Frank Bösch (2019): Zeitenwende 1979
Gerade in Deutschland wird Geschichte ja meist von 1918, 1945/49 und 1989/90 her gedacht. Dabei stellt auch 1979 ein Jahr mit vielen weltpolitischen Zäsuren dar, die uns bis heute Beschäftigen. Bösch ist, wie er auch selbst schreibt, weder der erste, noch wird er der letzte sein, der ein Buch über das Jahr 1979 schreibt, aber er legt dabei den Fokus auf die (bundes)deutsche Perspektive. Ich fand das sehr interessant mal so einen historischen Querschnitt zu lesen, obwohl - oder gerade weil - natürlich die Detailtiefe nicht unendlich ist. Die zehn behandelten Themen im Einzelnen:
1. Die Revolution im Iran
Neben der amerikanischen und der französischen zählt die iranische ja zu den drei Großen Revolutionen der Geschichte, da mit ihr der Islamismus die weltpolitische Bühne betrat - wenngleich keineswegs von Anfang an ausgemacht war, dass der Iran in eine islamistischen Theologie übergehen würde. Die Menschen sind 1978 schließlich nicht auf die Straße gegangen, um die Diktatur des Schah durch eine des Klerus zu ersetzen. Die Revolution war zunächst genauso von liberalen und kommunistischen Gruppen getragen und die Islamisten haben sich erst nach der Flucht des Schah durchgesetzt. (Von Bösch nicht direkt thematisiert, aber in diesem Zusammenhang interessant zu erwähnen ist, dass das Ajatollah-Regime selbst seine innenpolitischen Gegner erst im Zuge des Angriffs durch den Irak mit der Verweis auf die externe Bedrohung ausschalten konnte.) Khomenei stieg im Pariser Exil zum regelrechten Medienstar auf und wurde von westlichen Medienvertretern teils regelrecht hofiert - geradezu erschreckend aus heutiger Sicht; wobei zu erwähnen ist, dass es natürlich auch kritische Stimmen gab. Für mich neu war, dass die bundesdeutsche Politik sowohl zu den alten, als auch zu den neuen Machthabern einen guten Draht hatte - genau wie die bundesdeutsche Wirtschaft auch nach der Revolution weiterhin gute Geschäfte im Iran gemacht hat. Letzteres war auch der Grund, warum die Bundesrepublik den amerikanischen Sanktionen nur sehr widerwillig gefolgt ist. Andererseits waren die guten Kontakte des bundesdeutschen Botschafters im Iran sehr hilfreich, um nach der Geiselnahme in der US-Botschaft die Verhandlungen zwischen den USA und dem Iran (an denen die BRD dann nicht beteiligt war) anzuleiern.
2. Papst Johannes Paul II. in Polen
Für mich persönlich eines der nicht ganz so interessanten Themen, da mich Religion und Kirche einfach null interessieren. Das Ereignis war alleine schon deshalb spektakulär, weil Päpste 150 Jahre lang überhaupt keine Auslandsreisen unternommen hatten, Paul IV. immerhin einige wenige. Johannes Paul II. hat damit gebrochen und sollte ja später noch den Spitznamen "Reisepapst" bekommen. Faszinierend hierbei die Parallele zu den Ereignissen im Iran: In beiden Fällen inszeniert sich ein religiöser Führer als Medienstar und Widerstandskämpfer gegen eine Diktatur und steht gleichzeitig aber quer zur bipolaren Logik des Kalten Krieges. Wobei der Papst selbstverständlich nicht so dumm war, einfach offen zur Revolution gegen die kommunistischen Machthaber aufzurufen. Er hat alleine durch seine Präsenz und seinen jovialen, unnahbaren Umgang mit den Menschen eine entsprechende Wirkung entfaltet. Der Besuch war ein gigantisches Medienspektakel und hat in Polen damit die Zivilgesellschaft gewaltig gestärkt und sie sozusagen "auf den Geschmack gebracht" was Massenveranstaltungen bzw. Massenproteste angeht. Er war damit ein wichtiger Katalysator für den Widerstand gegen die Dikatur in den 1980er Jahren und Johannes Paul II. hat diesen Widerstand ja bekanntlich unterstützt, wenngleich die Proteste weniger von der Kirche als der Arbeiterschaft ausgingen und die Kirche hier auch immer wieder zur Mäßigung aufgerufen und sich als Vermittler angeboten hat. Am Ende des Kapitels beschreibt Bösch noch kurz die - leicht zu überschätzende - Rolle der Kirchen beim Widerstand gegen die SED.
3. Die Revolution in Nicaragua
Genau wie Persien war auch Nicaragua bis 1979 von einem Diktator beherrscht, der dank seiner antikommunistischen und wirtschaftsliberalen Ausrichtung die Unterstützung der USA genoss: Anastasio Samoza Debayle hatte das Präseidentenamt von seinem Vater Anastasio Samoza García übernommen, der 1936 an die Macht gekommen war. Und genau wie in Persien wurde er von einem breiten Oppositionsbündnis unter fürhung der FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) gestürzt, zu der auch Vertreter der Religion (hier der Befreiungstheologie) gehörten. Auch hier war anfangs nicht ausgemacht, welche Strömung sich nach der Revolution im Juli 1979 durchsetzen würde. Obwohl Nicaragua, anders als der Iran, klein und arm war und keine nennenswerten Rohstoffe besaß erregte die Revolution aufgrund der markanten Parallelen zum Umsturz im Iran große internationale Aufmerksamkeit. Weltweit entstanden haufenweise Solidaritätsgruppen. Hierbei entstand eine deutsch-deutsche Konkurrenz, wobei die Unterstützung in der BRD eher aus der Zivilgesellschaft kam, in der DDR natürlich staatlich orchestriert war. Laut Bösch ist die nicaraguanische Revolution aus vier Gründen von langfristiger Relevant: Erstens steht sie für den Einflussverlust der Großmächte im Kalten Krieg, da hier die USA - parallel zur Sowjetunion in Afghanistan - moralisches Kapital verspielten durch ihre Unterstützung von Samoza und später den Contras; zweitens spielte hier der Menschenrechtsdiskurs eine wichtige Rolle, an dem sich sowohl die sandinistische Regierung als auch die Contras messen lassen mussten; drittens zeigte sich auch hier die politische Macht der Religion, nicht nur bei der Unterstützung der Revolution sondern auch bei der späteren Kritik an der sandinistischen Regierung; viertens steht Nicaragua für eine praxisorientierte Solidarität mit der sog. Dritten Welt, da viele Revoluzzer (seien es professionelle oder Amateure), anders als in z.B. Vietnam, erstmals selbst in das betreffende Land reisten dun konkrete Projekte vorantrieben, anstatt sich auf theoretische Diskurse in der Heimat zu beschränken. Ein Beispiels für Solidarität an der "Heimatfront" ist der Konsum des "Sandino-Kaffees" in entsprechenden Kreisen in Deutschland - der aber geschmacklich nicht gerade den Nerv getroffen hat.
In der großen Politik spielte Nicaragua in Westdeutschland insofern eine Rolle als dass alle Parteien ihnen politisch nahestehende Gruppierungen in Nicaragua unterstützen, insbesondere die parteinahen Stiftungen spielten da eine Rolle. Die Grünen profilierten sich als pro-FSLN-Partei, wohingegen Union und FDP (surprise, surprise) christliche und privatwirtschaftliche Bewegungen promoteten und sich hier als Hüter von Menschenrechten profilieren konnten. Letztlich musste sich die sandinistische Regierung nicht den Contras, sondern 1990 bei demokratischen Wahlen geschlagen geben.
4. Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping
Im Januar 1979 war Deng Xiaping der erste Spitzenpolitker der VR China, der im Ausland zum Staatsbesuch empfangen wurde, nämlich ich den US of A. Schon Zeitgenossen haben die Geschichtsträchtigkeit dieses Ereignisses wahrgenommen und die Reise setzte auch den Startpunkt für einen regen politischen und wirtschaftlichen Austausch zwischen China und dem Westen. Bösch beschreibt hier auch kurz die - teilweise sehr blutige - Entwicklung Chinas nach dem 2. WK unter Mao. Sehr interessant zu erfahren fand ich, dass die Öffnung Chinas gegenüber dem Westen in den 70er-Jahren nicht zuletzt darauf zurückzuführen waren, dass viele KP-Führer in jungen Jahren im Ausland, auch Deutschland, gelebt und studiert hatten und entsprechende Connections (persönlicher wie geistiger Art) bestanden. Für die Bundesrepublik mit ihrer exportorientierten Wirtschaft war Chinas Öffnung ganz besonders lecker, da hier ein großer Markt winkte. Und auch als Produktionsstandort mit billigen Arbeitskräften war die VR schnell attraktiv, wie z.B. die VW-Produktion in Shanghai zeigt, die 1985 gestartet wurde. Politisch interessant ist, dass der Austausch mit China in Deutschland gerade von der CDU/CSU gefördert wurde, die hier eine Gelegenheit sah, der Ostpolitik der sozialliberalen Regierung eine eigene Fernostpolitik entgegenzusetzen. Dass in China genauso Kommunisten an der Macht saßen wie in der SU störte nicht weiter, weil dann konnte man immerhin die eigene Dialogbereitschaft mit dem Klassenfeind demonstrieren und dass man nebenbei geostrategische Eigeninteressen förderte (China und die SU waren sich seit den 60ern eher feindlich gesinnt) tat dabei nicht weg. Im Gegenzug waren SPD und FDP zunächst eher auf Distanz zu China, da man die Sowjetunion nicht vergraulen wollte.
5. Die Boat People aus Vietnam
Auch eines der für mich persönlich weniger aufregenden Kapitel. Interessant waren hierbei für mich zwei Aspekte: Erstens war es gerade die CDU/CSU, die sich - zumindest anfangs - ganz erheblich für die Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge stark machte - insbesondere Ernst Albrecht war hier sehr engagiert. Immerhin flohen die ja vor einer kommunistischen Diktatur, sodass man sich hier moralisch/menschenrechtlich profilieren und zugleich der Friedensbewegung Heuchelei unterstellen konnte. Tatsächlich war der besonders der ganz weit links stehende Teil der Friedensbewegung nämlich erstaunlich still, was die Boat People anging und von einigen wenigen wurden die Flüchtlinge sogar offen denunziert - genau wie von der DDR-Führung. Da flogen dann Begriffe wie "bürgerliche Müßiggänger", die sich vor dem Wiederaufbau des eigenen Landes drücken wollten, durch die Gegend. Umgekehrt hielten Konservative sich bekanntlich sehr zurück was Flüchtlinge aus rechten Militärdikaturen wie Chile oder Argentinien anging. Trotz Unterstützung durch die Union kam der Druck zur Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge allerdings primär aus der Zivilgesellschaft - ist allerdings Anfang der 1980er auch schnell wieder erloschen und die Cap Anamur war dann ja auch nur ein kurzweiliges Unterfangen. Der zweite sehr interesante Punkt war für mich, dass für die Vietnames - anders als für die Gastarbeiter - von Anfang an eine gezielte und energische Integrationspolitik betrieben wurde. So gab es beispielsweise von Anfang an staatlich finanzierte (!!) Deutschkurse. Vor diesem Hintergrund ist es nicht allzu erstaunlich, dass Vietnamesen heute deutlich besser integriert sind als andere Migrantengruppen.
6. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan
Afghanistan war ja mal ein armes und trotz aller Modernisierungsversuche wenig entwickeltes - um "rückständig" zu vermeiden -, aber immerhin friedliches Land. Erst 1973 entstand eine Phase innenpolitischer Instabilität, als der König weggeputscht wurde. Der neue Machthaber Mohammed Daoud Khan konnte sich immerhin bis 1978 halten, als er selbst im Zuge eines Putsches ermordet wurde. Seinen Nachfolger Taraki hat schon im September 1979 dasselbe Schicksal ereilt und dessen Nachfolger wiederum - Hafizullah Amin - hatte dann ja im Dezember 1979 eine, ich sage mal, für ihn nicht ganz günstige Begegnung mit einer sowjetischen Spezialeinheit, im Zuge derer er wohl ungünstig über eine Handgranate gestolpert ist.
Als politisch und geschichtlich interessierter Mensch kennt man die Story in Gründzügen ja schon. Der Einmarsch selbst war auch innerhalb der Sowjetführung umstritten. Der Außenminister Gromyko und der altersschwache Breschnew waren eigentlich nicht überzeugt von der Aktion, haben sich aber von KGB-Chef Andropow und Verteidigungsminister Ustinow überreden lassen. Ausschlaggebend waren am Ende vier Faktoren: Erstens die Befürchtung, die Amin-Regierung könnte sich aufgrund der Instabilität im Land (seine Regierung stand islamistischen Widerstandskämpfern gegenüber) an die USA wenden; zweitens die Angst, die islamistische Widerstandsbewegung könnte auf die südlichen Sowjetrepubliken überschwappen; drittens sah man sich angesichts der gescheiterten Abrüstungsverhandlungen und des NATO-Doppelbeschlusses (der übrigens am selben Tag erfolgte wie der Beschluss zum Einmarsch in Afghanistan) nicht zur Rücksichtnahme auf den Westen genötigt; viertens haben sich die Verfechter der Interventionen komplett verkalkuliert was den politischen und moralischen Rebound. Selbst die "sozialistischen Bruderstaaten" haben allenfalls zurückhaltend reagiert, lediglich die DDR-Spitze hat sich uneingeschränkt hinter Moskau gestellt; Ceausescu hat den Einmarsch offen kritisiert. Die Sowjetunion hatte quasi die komplette restliche Welt vereint gegen sich. Trotzdem haben wirksame (lies: wirtschaftliche) Sanktionen nicht lange gehalten und gerade die Bundesrepublik Deutschland war es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen wieder mal, die sich diesbezüglich von Anfang an extrem zurückgehalten hat. Stattdessen hat man sich dann auf das Boykott der olympischen Spiele beschränkt, was das Thema immerhin medial präsent gehalten hat. Na ja, der Rest ist Geschichte und muss hier nicht weiter en detail ausgebreitet werden. Interessant und aus heutiger Sicht geradezu haarsträubend zugleich ist wie die Mudschaheddin vom Westen als liebe, nette Freiheitskämpfer romantisiert wurden, die ja nur "persönliche und religöse Freiheit" (Kohl) anstrebten. Lediglich die Grünen haben neben der Invasion durch die SU auch die Unterstützung der Mudschaheddin offen kritisiert - das ist insofern wichtig zu erwähnen als dass Teile der Friedensbewegung hier bei diesem Thema erstaunlich still waren; Afghanistan hat die nicht so wirklich interessiert.
7. Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen
Die Wahl Thatchers wurde schon von Zeitgenossen als großer Einschnitt wahrgenommen - zunächst allerdings vor allem deshalb, weil hier erstmals eine Frau an die Regierungsspitze eines Industrielandes aufstieg und das auch noch in einem Land, in dem die Politik mehr noch als in anderen von Männerzirkeln dominiert wurde. Ähnlich wie Merkel verdankt Thatcher ihren Aufstieg an die Spitze der Tories einer Parteikrise und ähnlich wie Kohl profilierte sie sich mit ihrer Herkunft aus der Provinz und einfachen Verhältnissen (die allerdings bei genauerem Hinsehen nicht ganz so einfach waren
). Ihrem Spitznamen der Eisernen Lady machte sie durch ihren Führungsstil und ihr Auftreten - auch international - bekanntlich alle Ehre. Ihre erste Amtszeit war allerdings ökonomisch erstmal ein ziemliches Desaster und 1981 waren sie und ihre Partei bekanntlich krass unpopulär und die Abwahl schien quasi sicher. Aber zum Glück musste da ja die argentinische Junta durch eine kleine Landnahme im Südpazifik von Querelen im inneren Ablenken.
Bösch führt denn eben aus wie Thatchers Politik sich gerade im Bereich Privatisierung eher erst nach ihrer ersten Wiederwahl entwickelt hat und wie sie bis heute in UK kritisch gesehen wird. Auch der EU-Skeptizismus geht ja auf sie zurück. Interessant hierbei ist, dass beispielsweise die deutsche CDU/CSU und FDP natürlich einerseits auf Thatchers marktliberale Reformen beriefen, selbst aber unter Kohl deutlich weniger in diese Richtung gingen - gerade weil man ja auch die negativen Effekte wie die krass gestiegene Arbeitslosigkeit vermeiden wollte.
Im zweiten Teil des Kapitels führt Bösch diverse Berührungspunkte zwischen der Umweltbewegung und den Grünen einerseits und dem Neoliberalismus und der FDP andererseits auf. Beide zeichneten sich dadurch aus, dass die tiefschürfende gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen wollten und dabei stark polarisierten. Sparen fanden (und finden) beide ganz gut, die einen aus Gründen der Nachhaltigkeit, die anderen aus Gründen der Budhetsanierung. Bürgerrechte ist für beide ein wichtiges Thema. Beide rekrutieren ihre Wähler aus eher besserverdienenden Schichten mit hohen formalen Bildungsabschlüssen.
8. Die zweite Ölkrise
Während die erste Ölkrise 1973 auf den Lieferstopp arabischer Förderländer im Zuge des Yom-Kippur-Krieges zurückzuführen war (es hatte jedoch auch schon Ende der 60er-Jahre einen Anstieg der Ölpreise gegeben), waren die Ursachen 1979 etwas vielschichtiger: Erstens die Streiks und schließlich die Revolution im Iran, die ein wichtiges Förderland ausfallen liesen; zweitens suchte die OPEC ihre Macht auszuspielen und mittels einen Preisanstiegs den schwachen Dollar auszugleichen; drittens führten einige Länder wie Japan, die keine eigenen Energieträger anzubieten hatten, Panikkäufe durch. Letztlich förderte die zweite Ölkrise alle möglichen Energiesparmaßnahmen, manche mehr, manche weniger sinnvoll. Die allseits beliebte Zeitumstellung ist uns ja bis heute erhalten geblieben, obwohl ihre Nutzlosigkeit längst erwiesen ist. Zwar ist der Energieverbrauch des Industrieländer insgesamt nicht nachhaltig gesenkt worden, doch wie Bösch ausführt, haben die Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizient bei z.B. Autos und Küchengeräten sehr wohl gefruchtet - wurden aber eben durch die zunehmende Größe derselben teilweise konterkariert. Auch die bipolare Weltordnung wurde - wieder einmal - durchbrochen: Gerade die Bundesrepublik bemühte sich, ihren Energieimport zu diversifizieren und begann in großem Stil, Erdgas aus der Sowjetunion zu beziehen. Diese wiederum drosselte im Gegenzug ihre Lieferungen an die sozialistischen Bruderländer und belegte diese zugleich mit Preiserhöhungen, was beispielsweise den wirtschaftlichen Niedergang der DDR nicht unerheblich beschleunigte. Auch die Förderung regenerativer Energiequellen nahm im Zuge der zweiten Ölkrise ihren Anfang, wobei hier zunächst die USA und Dänemark führend waren - und wie wir alle wissen sollte es noch eine ganze Weile dauern, bis die EE sich durchsetzen sollten.
Eine aus ökologischer Sicht weniger günstige Folgeerscheinung der Ölkrise war die verstärkte Förderung von Kohle zwecks Verstromung - in NRW wurde ja noch bis Ende 2018 unter massiven Subventionen Braunkohle gefördert. Die Kernkraft war durch den im selben Jahr erfolgenden Unfall in Harrisburg politisch nicht mehr so recht vermittelbar. Zwar sanken in den 80er-Jahren die Preise wieder, u.a. weil Saudi-Arabien seine Förderung aggressiv ausweitete, aber viele der Reaktionen auf die Ölkrise haben wie beschrieben eben bis heute ihre Gültigkeit. Am Ende des Kapitels zeigt Bösch noch die interessante Parallele zu den 2000er-Jahren, als die Energiepreise ebenfalls massiv anzogen (diesmal vor allem durch den massiven Nachfrageanstieg durch China) und im Gefolge wiederum Saudi-Arabien versuchte, den Preis wieder zu drücken um sich Konkurrenz vom Hals zu halten (diesmal Frackingöl aus US of A), während zeitnah ein Atomunfall (Fukushima) die Atomenergie desavouierte.
9. Der AKW-Unfall bei Harrisburg
In Europa sind heute vor allem die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima in Erinnerung geblieben, aber der erste große Atomunfall ereignete sich bereits 1979 im KRaftwerk Three Mile Island in den USA. Dieser führte dazu, dass der Ausbau der Atomenergie weltweit zunächst deutlich gebremst worden ist. Zwar wurden bereits begonnene Projekte zum Bau von KKW abgeschlossen, aber keine neuen gestartet. In den westlichen Ländern wurden Sicherheitsvorkehrungen kritisch geprüft und verbessert. Politisch konnten natürlich die Grünen aus der Havarie Kapital schlagen, was SPD und Union gewaltig aufgeschreckt hat. Bei der CDU/CSU war man beunruhigt, weil es gerade auch konservative Wähler waren, die sich an Anti-Atom-Protesten beteiligten. Helmut Schmidt hingegen hielt unbeirrt an seiner Pro-Atom-Position fest, was ihn innerhalb der SPD nicht gerade beliebter machte. Seine Prognosen, im Jahr 2010 würde es kein Öl mehr geben und wir würden dann alle mit batteriebetriebenen Autos rumgurken, die wir mit Atomstrom tanken oder schon "in 15 Jahren" Atommüll mit Raketen in die Sonne schießen, wirken aus heutiger Sicht etwas... na ja, sagen wir futuristisch.
Auch im Ostblock wurden die dortigen KKW auf ihre Sicherheit überprüft und es wurden sehr wohl z.T. erhebliche Mängel festgestellt, was aber geheim gehalten wurde. Interessanterweise gibt es eine ganze Reihe Parallelen zwischen den Unfällen von TMI und Tschernobyl - ein schönes Beispiel, dass eine offene Gesellschaft, die öffentliche Kritik zulässt, eben gegenüber einer Diktatur im Vorteil ist. Interessantes Detail: Jimmy Carter, der ja sonst als eher ungeschickt agierender Präsident in Erinnerung geblieben ist, hat nach dem Unfall in TMI ein solides Krisenmanagement gezeigt.
10. Die Fernseserie Holocaust
Zum Abschluss nochmal ein Kapitel, das mich gar nicht mal so fürchterlich interessiert hat. Die US-Produktion löste weltweit eine neue Welle der Auseinandersetzung mit dem Holocaust aus, wobei - anders als von manchem in Deutschland befürchtet - im Allgemein nichts von einer "Deutschenfeindlichkeit" zu erkennen war. Auch in der Bundesrepublik schlug die Serie entsprechend ein und führte beim NDR zu einer gewaltigen Anzahl an Rückmeldungen, von denen zwar ein nicht unerheblicher Prozentsatz ablehnend bis feindlich und offen antisemitisch war, aber die übergroße Mehrheit nahm der Serie positiv auf und reagierte extrem emotional darauf. Mit ihr wurden der breiten Öffentlichkeit auch einige historische Sachverhalte eröffnet, die so teils nicht einmal von der professionellen Geschichtswissenschaft verarbeitet worden waren.
Holocaust trug auch dazu bei, dass der Bundestag die Verjährung von NS-Verbrechen endgültig aufhob, die zuvor zwei Mal lediglich verlängert worden war.