Na ja, ich denke letztendlich trennt uns wahrscheinlich 1) und 2), aber am meisten trennt uns wahrscheinlich, was wir unter Staat verstehen. Ich bin wie gesagt skeptisch, dass die individuellen Bürger eines Staates durch Zuwanderung große Wohlfahrtsverluste erleiden, weil es sich innerhalb eines Staatsgebildes relativ gut kontrollieren lässt, wie stark unsere Schicksale miteinander zusammenhängen. Dementsprechend halte ich den "Durchschnitt" nicht für entscheidend, weil ich glaube dass die Migranten sehr, sehr, sehr viel mehr gewinnen als die angestammte Bevölkerung verliert.
1) halte ich für wichtig, aber wahrscheinlich nicht so wichtig wie du. 2) halte ich wie gesagt bei Weitem für überschätzt, weil die typische Betrachtung die Heterogenität innerhalb der Einwanderergruppen nicht berücksichtigt und häufig die erfolglosesten im Blick hat, obwohl die für sich genommen eine deutliche Minderheit aller Einwanderer stellen. Wie gesagt: Der Zeittrend des Landes insgesamt ist positiv bei den gängigen Kriterien (PISA, Einkommen, Kriminalität); wenn Einwanderer wirklich so einen großen Einfluss hätten, dann würde ich erwarten dass wir das Gegenteil sehen. Aber in allen Kriterien sind wir vom status quo selbst einer Zeit, an die ich mich selbst noch gut erinnern kann (weshalb ich 20 Jahre als Beispiel gewählt habe) relativ weit entfernt.
Ich sage nicht dass sich in Deutschland nicht eine Menge ändern würde, wenn wir die deutsche Bevölkerung mit der türkischen oder ägyptischen tauschen würden. Ich sage allerdings dass die Kennwerte, die damit korrelieren, was du Entwicklung des Staates nennst, sich durch Migration maximal sehr langsam verändern, einfach weil wir ein großes Land sind und "Migrationshintergrund" vieles bedeuten kann, unter anderem eben auch erfolgreichere Gruppen als diejenigen, die man sich gemeinhin vorstellt, wenn man an den Begriff denkt. Der Effekt ist im Vergleich zu gesellschaftlichen Großtrends aber vernachlässigbar und das ist genau, was man durch PISA, PKS und BIP/Kopf sieht. Oder meinst du mit langfristig die ferne Zukunft, die wir alle nicht mehr erleben, aber evtl. unsere Kinder/Enkel?
Normatives:
Es geht mir hier gar nicht darum, was uns persönlich trennt. Ich finde deine Haltung ehrenwert und sympathisch - ich bin gegenüber Deutschen nicht per se solidarischer als gegenüber Menschen an sich.
Aber ich bin in hohem Maß am Erhalt der Leistungsfähigkeit des deutschen Staates interessiert, weil er die Institution ist, die für Millionen von Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert. Damit er das auch in Zukunft noch kann, sollte diese Leistungsfähigkeit erhalten bleiben.
Eine dauerhaft planlose Migrationspolitik schwächt den Staat langfristig - mindestens den Sozialstaat. Tatsächlich halte ich die Implikationen für weitreichender, weil ein weniger leistungsfähiger Staat ganz allgemein Freiheitsgrade verliert, über die wir als Gemeinschaft eine nachhaltig positive Rolle in der Welt spielen können - oder eben nicht.
Für mich besteht ein echter Konflikt zwischen Egalitarismus und Solidarität auf nationaler Ebene und der Offenheit des Staates nach außen. Du deutest an, dass man im Zweifelsfall die ersten beiden Prinzipien zugunsten der Offenheit zurückfahren sollte. Ich glaube nicht, dass das tatsächlich den Werten der Mehrheit der Bevölkerung entspricht - und das Staatsvolk ist der Souverän.
Die rechte Hälfte des politischen Spektrum hat tendentiell wohl kein Problem mit einer Stärkung des Äquivalenzprinzips, dafür aber sehr wohl mit Migration per se. Die linke Hälfte möchte möglichst offen für Migration sein, gleichzeitig aber Egalität und Solidarität stärken - was angesichts unserer Art von Migration ein Widerspruch ist.
Faktisches:
Ich habe nie auf "allgemeine Vorstellungen" von Migranten abgestellt und beziehe mich auch nicht auf Migranten per se oder fordere, Migration ersatzlos zu unterbinden. Insbesondere habe ich kein Problem damit, dass auch Migranten kommen, die sich schlecht integrieren - Migrationserfolg unterliegt einer Zufallsverteilung. Aber für mich bedeutet Migrationserfolg, dass der Nutzen (aufgefasst als fiskalischer Nutzen für den Staat) von Migranten im Mittel nahe dem der einheimischen Bevölkerung liegen sollte. Und dieses Ziel verfehlen wir deutlich.
Mir ist auch unklar, wie du darauf kommst, dass Deutschlands Entwicklung einem positiven Zeittrend unterliegt: Es ist unbestritten, dass wir fiskalisch eine gewaltige Nachhaltigkeitslücke zu bedienen haben. Und dabei sind externe Risiken wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, zweites Maschinenzeitalter usw. noch nicht eingerechnet.
Den Verweis auf oberflächliche Zeittrends empfinde ich als wenig zielführend, weil sie stark durch externe Effekte überlagert werden - Wiedervereinigung, EU, Weltwirtschaft usw.
Insbesondere den Verweis auf PISA finde ich skurril. PISA zeigt den negativen Einfluss von Migration auf das Humankapital für quasi alle Einwanderungsländer, die nicht stark selektieren.
Deutschland belegt bei PISA 2015 in Naturwissenschaften Platz 16 mit 509 Punkten. Auf Platz 2 liegt Japan mit 538 Punkten.
Wenn man versucht aus den PISA-Daten das Ergebnis für die autochtone Bevölkerung anzunähern (Nicht-Migranten, die zu Hause vorwiegend die Landessprache sprechen), dann kommen wir mit 530 Punkten auf Platz 9 (ohne signifikanten Unterschied zu Platz 5). Auf Platz 2 liegt Estland mit 541 Punkten.
Die Nicht-Migranten deutscher Erstsprache erreichen 530 (OECD-Durchschnitt 502), die Migranten erster Generation 434 (OECD 447), die Migranten zweiter Generation 461 Punkte (OECD 469).
https://www.oecd-ilibrary.org/pisa-...ent/publication/9789264266490-en&mimeType=pdf
Was in der PISA-Debatte immer zu kurz kommt, ist die grundlegende Erkenntnis, dass sich die PISA-Ergebnisse zu großen Teilen aus der Zusammensetzung der Bevölkerung und deren inhärenter Leistungsfähigkeit erklären, statt aus der speziellen Qualität des Bildungssystems. Selbstverständlich besteht zwischen Bildungssystem und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung ein Zusammenhang. Er ist aber keineswegs so trivial, wie oft unterstellt wird: gute PISA-Ergebnisse äquivalent zu gutem Bildungssystem. Es gibt zwar Qualitätsunterschiede zwischen den Bildungssystemen. Die sind jedoch - insbesondere zwischen ähnlichen Staaten - kleiner als die PISA-Ergebnisse vermuten lassen könnten. Und sie lassen sich aus den Ergebnissen auch nicht ohne weiteres erkennen.
Was meine ich mit inhärenter Leistungsfähigkeit? Standardisierte Tests wie PISA sind g loaded: Sie korrelieren stark mit dem allgemeinen Faktor der Intelligenz. Wie stark eine Person in einem solchen Test abschneidet, wird zu einem großen Teil durch ihre allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz) erklärt, statt durch die Qualität der Lehre, die sie erhalten hat. Auf der Ebene von Individuen unkontrovers und allgemein akzeptiert. Auf der Ebene von Populationen, z.B. wenn man Länder miteinander vergleicht, wird dieser Zusammenhang gern vernachlässigt. Das ist dann angebracht, wenn es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass die betrachteten Populationen sich in ihren durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten deutlich unterscheiden. Aber genau das ist der Fall, wenn wir z.B. über Migrationsströme zwischen Dritte-Welt-Ländern, Schwellenländern und Industrieländern sprechen: Es ist ein wohlbekannter Fakt, dass unterschiedlich entwickelte Länder deutliche Unterschiede im durchschnittlichen IQ aufweisen.
Einer der Gründe, weshalb Migranten aus bestimmten Ländern es in der Schule schwer haben, ist ganz einfach, dass ihre allgemeinen kognitiven Fähigkeiten geringer sind. Nun wissen wir, dass die durchschnittliche Intelligenz der Bevölkerung mit zunehmender Entwicklung steigt (Flynn-Effekt). Im Laufe der Zeit sollte sich also die durchschnittliche Intelligenz von Migranten der übrigen Bevölkerung im Aufnahmeland anpassen. Das funktioniert aber nur bei vollständiger Assimilation - wenigstens in den relevanten Faktoren. Leider kennen wir die Faktoren, die diese Intelligenzsteigerung hervorbringen, nicht allzu genau. Wir wissen auch nicht, wie schnell die Anpassung unter welchen Umständen sich vollzieht.
Die sporadischen Erkenntnisse, die mir dazu bekannt sind, lassen mich vermuten, dass signifikante Unterschiede für ziemlich lange Zeit (mehrere Generationen) persistieren. Damit verlieren wir bei fortgesetzter Migration zunehmend an Intelligenz, die Staat und Gesellschaft eigentlich benötigen, um sich weiterzuentwickeln.
Zur Illustration: Angenommen, der Unterschied zwischen Deutschland ohne Migranten und Deutschland mit Migranten beträgt 20 PISA-Punkte, also ein Fünftel der Standardabweichung. Ziehen wir zur Vereinfachung PISA als vollwertigen Proxy für den IQ heran, dann beträgt der Unterschied 3 IQ-Punkte. Das klingt erstmal nicht nach viel - für ein Individuum ist dieser Unterschied unbedeutend. Aber wir sprechen hier über in der Bevölkerung annähernd normalverteilte Größen. Schon relativ kleine Verschiebungen des Erwartungswerts haben am Rand deutliche Auswirkungen.
Beträgt der durchschnittliche IQ nur noch 97, statt 100, dann haben nur noch 6 Prozent, statt 9 Prozent der Bevölkerung einen IQ von 120. Man benötigt für ziemlich viele Tätigkeiten einen IQ in dieser Größenordnung, um sie gut auszuführen. Da ist es durchaus ein gesellschaftlich relevantes Problem, wenn man von denen schon mal ein Drittel weniger hat.
Genau so ist es ein Problem, wenn 9, statt 6 Prozent der Bevölkerung einen IQ von unter 80 haben, also lernbehindert sind. Solche Leute haben große Schwierigkeiten überhaupt die Schule abzuschließen, geschweige denn eine produktive Tätigkeit auszuüben, die über simple Tätigkeiten hinausgeht.
Das alles passiert vor dem Hintergrund, dass unsere Welt komplexer wird und Tätigkeiten eher anspruchsvoller als einfacher werden. Einige spekulieren bereits über den Kollaps der Erwerbsarbeit. Kaum jemand bestreitet, dass es in Zukunft immer schwieriger werden wird, ein Leben lang denselben Job zu machen. Es werden also zukünftig höhere Anforderungen an die geistige Flexibilität und Lernfähigkeit gestellt werden, um am Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein.
Und am Arbeitsmarkt hört es ja nicht auf. Der IQ beeinflusst quasi alle erwünschten Outcomes positiv: Er erhöht allgemein die Produktivität, reduziert Kriminalität, verbessert Sozialkompetenz und Gesundheit - die gesteigerte Lebenserwartung ist aus fiskalischer Sicht der einzige Nachteil.