Die erste Nacht
78m lang.
20m hoch.
64m Flügelspannweite im Atmosphärenflug.
Eine Bell-Beoing Osprey X ist ein majestätischer Anblick. Ein Kunstwerk der Raumflugentwicklung. Und sie bleibt der Tradition der Ospreys treu. Senkrecht hebt sie sich von einer geradezu winzig erscheinenden Startplattform in die Höhe, in einigen zehn Metern höhe stellen ihre Triebwerke sich aus der Senkrechten in eine Position, die ihr einen beeindruckenden Schub verleihen, Momente später verschwindet sie am Horizont. Nach wenigen Minuten hat sie eine Höhe von wenigen hundert Kilometern über der Planetenoberfläche erreicht und reduziert die Flügelspannweite so sehr, dass sie fast aussieht, wie ein Torpedo, der sich durch den Raum pflügt.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die gesamte Crew, immerhin 45 Personen, in den Vorbereitungen für den Cryoschlaf. Der Pilot programmiert den schnellstmöglichen Kurs zum Ziel, der Bordarzt versorgt die „Passagiere“ mit Zugängen für Nährlösungen, Elektrolyte und zur automatischen medizinischen Versorgung. Per Tachyonenkommunikation übermittelt der Copilot der Kommandozentrale am Bestimmungsort, alles verliefe planmässig. Nicht einmal 4 Stunden, nachdem der Vogel sich in die Lüfte erhoben hat, fallen die letzten Crewmitglieder in den Cryoschlaf und der Warpantrieb aktiviert sich selbstständig.
An Bord schlafen 35 interstellar gesuchte Häftlinge. Es ist alles dabei. Mörder. Vergewaltiger, vielleicht auch der ein oder andere Pirat. Die meisten Menschen würden es als Abschaum der Galaxie bezeichnen. Sie selbst sehen sich als Künstler, als Freibeuter, als Inbegriff dessen, was normale Menschen als Freiheit und Draufgängertum bezeichnen würde. Das sie dabei Grenzen überschritten haben, kümmert sie alle nicht. Und seit Jahrzehnten kümmert die Justiz nichtmehr, welche Grenzen überschritten wurden. Wer ein Menschenleben unrechtmäßig beendet wandert ins Arbeitslager. Wer einen Laib Brot stiehlt wandert ins Arbeitslager. Wer die komplette Crew eines Raumgleiters auslöscht, um an die Fracht zu kommen – wandert ins Arbeitslager. Gerecht oder ungerecht? Das ist keine Frage, auf die wir eine Antwort suchen sollten. Die 35 Menschen, die an Bord dieses Vehikels versammelt wurden um vom Hochsicherheitsgefängnis Seculon Prime ins Arbeitslager verlegt zu werden haben sich ihre Strafe sicher nicht mit dem Stehlen von Brotlaiben verdient. Sie haben das zehnfache, wenn nicht das zwanzigfache dessen auf dem Gewissen, was an Bord dieses Transports an Menschenleben versammelt ist. Und sie schlafen.
Auf diesen Haufen passen sieben Wächter auf. Was keine große Herrausforderung ist. Es erledigt sich praktisch im Schlaf. Die restlichen drei Besatzungsmitglieder sind der Bordarzt, Copilot und Pilot. Auch sie schlafen.
Obwohl wir also einen Gefangenentransport allererster Güte beobachten, sieht alles so aus, als könnte an Bord des silbernen Torpedos, der durch den Hyperraum schnellt, genausogut ein reiches Hochzeitspärchen auf dem Weg in die Flitterwochen sein. Oder eine politische Abordnung auf dem Weg zu einem Friedensgipfel. Fürwahr, es ist ein friedliches Bild, das wir von diesem Szenario zeichnen können.
Bis das Schiff unverhofft aus dem Hyperraum gerissen wird. Wäre die gesamte Crew nicht in Cryokammern in einer hochviskosen Flüssigkeit eingeschlossen, die Verzögerung hätte ihnen glatt die Haut vom Körper gerissen. Der Bordcomputer ist so programmiert, dass in einem solchen Fall die Cryokammern der Crew und der Wärter sofort entleert werden. Und so finden sich nur wenige Sekunden später zehn der Passagiere unseres Flugs auf dem Boden wieder.
„Himmelarschundzwirn. Was zur Hölle ist hier los?“, Pilot Simmons ist für sein etwas raues Gemüt bekannt. In all seiner Wut handelt er aber doch zielgerichtet und geplant. Er nimmt an der Konsole Platz und begutachtet die Anzeigen. „Ein Interruptorfeld hat uns aus dem Hyperraum geholt. Irgendwo hier hat jemand auf uns gewartet.“
300 Kilometer entfernt detoniert in einer langgezogenen, mehrfach verstärkten Röhre aus verwobenen Kohlenstoffnanoröhren eine Antimaterietreibladung hinter einem langgezogenen, vorne Spitz zulaufenden Projektil aus UWoB, einer enorm dichten und harten Legierung aus Uran, Wolfram und Bor. Ohne den Widerstand eines Gases, beschleunigt sie das Projektil im luftleeren Raum auf einige zehntausend Meter pro Sekunde. Zielgerichtet auf den Antrieb unserer majestätischen Osprey, deren Besatzung noch benommen vom harschen Abbruch des Hyperschlafs ist.
Noch bevor Simmons also die Chance hat, den Vogel bereit für ein Ausweichmanöver zu machen, schlägt die moderne Version einer Kanonenkugel in der Antriebssektion der Osprey ein. Momente später trifft eine weitere die Kommunikation. Kurz darauf landet ein Projektil im Cockpit und tötet Simmons und seinen Copiloten.
Worauf der Angreifer nicht vorbereitet war, sind die automatischen Selbstverteidigungssysteme der Bell-Boeing. Noch bevor das vierte Projektil den Bordcomputer ausschalten kann, feuern die Impulslaser zielgerichtet auf eben dieses. Nur wenige Metallatome verdampfen mit jedem Schuss der Laser von der Oberfläche des Metallprojektils und stoben in den interstellaren Raum. Doch bei unzähligen Impulsen pro Sekunde reicht der geringe Rückstoß der verdampfenden Atome, um das Projektil von seiner Bahn zu lenken und den Einschlag zu verhindern. Zwei vollautomatisch auf den Angreifer abgefeuerte Torpedos beenden schließlich dessen Existenz.
Da nach den Treffern in Kommunikation, Antrieb und Cockpit vom Bordcomputer in praktisch jedem Bereich um die Cryoschlafkammern herum Hüllenbrüche detektiert werden, aktiviert dieser das Notfallprogramm und reißt abrupt Die restlichen Passagiere aus dem Schlaf. Obwohl kein direkter Treffer im Passagierbereich erfolgt ist, herrscht an Bord ein heilloses Chaos. In einigen Teilen ist Feuer ausgebrochen. Das Löschsystem der Osprey reagiert zwar sofort und erstickt die Brände, indem es die betroffenen Bereiche mit einem schweren, nicht brennbaren Gas flutet, für einige der Passagiere ist das jedoch das Todesurteil, da sie zwischen Flammen und Schotten eingeschlossen sind. Einige versuchen durch das Feuer zu flüchten, andere ersticken.
Die Wärter haben nicht viel Zeit, zu realisieren, was hier vor sich geht, einen Plan zu entwickeln, wie die Situation zu lösen ist, und die nötigen Schritte einzuleiten. Aber innerhalb weniger Augenblicke haben die drei überlebenden Wärter sich die Kluften von Sträflingen übergezogen.
„Hör auf zu meckern, es ist unsere einzige Chance. Wir haben keine Möglichkeit an Waffen zu kommen und schätzungsweise leben noch fünfzehn von ihnen.“, Maverick ist ein erfahrener Gefängniswärter. Er weiß genau, wozu Straftäter fähig sind, wenn sie die Chance auf vorzeitige Entlassung wittern. Und Flint gibt ihm Recht: „Schwartz, hör uns zu. Sie sind uns zahlenmässig weit überlegen und wir sind unbewaffnet. Ja, wir sind im Nahkampf ausgebildet – aber die haben sich auch alle schonmal geprügelt. Und bei den herrschenden Zahlenverhältnissen reicht ein bisschen Kampfsport nicht, um lebend aus der Geschichte rauszukommen.“ Schwartz, der der unerfahrenste von den Dreien ist fügt sich schließlich: „Also, nur, damit ich alles richtig verstanden habe: Wir nutzen aus, dass wir uns kennen und sie nicht wissen, wer wir sind. Der Haufen kennt sich untereinander auch nicht, das heißt, sie haben keine Chance, auszumachen, wer auf ihrer Seite ist und wer nicht.“ Flint nickt zustimmend. „Wir manipulieren den Bordcomputer derart, dass unsere Cryokammern in den Schlafphasen, die der Bordcomputer regelmässig einleitet, nicht geflutet werden und wir wach bleiben können. Jede Nacht schalten wir unauffällig einen von ihnen aus.“ Maverick beendet die Ausführungen: „Sehr richtig, am Ende sind sie uns zahlenmässig nicht mehr überlegen, wir überwältigen den Rest. Früher oder später wird uns hier jemand aufsammeln. Der Zentrale wird nicht entgehen, dass wir irgendwo auf der Route hängen geblieben sind. Wir müssen nur so lange aushalten.“
Gerade, als der Plan im Heimlichen geschmiedet ist, ruft einer der Sträflinge im Versammlungsraum die Anarchie aus: „Alles klar Leute, plündert die Frachträume, an die wir rankommen. Irgendwo muss etwas sein, mit dem wir Party machen können.“ Er scheint gewusst zu haben, dass jemand die Route ausspioniert hat und auf den Transport gewartet hat: „Der Plan ging zwar nicht völlig auf, aber scheinbar hats die komplette Crew erwischt. Und früher oder später wird einer meiner Kollegen merken, dass was schief gelaufen ist und ein neues Schiff schicken. Wir müssen hier nur warten. Willkommen bei Con Air. Ich hab da mal nen Film gesehen - Ziemlich alter Schinken. Und kein Happy End. Wir machen das besser.“
Maverick, Schwartz und Flint haben drei toten Häftlingen ihre Uniformen übergezogen und schleppen sie in den Versammlungsraum. „Es hat wirklich alle erwischt. Wir haben sturmfrei!“ Nachdem im Frachtraum noch einige Alkoholreserven für das Personal des Arbeitslager versteckt waren, entbrennt eine rauschende Feier. Bis irgendwann auch der Letzte in die Cryokammer verschwindet. Nur drei Menschen bleiben wach...
