Als die türkische Regierung von Herbst 2014 an versuchte, den Strom kurdischer Aktivisten in die vom „Islamischen Staat“ belagerte syrische Stadt Kobane zu stoppen, und dazu Gewalt einsetzte, koordinierte die YPG-H in den Städten den Bau von Barrikaden. Der Staat reagierte mit dem Aufmarsch des Sicherheitsapparats und einem Gesetz, das Steinewerfen dem Gebrauch einer Schusswaffe gleichsetzte. Es konnte die kurdische Intifada nicht aufhalten.
Seit Monaten patrouillieren in Baglar, wo 380.000 Menschen auf engstem Raum leben, mehr als fünfzig gepanzerte Polizeifahrzeuge. Sie heißen „Toma“ und „Akrep“, sie versprühen Tränengas, und sie schießen scharf.
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Heftig gekämpft wurde bis Ende vergangener Woche, als die Armee die Kämpfe für beendet erklärte, in der historischen Altstadt. Dort standen sich gegenüber, in der letzten Phase des Kriegs von Sur, die zweitgrößte Armee der Nato – und einige Dutzend Kämpfer der YPS, die sich in einem Block an der Kreuzung der Straßen Dabanoglu und Savas verschanzt hatten. Helikopter kreisten über dem Gebiet des Häuserkampfs. Kaum war ein Artillerieeinschlag verklungen, war schon der nächste zu hören.
Auf dem Platz vor der Ulu Camii, die im Jahr 639 von einer christlichen Basilika in eine Moschee umgewandelt worden war, scheint das niemanden mehr zu rühren. Alte Männer hocken auf niedrigen Stühlen, halten reglos ein Glas Tee in der Hand. „Sur hat aufgehört zu existieren“, flüstert einer. Alle fünftausend Häuser in der östlichen Hälfte der Altstadt sollen zerstört sein, auch die armenische Kathedrale Surp Giragos, die eine der größten armenischen Kirchen im Nahen Osten war. Die Unesco hatte die Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Zu ihrer Zerstörung schweigt sie.
An der Juwelierstraße beginnt die Kampfzone, die auch nach dem offiziellen Ende der Kämpfe weiter hermetisch abgeriegelt ist. Türkische Sicherheitskräfte verschanzen sich hinter Sandsäcken, gepanzerte Fahrzeuge fahren die breite Straße vor den Häusern aus schwarzem Basalt, wo sonst Touristen flanieren, auf und ab. Sie bringen neue Soldaten hinter die Absperrung. Wer hier kämpft, erhält mehr als den doppelten Sold. Der Blutzoll ist aber groß. Mehr als 150 Soldaten sollen bei den Häuserkämpfen getötet worden sein, mehr als in jedem anderen aktuellen Kampfgebiet im Südosten. Wie viele kurdische Kämpfer getötet wurden, lässt sich nicht sagen, Schätzungen sprechen von mehreren hundert.
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Anders als damals glaube heute kein Kurde mehr daran, im Westen der Türkei ein neues Leben beginnen zu können, sagt Gültan Kisanak von der HDP, seit 2014 Ko-Bürgermeisterin von Diyarbakir. Die rassistische Diskriminierung nimmt zu, für Kurden ist es heute schwierig, dort Arbeit zu finden. Zudem hält im Westen der Türkei die Verhaftungswelle von Funktionären der HDP an, und dem Parlament liegt ein Antrag vor, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben. Nie zuvor sei die Türkei so gespalten gewesen, sagt Kisanak. Während des Gesprächs mit ihr und ihrem Kollegen Firat Anli donnern unablässig Kampfflugzeuge im Tiefflug über die Stadt. „Wir wollen, dass die Menschen hierbleiben“, versichert Kisanak. Bleibe der türkische Staat aber bei seiner Kurdenpolitik, steige die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen nach Europa auswanderten.