Philipp Lahm im Interview „Wir sind nicht da, wo wir hinwollen“
DFB-Kapitän Philipp Lahm spricht vor dem Spiel gegen die Vereinigten Staaten über die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, seine Bereitschaft zu einem Rollenwechsel - und warum Deutschland keinen Gegner fürchten muss.
Zwei Spiele sind gespielt bei dieser WM, die deutsche Mannschaft ist auf dem besten Weg ins Achtelfinale, und plötzlich gibt es eine Philipp-Lahm-Debatte. Irritiert Sie das?
Das ist ja nicht mein Thema, das ist ein Thema der Medien und der Experten. Ich stehe auf dem Platz und versuche, meiner Mannschaft weiterzuhelfen, so dass wir erfolgreich spielen. Das hat im ersten Spiel gut geklappt, im zweiten haben wir okay gespielt, aber nicht wirklich gut. Dann werde auch ich kritisiert, das ist ganz normal.
Wir können uns nicht erinnern, dass Sie schon mal wegen Ihrer Fehler im Fokus standen. Im Ghana-Spiel, aber auch schon vorher gegen Portugal sind Ihnen Schnitzer passiert, die man von Ihnen eigentlich nicht kennt. Können Sie die Kritik nachvollziehen?
Es muss immer alles sachlich sein und im Detail betrachtet werden. Dann habe ich damit keine Probleme. Im Nachhinein weiß ich auch, dass ich den Pass (der zum 2:1 für Ghana führte, d. Red.) vielleicht nicht hätte spielen sollen, das ist ja ganz klar. Aber so etwas passiert eben im Fußball: ohne Fehler keine Tore. Ich analysiere das ganz sachlich, ich schaue die Szenen an, ich überlege, was ich beim nächsten Mal vielleicht anders machen kann. Das Entscheidende aber ist: Was kann man als Mannschaft besser machen?
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Erst einmal, dass wir trotz allem viele Dinge richtig gemacht haben. Uns hat gegen Ghana manchmal das Konsequente gefehlt, was uns im ersten Spiel noch ausgezeichnet hat, dass wir zum richtigen Zeitpunkt die Tore gemacht haben. Die Möglichkeiten hatten wir dieses Mal auch. Wir hatten viele gute Aktionen, die uns ins letzte Drittel geführt haben, obwohl unser Aufbauspiel nicht optimal war. Dann waren wir aber nicht mehr so konsequent wie gegen Portugal.
Woran hat das gelegen?
Vielleicht waren wir nicht so konzentriert und aggressiv - was immer beides betrifft: Defensive und Offensive. In der Defensive haben wir uns auch wieder zurückgezogen und mehr auf Balleroberung konzentriert als auf Ballbesitz, aber gegen Portugal waren wir einfach in den Aktionen selbst aggressiver. Wir sind die Gegenspieler besser angelaufen. Das ist etwas, was uns normalerweise auszeichnet. Dann haben wir auch offensiv die Aggressivität, zum Torabschluss zu kommen.
In der Lahm-Debatte geht es auch darum, ob es überhaupt richtig ist, dass Sie auf der Sechser-Position spielen und nicht als Verteidiger. Wäre es für Sie eine Option, noch mal zu wechseln?
Für mich ist es immer eine Option. Es ist ganz klar, dass der Trainer die Aufstellung macht. Das war immer so und wird immer so sein. Ich habe zwar gesagt, dass ich mich als Sechser sehr wohl fühle. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich als Rechtsverteidiger nicht wohl fühle. Ich habe in dieser Saison einfach viel häufiger als Sechser gespielt, und wenn man mehr Spiele auf einer Position gemacht hat, dann hat man da natürlich mehr Sicherheit.
Wie unterscheidet sich die Sechser-Rolle in der Nationalmannschaft von der bei den Bayern?
Man kann Verein und Nationalmannschaft nicht wirklich miteinander vergleichen. Bei den Bayern greifen wir sehr hoch an, spielen sehr hohes Pressing, attackieren viel früher. Es ist klar, dass dann auch die Position des Sechsers anders ist, weil der Raum ganz anders genutzt werden muss.
Was heißt das für Ihr Spiel im Detail?
Die Verteidiger des Gegners sind nicht so schnell unter Druck, wenn man kein Pressing spielt. Dann hätten sie Möglichkeiten, die sie sonst nicht hätten, wenn sie unter Druck wären. Die Rolle als Sechser ist die gleiche, aber es sind eben solche Details, die unterschiedlich sind.
So oft haben Sie die Position in der Nationalmannschaft noch nicht gespielt, jedenfalls nicht mit der gleichen Intensität wie bei Bayern. Kann man sagen, dass Sie hier in der Rolle noch nicht so richtig verankert sind - eine WM ist ja auch etwas anderes als die Bundesliga?
Überhaupt nicht. Das spielt gar keine Rolle.
Woran merken Sie das?
Weil es immer noch das gleiche Spiel ist. Man kann auch nicht sagen, dass man in der Bundesliga nicht gefordert ist, außerdem habe ich auch in der Champions League auf dieser Position gespielt.
In der Nationalmannschaft selbst war zuletzt immer die Rede davon, dass das Mittelfeld noch auf dem Weg sei, sich zu finden. Wie weit sind Sie da?
Das betrifft die ganze Mannschaft. Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen. Auch das Portugal-Spiel war ja nicht perfekt. Es lief gut, und wir haben genau zum richtigen Zeitpunkt die Tore gemacht. Aber auch da hatten wir Phasen, in denen wir nicht so gut gespielt haben, wie wir das wollen. Wir sind ja sogar in der zweiten Halbzeit gegen zehn Mann ein bisschen unter Druck geraten.
Dazu kommt, dass Sami Khedira nicht im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Man weiß nicht, wie viel er spielen kann und wann er eine Pause braucht.
Ich weiß nicht, wie Sami sich fühlt. Für mich ist wichtig, und das hat auch der Trainer oft gesagt, dass alle bereit sind. Wenn man unsere ersten zwei Spiele gesehen hat, war das auch der Fall. Die Spieler, die reingekommen sind, haben frischen Wind gebracht, haben Akzente gesetzt. Das ist wichtig in so einem Turnier.
Gegen Ghana genügte ein Gegentor, um für Unordnung zu sorgen. Wie kann es sein, dass die Mannschaft so leicht die Stabilität verliert?
Ich habe nicht das Gefühl, dass wir nicht stabil sind. Klar kann man es negativ sehen, dass wir 1:2 in Rückstand geraten sind. Man kann es aber auch positiv sehen: Dass die Mannschaft unbedingt das Spiel drehen und gewinnen wollte. Das ist sehr positiv. Dass wir dann in der einen oder anderen Situation nicht mit Kopf agiert haben, sondern mit Wille und Leidenschaft - das kann passieren. Mir ist das so lieber, als wenn man ohne Herz agiert. Dann ist eine Mannschaft tot. Wir müssen den Mix finden: dass man mit Herz spielt, aber das Spiel immer noch unter Kontrolle hat.
Eine Viertelstunde lang, zwischen dem 1:1 und dem 2:2, konnte man aber weder Herz noch Hirn so richtig erkennen. Was hat Ihre Aufarbeitung dieser Phase ergeben?
Ich fand es nicht so dramatisch, das muss ich ganz klar sagen. Wir haben gegen keine schlechte Mannschaft gespielt, mit Sicherheit keinen Titelaspiranten, aber auch keine schlechte Mannschaft. Ghana ist nach dem 1:1 noch einmal richtig aufgekommen. Das ist keine leichte Situation, wenn man gerade erst in Führung gegangen war und eigentlich die Euphorie mitnehmen will. Eine Mannschaft muss bestimmte Rückschläge auch auf dem Platz erst einmal verarbeiten, das ist normal.
Das Thema Rückschläge und Widerstand beschäftigt die deutsche Mannschaft schon eine Weile. Das 4:4 gegen Schweden, das 1:2 gegen Italien bei der EM - überhaupt war bei einem Turnier zuletzt immer dann Endstation, wenn Sie in der K.-o.-Phase in Rückstand geraten sind.
Ist das wirklich so? Das weiß ich gar nicht so genau. Aber haben Sie mal registriert, welche Teams hier schon in der Gruppenphase ausgeschieden sind?
Glauben Sie, dass sich die Mannschaft in Sachen Widerstandskraft wirklich weiterentwickelt hat?
Ich habe erst einmal ein sehr gutes Gefühl, was unsere Mannschaft betrifft: dass das Team wieder zusammen ist und wirklich als Team arbeitet. Das kann man auf dem Platz spüren, so wie gegen Ghana in der Schlussphase. Aber auch sonst in unserem Camp. Nur so kann man auch Rückschläge verkraften. Im Endeffekt wird man es natürlich immer erst wissen, wenn es so weit ist.
Sie haben gesagt, die Mannschaft sei noch nicht da, wo Sie hinwollen. Was muss passieren, wenn man über das Ziel Weltmeisterschaft reden will?
Man kann an allem arbeiten, am Offensivspiel genauso wie in der Defensive. Aber wir haben eine sehr, sehr gute Basis, dass wir weit kommen können.
So ein Turnier hat ja auch eine eigene psychologische Dynamik. Worauf kommt es jetzt gegen die Vereinigten Staaten an diesem Donnerstag (18 Uhr / ZDF und WM-Liveticker) an?
Zuerst mal ist es gut, dass wir es in der eigenen Hand haben, Gruppenerster zu werden. Wir hatten vor vier Jahren eine ganz andere Situation, als wir gegen Ghana gewinnen mussten. Jetzt sind viele Spieler dabei, die so eine Situation schon einmal erlebt haben - auch vor zwei Jahren, als wir vor dem letzten EM-Spiel noch ausscheiden konnten, obwohl wir sechs Punkte hatten. Klar ist das jetzt auch noch möglich, aber da muss schon viel passieren. Ich glaube, die Mannschaft ist schon gereift daran, dass sie mit diesen Situationen umgehen musste. Jetzt wollen wir auf jeden Fall mit einem positiven Gefühl ins Achtelfinale einziehen. Wir wollen natürlich gewinnen, weil wir dann auch den Vorteil haben, dass es ins Südlichere geht und etwas kühler wird.
Das Tableau sieht ganz gut aus, haben Sie sich schon näher damit beschäftigt?
Ich habe irgendwann mal draufgeschaut. Und ich sehe bis jetzt die Mannschaft nicht, der man wirklich aus dem Weg gehen muss. Klar gibt es viele schwierige Gegner, Belgien zum Beispiel, wenn man Zweiter wird. Danach kann Argentinien oder Frankreich kommen, aber das ist egal. Wir müssen auf uns schauen und sagen: Wir sind Deutschland. Im ganzen Turnier gibt es bis jetzt keine Mannschaft, vor der wir uns verstecken müssten.
Auch nicht vor Brasilien oder Holland?
Nein. Natürlich sind das gute Mannschaften, die ihre Qualitäten haben, und gegen Ende des Turniers sind es immer 50:50-Spiele. Aber es ist sicher nicht so, dass diese Mannschaften gerne gegen uns spielen möchten.
Man hat insgesamt das Gefühl, dass bei diesem Turnier ein bisschen anders Fußball gespielt wird als vorher erwartet: mutiger, offensiver. Sind Sie überrascht - und muss sich die Mannschaft darauf einstellen?
Das Gefühl habe ich nicht. Ich glaube, dass viele Mannschaften trotzdem abwartend agieren, dass sie nicht wirklich hohes Pressing spielen und auch nicht über 90 Minuten Druck machen, weil es nicht möglich ist. Gerade, wenn man im Norden spielt.
Woran liegt es dann, dass so viele Spiele trotzdem einen ziemlich spektakulären Verlauf nehmen? An der Strategie? Oder rauben die Bedingungen so viel Kraft, dass mehr Räume und damit mehr Möglichkeiten entstehen?
Es ist beides. Viele Tore sind einfach gefallen, weil sie super herausgespielt wurden, andere haben Fehler gemacht. Das gehört einfach dazu. So ein Spiel wie bei uns gegen Ghana, wenn es am Ende so hin- und hergeht, ist dann nur noch Leidenschaft, Herz und Emotion. Das hat dann nicht mehr viel mit Taktik oder Strategie zu tun.
Was wird sich ändern, wenn die Mannschaft nicht mehr in so heißen Gefilden spielt - wird sie dann auch wieder früher attackieren?
Mal sehen. Das Schöne ist, dass wir den Mix einfach haben. Aus eigenem Ballbesitz Torchancen zu kreieren, aber auch abwartender zu spielen und über schnelle Gegenstöße zu kommen. Ich bin sehr, sehr zuversichtlich.
Sie klingen total überzeugt und optimistisch, dass es richtig weit geht.
Selbstverständlich. Ich kenne die Mannschaft und ihre Qualität, deswegen bin ich sehr optimistisch.
Und worauf freuen Sie sich jetzt bei der WM am meisten?
Immer auf das nächste Spiel, das ist immer das schönste. Mir sind manchmal ein bisschen viele Tage dazwischen, von mir aus könnte es auch schneller weitergehen. Eine WM ist einfach etwas ganz Besonderes, das darf man nicht vergessen. Jetzt sind gerade einmal zwei Spiele vorbei, wir wollen sieben Spiele hier bestreiten, also haben wir noch ein bisschen vor uns.
Das siebte soll aber diesmal auch das richtige sein.
Hoffentlich. Das andere brauchen wir nicht noch mal.