Inwieweit kann man denn mit billigen "Bilanz"-tricksereien die Leute täuschen? Das mag bei der breiten Masse gehen, aber jeder mit etwas mehr fachlichem Hintergrund müsste das doch sofort durchschauen. Irgendwie fehlte mir da der "Aufschrei", was nun viele Gründe haben kann.
Das man Lindner sowas durchgehen lassen würde, wäre für mich aber der unwahrscheinlichste.
Na ja, du hast da den üblichen Zyklus: Der typische Wirtschaftsjournalist in Deutschland versteht jetzt nicht SO viel Makro, insofern können das viele nicht selbstständig erkennen. Irgendwann kommen dann Artikel wie der, den saistaed gepostet hat und dann teilen sich die Reaktionen quasi in drei Gruppen auf:
- Diejenigen, die dagegen argumentieren oder den Standpunkt völlig ignorieren, weil sie sowieso der Meinung sind, dass Zinsen den Staat konditionieren sollten (so Leute wie Braunberger in der FAZ, Siems in der Welt)
- Diejenigen, die das als "einerseits, andererseits"-Geschichte darstellen ("die FDP sagt so, die Grünen sagen so") und wo es offen bleibt wer letztendlich der Wahrheit näher kommt (häufig alle bei Spiegel [außer Thomas Fricke] und Süddeutscher)
- Diejenigen, die das aufgreifen und als "Lindners Rechnung ist mehr Ideologie als Finanzmathematik" verkaufen (so jemand wie Schieritz in der Zeit, Fricke beim Spiegel)
Der Anteil derjenigen, die in die dritte Richtung schreiben, ist in Deutschland einfach gering. So liberal sie bei gesellschaftspolitischen Themen ist, so sehr gibt es einen konservativen Überhang bei wirtschaftlichen Themen, der sich erst langsam dreht, weil halt ca. die Hälfte der deutschen Wirtschaftsjournalisten vor mehr als 10 Jahren in Köln "VWL sozialwissenschaftlicher Richtung" studiert haben, wo lange Zeit die deutsche Orthodoxie gelehrt wurde. Ergo würden wohl ein paar mehr Leute merken, dass sie übers Ohr gehauen werden, aber nicht so viele mehr und letztendlich macht es für Lindner keinen großen Unterschied.
Letztendlich haben die Leute auch einfach viel zu wenig Ahnung davon, wie eine Volkswirtschaft funktioniert, als dass ich da große Erfolge erwarten würde. Meiner Erfahrung nach kannst du Leute nur extrem schwer von Dingen überzeugen, die für sie nicht intuitiv sind. Deshalb funktionierte die Schwarze Null auch so gut, weil alle wissen dass ihr Haushalt nicht dauerhaft mehr ausgeben kann als er einnimmt. Dass ein Staat etwas anderes ist als ein Haushalt dagegen ist überhaupt nicht intuitiv und geht dementsprechend nicht in die Köpfe der meisten Leute. Alleine schon dass niemand Nominalzinsen und Realzinsen auseinander hält in der Diskussion zeigt wie oberflächlich über das Thema geredet wird.
Du siehst ja selbst bei so Themen wie "Technologieoffenheit", dass die FDP nur gebetsmühlenhaft wiederholen muss, was dem Bürger erst mal einleuchtet ("warum verbieten wenn der Markt es doch auch regeln kann?") und damit durchdringt, selbst wenn so ziemlich jeder mit einem Hauch Sachverstand weiß, dass der Standpunkt blödsinnig ist.
Mich wundert eher, dass die Grünen das bisher nicht an die große Glocke hängen.
Was ich bei den Grünen nicht verstehe ist, dass sie sich nicht auf denselben Standpunkt wie die FDP stellen und eine conditio sine qua non aufstellen. Die FDP hat ja von Anfang an gesagt, mit uns gibt es keine Koalition außer wir schließen sowohl Steuerhöhungen als auch neue Schulden aus. Das ist natürlich erst mal ein ziemlicher Brocken, aber weil die FDP pivotal ist, kann sie sich das leisten (wobei dann natürlich Tricksereien gefunden werden müssen, um zumindest eins der beiden Ziele zu umgehen).
Die Grünen sind aber nicht weniger pivotal als die FDP, insofern hätten die Grünen auch sagen können "ohne verbindliche Festlegungen, mit denen wir auf das 1,5-Grad Ziel kommen gibt es mit uns halt keine Koalition." Wenn man wirklich in den Meinungsendkampf mit der FDP muss, was wichtiger ist, keine Neuverschuldung oder Klimaziel erreichen, hätte man damit glaube ich ziemlich gute Chancen in der Öffentlichkeit. Das Argument "wir können unseren Kindern doch keine Schulden hinterlassen" zieht nicht so sehr, wenn man gleichzeitig beim Klimawandel Abstriche machen will.