Ich versuche mal, den Thread wiederzubeleben.
Vor einer Woche wurde auf Zeit.de folgender Artikel veröffentlicht:
http://www.zeit.de/wissen/2018-03/rassenlehre-abstammung-intelligenz-rassismus-usa-rechtsruck
Inhalt: Der englischsprachige Politologe Gavin Evans schreibt von einem "Revival der Rassenlehre" und wie Rechtsextreme diese dazu nutzen um ihre politischen Forderungen zu rechtfertigen. Es gibt eine weitaus ausführlichere Variante des
Artikels im Guardian. Die grundlegende Sorge von Evans teile ich, Intelligenzforschung ist ein heikles Thema, und es passiert schnell, dass politische Akteure statistische Ergebnisse aus dem Zusammenhang reißen und für ihre Zwecke interpretieren. Die Art und Weise seiner Argumentation hingegen finde ich fast schon demagogisch. Zwei Beispiele:
1.
Evans bezeichnet den anerkannten Entwicklungspsychologen Steven Pinker als Vertreter der Rassenlehre. Als Basis seiner Behauptung nennt er im englischen Original
diesen Artikel*. Der Artikel ist sehr lesenswert, und meiner Meinung nach sollte deutlich werden, dass Evans es sich mit seiner Einschätzung sehr einfach macht.
2.
Evans verweist später in seinem Artikel auf Zwillingsstudien. Da ich mich bei diesen Studien zufälligerweise ein bisschen auskenne, war ich von seiner Interpretation derselbigen einigermaßen überrascht ("IQ-Werte haben mit Genetik nichts zutun"). So gut wie alle mir bekannten Zwillingsstudien zeigen, dass die Heritabilität von Intelligenz bei Erwachsenen vermutlich irgendwo zwischen 40% und 70% liegt (Heritabilität wird üblicherweise als die genetische Komponente von Intelligenz interpretiert) und dass nur in Extremfällen (schwere Krankheit, Unfälle, starke Unternährung/Vernachlässigung) Umwelteinflüsse einen dominanten Einfluss auf den messbaren IQ haben. Die beiden von Evans zitierten Fachaufsätze widersprechen dieser Aussage erwartungsgemäß nicht. Besonders schwerwiegend ist Evans' Missrepräsentation der Ergebnisse von Bouchard et al. (1990)**. Aus dem öffentlich einsehbaren Abstract des zitierten Papers: "Like the prior, smaller studies of monozygotic twins reared apart, about 70% of the variance in IQ was found to be associated with genetic variation." Wenn ich Evans Argumentation richtig verstehe, greift er sich aus 56 untersuchten Zwillingspaaren der Studie zwei raus, die seiner Meinung entsprechen, ignoriert aber gekonnt den komplett gegenläufigen Grundtenor des Textes.
Evans präsentiert sich als Authorität in Humangenetik, als jemand der es besser weiß als die "Rassentheoretiker", kann aber scheinbar nicht mal simple statistische Zusammenhänge interpretieren (oder tut es absichtlich nicht). Vielleicht sehe ich das alles zu eng, aber ich finde es problematisch, wenn auf solche Weise in einem als seriös geltendem Medium argumentiert wird. Das macht es Seiten wie Breitbart&Co doch erst recht leicht, von der "Lügenpresse" zu schadronieren!?
Mir ist natürlich klar dass die Zeit-Redaktion nicht jeden Artikel/Kommentar bis ins kleinste Detail überprüfen kann, ich persönlich wäre ja schon zufrieden, wenn man bei solch heiklen Themen auch jemanden von der "Gegenseite" schreiben lassen würde. Aber das würde vermutlich nicht der "guten Sache" dienen ...
*In der Zeit taucht der Artikel garnicht erst auf, sodass sich der Leser kein Bild über die Validität von Evans Anschuldigung machen kann.
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Link zum kompletten Paper