil sie eben doch relativ wenige Leute anstellen und dementsprechend relativ wenige Leute davon profitieren (dafür allerdings einige wenige extrem). Imho wird sich da viel verrückt gemacht wegen etwas, was bei genauerer Betrachtung zumindest ökonomisch doch sehr viel mehr verspricht, als es bisher hält. Vielleicht sieht das in ein paar Jahren anders aus, wenn LLMs tatsächlich person-to-person Dienstleistungen ersetzen können. Aber dann wird man vor diese Technologie auch kein US-amerikanisches Schloss setzen können, genau wie die Briten die Technologie der industriellen Revolution nicht auf ihrer Insel einschließen konnten.



@Gustavo: wie siehst Du das? Ist die Produktivität bei der Erstellung von Enzyklopädien gestiegen oder gefallen?

ich denke nämlich genau da ist wo wir uns drum drehen. Ich sage die Produktivitätsgewinne sind riesig und Du sagst, ich sehe sie nicht in den Daten. Absurderweise haben wir beide recht.

ich finde das Beispiel der Enzyklopädien bringt es etwas besser auf den Punkt als die Reisevermittlung, da letztere nur so eine Vermittlungsfunktion haben und Gustavo schon recht hat, dass der Mehrwert sich relativ zu den Reisekosten in Grenzen hält. Enzyklopädien waren aber wirklich einmal ein physisches Endprodukt an sich.

Im Prinzipiell sitzen wir glaube ich im selben Boot. Nur Wikipedia ist jetzt vielleicht kein so gutes Beispiel weil die ja kollaborativ entsteht, d.h. du hast viel mehr "Mitarbeiter".
 
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Die Liste kannst ausweiten, je mehr man drüber nachdenkt, desto mehr fällt einem ein. Dadurch, dass das physische Produkt durch ein digitales ersetzt wird, fällt alles weg: Vertrieb, Logistik und Produktion. Nimm Briefversand: zwischen Papier, Briefumschlag, Drucker, Briefmarken, Postfilialbetrieb, sowie der ganzen Logistik (Briefkästen, Sortiermaschinen, Lagerhallen, LKWs) => alles weg und ersetzt, auch in den Vorstufen und natürlich wieder in deren Vorstufen. Sobald E-Mails rechtssicher sind und ner Adaptionszeit wirds keine Post mehr geben. Ersetzt durch nen bissl Code, den man nur einmal schreiben muss, paar Servern und bissl Strom. Der Produktivitätsgewinn ist fast unendlich.

Unabhängig von dem Produktivitätsbegriff sollte man generell vorsichtig sein, die Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung zu übertreiben. Deine Beispiele sind gut, weil sie tatsächlich verschiedene physikalische Prinzipien ersetzen und vereinfachen. Allerdings nicht nur, denn es werden nicht nur weniger / kaum Briefe verschickt, dafür ist die Zahl der Pakete extrem gestiegen. Es gibt also nicht zwingend weniger Logistik, nur andere Logistik. Die ist faktisch effizienter geworden, aber auf mittelfristige Sicht nicht wegzudenken. Ich kann mir noch vorstellen, dass man mehrere LKWs statt nur einem fährt, das eventuell sogar noch remote, aber gefahren werden muss das Zeug trotzdem. Es wird immer einen Punkt geben, an dem die Einsparung von Kosten durch Digitalisierung / Standardisierung den Mehrwert an Effizienz oder Bequemlichkeit übersteigt. Und der ist aktuell noch relativ nah an dem Punkt, an dem die menschliche Arbeitskraft einfach billiger ist. Siehe:

Ich sehe das in einer Branche nach der anderen kommen. Aus aktuellem politischem Anlass ein kontraintuitives Beispiel Starbucks. Schon in heutiger Technologie könnte man da reinlaufen, die Bestellung per Sprachsteuerung aufgeben und dann kommt ausm Vollautomaten der gleiche Kaffee raus. Namen aufn Becher schreiben und ausrufen, kriegt man mit bissl tüfteln auch noch hin. Dann braucht Starbucks nur noch Leute zum putzen: 90% des Personals eingespart bei gleichem Output. 10x Produktivitätssteigerung.
Ja, natürlich, könnte man. Fraglich ist, wie gut das umsetzbar ist, klingt alles immer so einfach. Die Maschinen müssen auch gewartet werden, vma. natürlich top-effizient mit predicitve maintenance. Trotzdem werden die ausfallen und dann wird erstmal nichts verkauft, weil es nicht möglich ist. Stünde da jetzt eine 0815-Person, könnte man zur Not die Maschine mit einer Filtermaschine ersetzen und den Ausfall etwas mindern. Nur als Beispiel. Oder - auch top-modern - mit Lehrvideo und/oder AR/VR-Brille die Reparatur remote / alleine coachen. Nur braucht es die Person und die Anleitungen und das Equipment. Keinen Peil wie viel so was kostet, wahrscheinlich doch mehr, als jemand Angelerntes mit einer ausgedruckten Anleitung und etwas Erfahrung.
Dazu wird es immer Kunden geben, die zu dumm zum scheißen sind. Meine Nahfeldempirie unterstellt auch, dass Leute, die auf Marken wie Starbucks oder Apple "schwören", überzufällig häufig DAU sind. So ganz ohne Ansprechpartner vor Ort ist es erfahrungsgemäß schwierig, siehe Selbstzahlkassen bei IKEA oder Supermärkten. Auf sechs solcher Kassen steht meist mit Grund eine Person und fängt die Kunden zur Not ab. Und die Person hat was zu tun.
Am Schluss müsste man noch abwägen, ob man durch die ganze Technologie überhaupt deutlich mehr Kaffee (oder welches Getränk auch immer) verkaufen würde. Wie etwa bei den Selbstzahl-Kassen. Wahrscheinlich nicht, es gibt eine natürliche Obergrenze an Kunden und deren Kaufkraft. Demgegenüber (dem Mehrgewinn) stehen die Kosten der Einführung und Wartung der Technologie, sowie dem Risiko, dass die Technologie zu anfang Kundengruppen verprellt. Fairerweise aber auch Kunden gewinnen könnte.
Jetzt mal ganz, ganz dumm: Das, was du beschreibst, nennt sich Kaffeeautomat und steht an Bahnsteigen, in Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen. Wäre dieses System das Optimum gäbe es schon mehr Ketten, die nur so etwas als Café anbieten. Das hat sich wohl nicht flächendeckend durchgesetzt.

Ich war auch mal total begeistert von dem ganzen KI/Automatisierungskram, bzw. bin es noch. Nur etwas realisitischer. Ich hatte schon Einblick in diverse Werke des Maschinenbaus / Automotive. Dort wird sehr genau geschaut, was man automatisieren kann und tut das auch recht schnell. "Leider" sind es meist viele einfache Tätigkeiten, die dann doch nicht so easy ablösbar sind. Das Leider in Anführungszeichen, da es schon gut ist, dass es einfache Tätigkeiten gibt.

Imo ist das große Potenzial an Mehrwert v.a. im Abfangen des demographischen Trends. Personen werden durch Digitalisierung eingespart, allerdings meist in der Zukunft.
Kritisch wird's erst, wenn das wirklich eine Branche zerstört, denkbar gutes Beispiel dürften Drucker im Verlagswesen sein. Da glänzen wir aktuell kaum, diese Leute auch schnell anders unterzubringen. Andererseits kenne ich generell kein Land, das lebenslanges Lernen gut und sozial verträglich verankert.

Spätestens hier wären wir an dem Fachkräftethema, aber das ist ja mittlerweile ausgegliedert. Also kA, ob man es hier diskutieren müsste.
 
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@Gustavo richtig, in vielen sehr wichtigen Bereichen bringt die Digitalisierung bisher nicht soo viel. Gute Beispiele wären denke ich Wohnen, Wärme, Strom und Lebensmittel, die ja sehr relevante Bereiche gerade für den normalen Bürger darstellen.

Mein Punkt ist, dass es aber in den Betrieben Dienstleistung, Bildung und Entertainment krasse Veränderungen und Verbesserungen gab, die teils sehr schwer als Produktivitätsgewinn zu quantifizieren sind.

D.h. dass traditionelle Metriken den positiven Impact der Digitalisierung understaten.
 
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Beim Wohnen könnten wir das ja easy-peasy ändern mit staatlich verordneter Wohnraumallokation. :deliver:
 
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@Gecko: stimme Dir in der Praxis völlig zu. das ist nicht so einfach. ich denke auch einfach in längeren Zeiträumen. Auf Jahrzehnte gesehen werden sicherlich viel weniger Leute im Ausschank von Getränken oder in der Logistik arbeiten => bei gleichzeitiger Erhöhung des Konsums.

Ich sehe das Zielbild in der StarTrek Ökonomie. Für alles physische spricht man in Replikator und dann kommt raus was man will, für Entertainment geht man aufs Holodeck und für Transport läuft man in nen Raum, sagt wo man hinwill und Zack ist man hingebeamt (ok, das vielleicht nicht in Nullzeit, aber abgesehen davon schon)

Alle haben alles, keiner muss dafür arbeiten und spannenderweise findet keine messbare Wirtschaftsleistung mehr statt, da niemand etwas bezahlt.
 
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Einen Produktivitätssprung wie ihn die industrielle Revolution gebracht hat, halte ich zumindest kurzfristig für unrealistisch, aber auch die industrielle Revolution hat ihre Wirkung über Jahrzehnte, wenn nicht sogar 150 Jahre entfaltet.


1800 waren 62% der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig. Dieser Anteil ist durch Mechanisierung auf heute 2% gesunken, bei gestiegenem Flächenertrag.

Heute ist die Arbeitswelt nicht mehr so homogen, was für enorme Entwicklungssprünge müsste man machen, um 60% der arbeitenden Bevölkerung zu ersetzen?
Aber wenn man sich die Entwicklung in der Statistik oben anschaut, sieht man, dass diese Entwicklung von 62 auf 2% fast 200 Jahre gedauert hat. Wenn ich mir dann vorstelle, was vielleicht in 200 Jahren so alles durch KI und Robotik möglich ist, dann will ich nicht ausschließen, dass es eine ähnliche Entwicklung geben wird.
Der Mensch arbeitet dann vielleicht noch 15 Stunden die Woche, den Rest machen Maschinen.
 
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Gustavo

Doppelspitze 2019
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Mein Punkt ist, dass es aber in den Betrieben Dienstleistung, Bildung und Entertainment krasse Veränderungen und Verbesserungen gab, die teils sehr schwer als Produktivitätsgewinn zu quantifizieren sind.

D.h. dass traditionelle Metriken den positiven Impact der Digitalisierung understaten.

Na ja, Dienstleistungen sind zwei Drittel der gesamten Wirtschaft. Wenn sich da im Großen und Ganzen schon so viel getan hätte, würde man es in den Statistiken sehen.

Bei Bildung bin ich mir da auch nicht so sicher ehrlich gesagt: Man hat heute natürlich die Möglichkeit, sich alles mögliche selbst über Onlinekurse beizubringen. Aber ob so viel mehr Leute als vor 20 Jahren das tatsächlich nutzen oder ob wir nicht nur 5000% mehr Leute haben, die 15 Studen Duolingo-Spanisch gelernt und irgendein unnützes MOOC-Zertifikat ("Scrum-Master") gemacht haben ist mir momentan noch nicht so klar. Viele der Segnungen des Internets sind imho relativ abstrakt und es ist nicht ganz klar, ob der Flaschenhals nicht wir sind. Beim Entertainment erwarte ich tatsächlich noch das meiste, weil das wahrscheinlich am besten skaliert. Bin ganz wie saistaed darauf gespannt, wann AI endlich gut genug ist, damit Spiele dauerhaft reizvoll bleiben, nur dass ich keine Kinder habe, die mich dabei stören würden. :ugly:




@Mackia: Ich störe mich hauptsächlich an den Leuten die denken, dass das alles in 20 Jahren funktionieren könnte. Wie die Welt in 200 Jahren aussieht kann und will ich mir kaum vorstellen. Selbst wenn der Sprung nicht mehr so groß ist wie der Sprung von 1823 zu 2023 wäre es immer noch weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Ich hoffe mal für unsere Ur-Ur-Enkel, dass man bis dahin tatsächlich auch keine 15 Stunden pro Woche mehr arbeiten muss.
 
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Na ja, Dienstleistungen sind zwei Drittel der gesamten Wirtschaft. Wenn sich da im Großen und Ganzen schon so viel getan hätte, würde man es in den Statistiken sehen.
nein, es hat sich extrem viel getan und es tut sich gerade ultra viel. man sieht es in den Statistiken aber nicht, da es durch die niedrigeren Preise verschwindet und nicht mehr messbar ist. die Statistiken sind vielleicht nicht falsch, aber sie zeigen nicht was sich tut


lasst uns an unsere eigene Erfahrung denken. wir sind jetzt alle um die 40. Vor 30 Jahren, wie hatten es unsere Eltern mit 40 im Jahr 1990? Bei mir ist alles anders als es bei meinen Eltern war. Wie ich arbeite, wie ich einkaufe, was ich konsumiere, wie ich es konsumiere, wofür ich wie viel Geld ausgebe. Deine Statistiken sagen alles ist in etwa gleich geblieben, nichts hat sich gross geändert, für mich ist aber fast alles anders. Klar, es gibt ein paar Bereiche die noch weniger betroffen sind, allen voran Wohnen, aber zu behaupten es würde sich nicht viel tun, da irgendne VWL Statistik die Veränderung nicht zeigt, die wir alle tagtäglich spüren, ist doch absurd.


@Bildung
Da passiert ultra viel. Duolingo und MOOC sind aber die weniger relevanten Beispiele. Ich bin seit ein paar Jahren selbstständig und habe mir im IT, Arbeitsrecht oder Steuerwesen ultra viel Online reingezogen und beigebracht. Die Quellen sind total heterogen von Youtube, über Foren, zu Online Kursen oder Fachartikeln. Bildung/Ausbildung ist es am Ende trotzdem. Ich erwerbe das Wissen jetzt halt nicht in einer 3-jährigen Ausbildung oder Studium und nicht entlang der klassischen Fachgrenzen. Trotzdem kann ich es in meinen spezifischen Fällen sogar mit einem Steuerberater nach 10 Jahren Ausbildung aufnehmen. Ich habe letztes Jahr dann zwei getroffen, um zu schauen, ob ich alles richtig optimiere und was die mir erzählten, wusste ich alles schon.

Wegen Duolingo, das ist vemutlich egal, aber Netflix Einfluss auf die globalen Englischkenntnisse ist sicherlich riesig.

Auch das ist halt alles kein Meter messbar. Zumal auch noch die Grenzen völlig verschwimmen zwischen Arbeit, Ausbildung und Entertainment. Das ist bei Wiki auch so, ist das Arbeit oder Freizeit? Und wenn man Fotos auf Insta postet? Wenn man am Wochenende ne Open Source Library entwickelt?
 
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Gustavo

Doppelspitze 2019
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Habe den Artikel nicht gelesen, aber: Mutmaßlich bezieht sich das auf folgende Studie.

bcg.png

Siehe da: Trotz konstantem Gejammer (nicht zuletzt von der Welt) sieht Deutschland dann doch attraktiver aus als kolportiert wird.


€dit: Interview aus der FAZ mit der Vorstandsvorsitzenden von Trumpf

Sind die Unternehmen selbst schuld an der oben genannten Skepsis der Politik? Es kam ja viel zusammen: Dieselskandal, Cum-Ex, Wirecard, diverse Kartelle.


Natürlich tragen diese Skandale zu einem Misstrauen bei. Wir müssen sie im Eigennutz darum konsequent ahnden. Aber will man deshalb ein insgesamt funktionierendes System schwächen? Die allermeisten Unternehmen arbeiten vorbildlich, engagieren sich, betrügen nicht. Schwarze Schafe gibt es in jeder Berufsgruppe. Es gibt auch Ärzte, die minderwertige Implantate einsetzen. Sind deshalb alle Chirurgen Verbrecher? Ich verstehe die Reaktionen der Öffentlichkeit in solchen Momenten. Aber sie sind stark eingeschränkt, denn grob fehlerhaft verhalten sich die allerwenigsten.


Warum entsteht dann dieses Bild?


Das liegt an der zugespitzten medialen Aufmerksamkeit für Skandale und Verfehlungen, der Genugtuung, dass auch andere nicht perfekt sind, wie man selbst. Und vielleicht auch an manchem Journalisten, der wirtschaftskritisch ist und mit Vorliebe das übernimmt, was zur eigenen Ideologie passt. Die Familienunternehmer müssen mehr an die Öffentlichkeit. Aber viele haben schlechte Erfahrungen gemacht. In Talkshows geht man überhaupt nicht mehr. Das ist nicht selten, als würde man im Kolosseum dem Publikum zum Fraß vorgeworfen.


Der nachlassende Einfluss der Wirtschaft reicht schon länger zurück. Hat die CDU überhaupt noch einen Wirtschaftsflügel?


Der Mittelstand hat eine Stimme. Aber insgesamt hat der frühere Anspruch, die prägende Wirtschaftspartei in Deutschland zu sein, stark gelitten. Quereinsteiger sind überdies rar.


Lol, die Ansprüche dieser Leute. Nicht nur wollen sie dass ihre Partikularinteressen vertreten sind, am besten möge dies doch unwidersprochen passieren.
 
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Gustavo

Doppelspitze 2019
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Hier mal noch was anderes, was ich interessant fand: https://archive.is/JAaDj#selection-4833.0-4833.7

SPIEGEL: Wie könnte die Chancengerechtigkeit gefördert werden?
Wößmann: Dass der Schulerfolg von der sozioökonomischen Herkunft abhängt, ist leider in allen Ländern so. Aber in Deutschland ist dies besonders ausgeprägt. Studien legen als einen möglichen Grund nahe, dass wir Kinder in der Regel nach der 4. Klasse, also früher als fast alle anderen Länder, auf verschiedene Schulformen aufteilen. Da müssten wir ran, aber das ist ein Thema, das in Deutschland absolut nicht diskutiert werden kann.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Wößmann: Wir müssen Gelder nicht wie bisher meist nach dem Gießkannenprinzip verteilen, sondern vermehrt in benachteiligte Kinder und sogenannte Brennpunktschulen investieren. Das Gute ist: Es gibt sehr viel Forschung, die zeigt, dass benachteiligte Kinder extrem gut gefördert werden können und wirklich besser werden. Man muss es nur wollen und machen.

SPIEGEL: Genau das ist der Ansatz des Startchancen-Programms, mit dem Bund und Länder 4000 Schulen in sozial herausfordernder Lage fördern wollen.
Wößmann: Wenn es so kommt, wäre das der richtige Ansatz. Aber noch ist unklar, wie das Geld genau verteilt werden soll. Und das Programm allein reicht bei Weitem nicht. Man müsste es vervielfachen. Dass wir insgesamt so wenig vorankommen, liegt auch am deutschen Bildungsföderalismus. Dass 16 Bundesländer im Großen und Ganzen ihre eigene Bildungspolitik machen, ist anachronistisch. Dadurch wird Bildung nie ein nationales Thema, und es gibt nie die eine Person, die verantwortlich ist und nachhaltige Reformen auf den Weg bringen kann.


Interessanter Teil hervorgehoben. Ich kenne mich mit Bildungsökonomie nicht aus, aber ich kenne Wößmann und er weiß wovon er spricht. Was da an ROI für staatliche Investitionen liegen gelassen wird ist wohl ziemlich kriminell.
 
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Sagen die Praktiker (Lehrkräfte & Erzieher) vor Ort schon seit Jahren. An jeder Brennpunktschule fehlt es an allen Ecken und Enden: Geld, Lehrpersonal, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen, Inklusionshelfer, psychische Beratungsangebote vor Ort. Das gepaart mit einer verpflichtenden Kitazeit (mind. 1 Jahr), würde uns dort nach vorne bringen.
 
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Das ist für mich so ziemlich das größte Aufregerthema, seit ich politisch denken kann. Alle reden über Bildung, alle mögen Bildung, alle wissen, dass Bildung ungeheuer wichtig ist, zusätzliche Investitionen in Bildung würden uns langfristig reicher, nicht ärmer machen. Trotzdem investieren wir zu wenig in Bildung. Wtf?

Fairerweise muss ich sagen, dass wir imo - gerade von links - nach dem PISA-Schock viel zu viel Systemdiskussion geführt haben. Diese ewige Leier, Talkshow um Talkshow, Feuilleton-Artikel und Feuilleton-Artikel, wie geil Finnland ist, wie lange die Grundschule gehen soll, Gymnasium ja oder nein, Bologna, G8 usw. hat völlig den Blick aufs Wesentliche verstellt: Wie stellen wir in diesem föderalistischen Kackstaat sicher, dass die Schulen genug Personal und genug Geld haben, um zu tun, wozu sie da sind? Das bedeutet unter begrenzten Mitteln logischerweise, dass für Schüler mit schlechten Voraussetzungen mehr Geld da sein muss als für welche mit guten.

#100MilliardenSondervermögenFürBildung

Und weil wir das alles nicht geschissen kriegen, werde ich meinen Sohn nächstes Jahr auf ne Privatschule schicken - danke für nichts, Deutschland. :troll:
 
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Gustavo

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Sagen die Praktiker (Lehrkräfte & Erzieher) vor Ort schon seit Jahren. An jeder Brennpunktschule fehlt es an allen Ecken und Enden: Geld, Lehrpersonal, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen, Inklusionshelfer, psychische Beratungsangebote vor Ort. Das gepaart mit einer verpflichtenden Kitazeit (mind. 1 Jahr), würde uns dort nach vorne bringen.

Na ja, alle Praktiker sagen immer "mehr Geld zu uns, bitte", das finde ich erst mal nicht überraschend. Ich war hauptsächlich überrascht weil es auch viel Literatur gibt, die alle möglichen Förderprogramme (nicht nur für leistungsschwache Schüler) empirisch untersucht und dann zeigt, dass die letzten Endes sehr geringe (dauerhafte) Erfolge erzielen. Aber das war eher mein Laieneindruck (und basiert auch viel auf US-Kram, den man wohl nicht 1:1 vergleichen sollte) und Wößmann hat über den Kram mehr vergessen als ich je wusste, insofern macht mich das deutlich zuversichtlicher.


Fairerweise muss ich sagen, dass wir imo - gerade von links - nach dem PISA-Schock viel zu viel Systemdiskussion geführt haben. Diese ewige Leier, Talkshow um Talkshow, Feuilleton-Artikel und Feuilleton-Artikel, wie geil Finnland ist, wie lange die Grundschule gehen soll, Gymnasium ja oder nein, Bologna, G8 usw. hat völlig den Blick aufs Wesentliche verstellt: Wie stellen wir in diesem föderalistischen Kackstaat sicher, dass die Schulen genug Personal und genug Geld haben, um zu tun, wozu sie da sind? Das bedeutet unter begrenzten Mitteln logischerweise, dass für Schüler mit schlechten Voraussetzungen mehr Geld da sein muss als für welche mit guten.

Na ja, das Problem ist vermutlich eher, dass du durch das System die Ungleichbehandlung bereits zementiert hast. Ich habe keine Ahnung ob Schüler bis zur 4., 6. oder 8. (oder auch die ganze Schulzeit) in die selbe Klasse gehen einen nennenswerten Unterschied für den Lerneffekt macht, aber ich würde jede Wette eingehen, dass es einen enormen Effekt für die finanziellen Mittel der Schule macht. Ich mutmaße mal es wäre für überkandidelte Eltern viel schwieriger, politisch Druck gegen Mittelumverteilung von leistungsstark zu leistungsschwach zu machen, wenn alle Kinder technisch gesehen auf die selbe Schule gehen, selbst wenn die nach der vierten Stufe "tracks" nach Leistungsstärke hat. Solange du unterschiedliche Schulen hast macht man es ihnen schlicht zu leicht, siehe Hamburg.
 
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Das mag sein. Aber ich wäre auch nicht zu optimistisch: Auf der gleichen Schule heißt nicht auf derselben. Praktisch wirst du die Selektion nicht los, ob sie nun horizontal oder vertikal verläuft. Du hast dann halt die guten und die schlechten Einheitsschulen, auf denen sich jeweils die Akademikerkinder oder die Prekariatskinder sammeln.(*)
Eigentlich müsste der Staat zusätzlich in den Selektionsprozess eingreifen, also halt sagen, dass jede weiterführende Schule so und so viele Plätze für Kinder bestimmter Kompetenzlevels bereithält, wofür man dann halt irgendeine Metrik erfindet. Das oder bzw. und man müsste halt Geld knallhart umgekehrt proportional nach demselben Kriterium verteilen: Für einen Schüler aus dem untersten Quartil wird dann bspw. doppelt so viel Geld an die Schule ausgeschüttet wie für einen Schüler aus dem obersten Quartil oder so. Das würde auch einen natürlichen Anreiz bieten, die Schülerschaft zu diversifizieren.
KA, ob man sich jetzt politisch mit sowas leichter tut als damit, dass Gymnasien weniger Geld pro Schüler und schlechtere Lehrerschlüssel kriegen als andere Sekundarschulen o.ä.
Der Fokus der Debatte lag in den letzten 20 Jahren eh zu sehr auf den weiterführenden Schulen. Da ist das Meiste für viele Kinder schon vermurkst. Verpflichtendes Kita- und Vorschuljahr, bessere Personalschlüssel in der frühkindlichen Bildung und einfach höheres Volumen an gezielter Sprachförderung wären vermutlich Ansätze mit höherem ROI. Da rennen wir halt gerade gegen eine Wand, weil Geld allein nicht mehr hilft: Es gibt einfach nicht genug Personal. Und das vorhandene Personal hat natürlich auch Präferenzen: Die Brennpunktkita im ehemaligen Ladenschäft um die Ecke mit Sandkasten im Hinterhof ist für die meisten Erzieher halt deutlich weniger attraktiv als sich eine besser ausgestattete Kita zu suchen, wo die Kinder größtenteils dem entsprechen, was man sich als eigene Kinder vorstellt und Jobs für Erzieher gibts überall. Das Problem ist, dass überproportional viele Kinder - insbesondere wenn man eine Kitapflicht einführen würde -, die die Förderung am dringendsten brauchen, eben in Kitas des ersten Typus landen würden. Und gut ausgebaute Kitas mit genug motiviertem und kompetentem Personal stampfst du nicht einfach mal so flächendeckend aus dem Boden.

Ich sehe da tatsächlich keine kaum mehr, wie man wirklich effektiv dagegen angeht. Dazu ist das System vielerorts schon zu sehr gekippt. Die Familien und Kinder sind einfach so divers, dass du allein durch Selbstselektion enorm ungünstige Verteilungseffekte bekommst, die sich selbst durch die wohlgemeinteste Policy kaum mehr auffangen lassen.
In Berlin ist aktuell ein Aufreger, dass bei stadtweit eklatantem Lehrermangel manche Bezirke trotzdem vollwertige Lehramtskandidaten abweisen müssen, weil es einen Schlüssel für Quereinsteiger gibt. Das nachvollziehbare politische Ziel ist, dass die vorhandenen Nachwuchslehrer sich einigermaßen fair über die Stadt verteilen. Aber du kannst in Deutschland 2023 halt keinen Lehrer, der das partout nicht will, an eine Brennpunktschule nach Neukölln oder Marzahn zwingen. Im Zweifel arbeiten die entspannt für weniger Geld an einer privaten Schule, pendeln nach Brandenburg oder wechseln gleich das Bundesland.

Die einzige Lösung, die ich sehe, ist unendlich viel Geld ins System zu pumpen und zwar erstmal dahin, wo es am meisten brennt. Politisch realistisch ist das leider nicht. Und die Eltern der Kinder, die das am meisten bräuchten, gehen halt auch nicht am häufigsten wählen bzw. sind politischen Vertretern allgemein nicht so präsent wie die Eltern der Kinder, die aktuell noch ganz gut fahren.


(*) Das ist kein Argument pro gegliedertes Schulsystem, aber als heiligen Gral sehe ich das Thema nicht. Da so ziemlich jeder Bildungswissenschaftler für die Abschaffung und afaik quasi niemand für den Erhalt ist, sollte es eigentlich ein No-Brainer sein.
 
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In Hamburg haben Schulen mehr Mittel, wenn die Eltern weniger Einkommen/Bildung haben und umgekehrt. Ist das in anderen Bundesländern auch so, und es ist nur zu wenig stark ausgeprägt? Oder wäre das eine Option für andere Länder?
 

parats'

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In Hamburg haben Schulen mehr Mittel, wenn die Eltern weniger Einkommen/Bildung haben und umgekehrt. Ist das in anderen Bundesländern auch so, und es ist nur zu wenig stark ausgeprägt? Oder wäre das eine Option für andere Länder?
Kam das nicht aus der KMK und kommt jetzt erst?
 

parats'

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Okay, dann Habe ich das verwechselt. Danke fürs aufklären. :)
 

Gustavo

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Das mag sein. Aber ich wäre auch nicht zu optimistisch: Auf der gleichen Schule heißt nicht auf derselben. Praktisch wirst du die Selektion nicht los, ob sie nun horizontal oder vertikal verläuft. Du hast dann halt die guten und die schlechten Einheitsschulen, auf denen sich jeweils die Akademikerkinder oder die Prekariatskinder sammeln.(*)


Na ja, jegliche Art von Umverteilung von Ressourcen von Gymnasien weg dürfte de facto unmöglich sein, aber soziale Segregation hat natürlich letztendlich auch den positiven Aspekt, dass es einfacher ist, Geld gezielt auszugeben. Deutschland zahlt ja effektiv für Lehrer doch sehr gut, sollte nicht der Flaschenhals sein, mehr Leute in den Beruf zu bekommen. Auch wenn die Zahlen neulich wegen Teilzeit deutlich übertrieben waren (als Vergleich mit der Gesamtbevölkerung) ist es schon so, dass die absoluten Zahlen immer noch sehr hoch sind (kommt ja nicht von ungefähr, dass Deutschland mit die niedrigste Gesamtarbeitszeit pro Arbeitstätigem hat), da könnte man durchaus ansetzen. Auch scheinen Lehrer viel zu oft Tätigkeiten zu machen, für die man eigentlich keine Lehrerausbildung braucht. Dazu kann der Staat sie letztendlich als Beamte durch die Gegend schieben wie er möchte, insofern wäre ich da nicht zu defätistisch. Da könnte die Politik auch tatsächlich einfach etwas mutiger sein. Imho ist es schon ein relativ einleuchtendes Argument, dass bei einer ganz anderen Durchmischung der Schülerschaft die Lösung nicht sein kann, unsere Strukturen aus Preußen beizubehalten, weil es halt schon immer so war. Gerade weil klar ist, dass so viele Flüchtlinge dauerhaft bleiben werden wäre hier das Geld gut angelegt.
 
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Bei den Lehrergehältern ist afaik alles im grünen Bereich. Sogar ich hatte mal erwogen, in Zukunft Schüler mit meinen Teaching-Skills zu beglücken - und das war noch, als es in Berlin nur ÖD gab. :ugly: Als Beamter ist es finanziell noch attraktiver. Man opfert eventuell etwas Freiheit? Bin nicht sicher, ob das praktisch einen echten Unterschied macht.
Das gilt zumindest für die Sekundarstufe. Die Grundschulen hinken etwas hinterher, aber das wird afaik vielerorts gerade angepasst.

Was die Arbeitsbelastung und die Personalabdeckung angeht, scheinen wir kein Ausreißer zu sein:

Mehr Geld könnte in erster Linie unterstützendes Personal in den Schulen finanzieren und halt deren Ausstattung verbessern. Afaik ist das aber mittlerweile vielerorts auch angekommen und es ist oft eher ein logistisches Problem: Kriegt man Handwerker, die die Arbeit termingerecht erledigen? Wohin mit den Schülern, wenn ein Teil des Gebäudes saniert wird? Usw.
In Sachen Nachmittagsbetreuung haben staatliche Schulen nach dem, was ich so höre, durchaus auch oft Nachholbedarf. Da sind Angebote an privaten Schulen, wo die Eltern dafür löhnen, oft deutlich besser.

Dazu sollte man halt investieren, um den Beruf attraktiver zu machen. Wie das geht, lässt sich von außen schwer sagen. Ich finde plausibel, dass auch Lehrer mehr im Team arbeiten könnten und es mehr Karriereoptionen geben sollte, wie das in anderen Ländern wohl zum Teil der Fall ist.
 
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Gustavo

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Das hier ist ökonomisch gesehen deutlich aussagekräftiger als nominelle Unternehmenssteuersätze zu vergleichen ("Deutschland ist Hochsteuerland für Unternehmen"). Chance, dass das im Diskurs über den "Wirtschaftsstandort" durchdringt: Ca. 0.
 
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Gibt es eine Erklärung, wie das trotz Engpässen bei den Arbeitskräften sein kann?
 
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Miese Lohnrunden und Erhöhung der Preise über die Inflation?
 

Gustavo

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Gibt es eine Erklärung, wie das trotz Engpässen bei den Arbeitskräften sein kann?

So richtig ist sich die OECD auch nicht im Klaren darüber. Was man aber sehen kann ist, dass wir im internationalen Vergleich bei der Veränderung der realen Arbeitskosten exakt im Durchschnitt liegen, die Profite aber deutlich überdurchschnittlich gestiegen sind. Mutmaßlich ist es eine Kombination aus
- Geringen Lohnerhöhungen bei den Tarifrunden
- Geringer Aufwärtsdruck durch den Mindestlohnanstieg in Deutschland
- Im Nachhinein zu großzügige Hilfen für die Wirtschaft in der Coronakrise (was aber schwer absehbar gewesen wäre)
- Profitgetriebene Inflation

Die Lektion ist wieder mal, dass man "der Wirtschaft" ihr Gejammer schlicht nicht abkaufen darf. Es ist immer derselbe Taschenspielertrick: Man weist auf bestimmte Branchen oder bestimmte Betriebe hin, denen es gerade schlecht geht und die stehen in der Darstellung pars pro toto, selbst wenn das überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Aber in Deutschland traut sich halt schlicht niemand zu sagen, dass es nicht die Aufgabe der deutschen Politik sein kann, einen wirtschaftspolitischen Rahmen zu schaffen dass noch die am wenigsten wettbewerbsfähigen Betriebe überleben können.
 
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Ist das nicht von der falschen Seite her gedacht?
Wir leben ja nicht im Kommunismus mit von der Partei festgelegten Löhnen.

Ich würde ja schätzen, dass die Arbeitnehmer aufgrund des Inflations-/Rezessionsgeredes unsicher sind und deshalb zu zögerlich bei Arbeitsplatzwechseln (plus dass deutsche Arbeitnehmer in der Hinsicht eh zu zögerlich sind).
Wobei hohe Inflation in Kombination mit geringer Arbeitslosigkeit historisch wahrscheinlich auch eher die Ausnahme bildet?
Dazu brauchen Lohnanpassungen über marktwirtschaftliche Mechanismen natürlich eine gewisse Zeit und setzen zeitverzögert ein.

Das wäre jetzt mein ins blaue geratene Erklärungsansatz.

Was hätte die Politik denn machen können? Mindestlohn anpassen, aber hätte das so einen großen Einfluss?

Sdass wir im internationalen Vergleich bei der Veränderung der realen Arbeitskosten exakt im Durchschnitt liegen, die Profite aber deutlich überdurchschnittlich gestiegen sind.
Klingt ja ein bisschen nach: alles relativ normal bei uns, deutsche Unternehmen sind nur erfolgreicher als die ausländischen :deliver:
 

Gustavo

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Ist das nicht von der falschen Seite her gedacht?
Wir leben ja nicht im Kommunismus mit von der Partei festgelegten Löhnen.

Ich würde ja schätzen, dass die Arbeitnehmer aufgrund des Inflations-/Rezessionsgeredes unsicher sind und deshalb zu zögerlich bei Arbeitsplatzwechseln (plus dass deutsche Arbeitnehmer in der Hinsicht eh zu zögerlich sind).
Wobei hohe Inflation in Kombination mit geringer Arbeitslosigkeit historisch wahrscheinlich auch eher die Ausnahme bildet?
Dazu brauchen Lohnanpassungen über marktwirtschaftliche Mechanismen natürlich eine gewisse Zeit und setzen zeitverzögert ein.

Das wäre jetzt mein ins blaue geratene Erklärungsansatz.

Was hätte die Politik denn machen können? Mindestlohn anpassen, aber hätte das so einen großen Einfluss?


Mindestlohn wurde im europäischen Vergleich schon stark angepasst. In Deutschland ist der reale Wert des Mindestlohns von Dezember 2020 zu Mai 2023 stärker gestiegen als in allen anderen OECD-Ländern mit Ausnahme der Türkei und Mexiko. Heißt nicht dass er nicht noch weiter steigen könnte, aber das Problem in Deutschland im Vergleich zu Volkswirtschaften wie Großbritannien oder Frankreich ist wie gesagt, dass der Effekt relativ stark auf diejenigen beschränkt bleibt, die tatsächlich Mindestlohn verdienen und relativ wenig Lohndruck nach oben aufgebaut wird (ist laut OECD ca. 50% höher in GBR und ca. 100% höher in Frankreich), insofern wird der Mindestlohneffekt immer vergleichbar gering sein.

Ansonsten:
- Zu zögerlich bei Arbeitsplatzwechsel stimmt, sind die Deutschen immer (und ist als lohndrückendes Problem auch erkannt). Ist aber unklar, was man dagegen politisch machen kann.
- Hohe Inflation zusammen mit geringer Arbeitslosigkeit war tatsächlich eher der Regelfall, weil die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt die Löhne getrieben und zu einer Lohn-Preis-Spirale geführt hat. Davon sieht die OECD aber aktuell nix mehr und es ist wohl auch fragwürdig, ob man einfach so die Lektionen der politischen Ökonomie der 70er und 80er auf die heutige Situation anwenden kann. Die Auslöser der Inflation waren jedenfalls ganz andere.
- Lohnanpassungen brauchen in der Tat relativ lange (insbesondere in Deutschland mit seinem 2-Jahres-Rhythmus), aber das Problem ist halt dass wir gerade große Tarifrunden hatten, d.h. die aufholenden Effekte liegen deutlich in der Zukunft, wenn sie denn eintreten.

Was kann die Politik machen:
- Vermögen höher besteuern, weil die Profite weit überdurchschnittlich häufig bei den Vermögenden anfallen, dafür die Abgabenlast auf Arbeitseinkommen senken
- Transferleistungen zahlen, die explizit nicht mit der Gießkanne ausgeschüttet werden (oder halt über höhere Steuern wieder reingeholt werden)
- Kartellrecht stärken. Macht die Ampel auch, wird allerdings seltsamerweise quasi gar nicht drüber berichtet. Wirkt allerdings nicht kurzfristig.



Klingt ja ein bisschen nach: alles relativ normal bei uns, deutsche Unternehmen sind nur erfolgreicher als die ausländischen :deliver:

Selbst in einer relativ exportabhängigen Volkswirtschaft wie der Deutschen wird der überwiegende Teil des Erlöses allerdings in Deutschland erzielt. Der "Erfolg" der deutschen Unternehmen ist in dem Fall bei nicht gleichzeitig steigenden Löhnen das Unglück der deutschen Konsumenten.
 

Celetuiw

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Was hätte die Politik denn machen können? Mindestlohn anpassen, aber hätte das so einen großen Einfluss?
Mit gutem Beispiel voran gehen und die Tarifrunden im ÖD und bei der Bahn besser gestalten wäre auch ein Anfang gewesen. An sonsten wäre eine deutliche Mindestlohnanpassung für die unteren Lohmgruppen relevant gewesen und ggf. stärkere Besteuerung und Unverteilung.
 

parats'

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Den Mindestlohn nicht politisch festzulegen finde ich eigentlich schon richtig. Ansonsten wird sowas ein Spielball im Wahlkampf. Aber man könnte zumindest an der Tariftreue arbeiten.
Afaik schlägt die Kommission auch nur auf Basis der anderen erzielten Tarifabschlüsse eine Anhebung vor.
 

Celetuiw

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Die Anhebung dieses Jahr war ein Witz und bedeutet inflationsbereinigt einen Reallohnverlust. Das ergibt sich schon mit Blick auf die allgemeine Inflationsrate ohne einzupreisen, dass einkommensschwache Haushalte von den hohen Steigerungen bei Lebensmitteln und Energie betroffen sind.

Sieht auch der DGB so.
 

parats'

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Ja das stimmt. Aber dennoch sollte der ML nicht durch die Politik bestimmt werden.
Ich persönlich wäre ja für eine Orientierung nach dem Erwerbsleben. Also den ML immer soweit mit anziehen, dass im Alter keine Aufstockung nötig wäre. Ob das so einfach geht weiß ich aber nicht, dass können andere besser beurteilen.
 
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