Ich erinnere nochmal daran: bei anpfiff ist ein großer teil der bedingungen festgelegt, die mit über den ausgang eines spiels entscheiden - diese sind dem außenstehenden aber nicht bekannt, darum erscheint der zufall für ihn tatsächlich mächtiger, als er bei kenntnis über diese bedingungen erscheinen würde.
Aber man kann durch genaue beobachtung nachträglich eine ziemlich gute kenntnis über diese bedingungen erlangen: welche taktik haben die teams gewählt, wie sind die einzelnen spieler eingestellt usw.?
Diese fakten sind in dem moment geschaffen, in dem das spiel losgeht und würden sich auch bei einem erneuten anpfiff unter identischen bedingungen nicht ändern.
Jetzt treten auf dem platz natürlich ereignisse ein, die nur zum teil durch diese fakten erzwungen werden, der rest ist zufall.
Und wie groß dieser rest ist, das ist in der tat eine glaubensfrage.
Ich hab da von spiel zu spiel meine klare meinung und urteile zb ex post:
Deutschland - Portugal: coinflip mit leichten vorteilen für Deutschland.
Deutschland - Griechenland: 80-20, konservativ geschätzt, eher mehr.
Deutschland - Italien: coinflip, leichter vorteil Italien, hätte beim stand von 0:0 aber durch gute taktische reaktion Löws in einen leichten vorteil Deutschlands umschlagen können.
Ich denke zudem, dass Deutschland durch eine bessere taktische ausrichtung einen wesentlichen vorteil hätte erreichen können.
Spanien - Portugal: 60-40.
Spanien - Italien: 80-20! Wie soll Spanien dieses spiel verlieren? Durch großes glück Italiens, anders gehts nicht.
Das sind alles persönliche einschätzungen und man kann völlig anderer meinung sein. Aber ich nehme für mich zumindest in anspruch, eine ganz gute erklärung dafür zu haben.
Ich sehe es als fundamentalen irrtum, dass du beim aufeinandertreffen zweier sehr starker teams automatisch einen coinflip unterstellst.
Das ist in meinen augen nicht der fall.
Beispiel: Barca und Real sind immer zwei sehr starke vereine. Es ist dennoch kein zufall, dass Barca in drei oder vier jahren hintereinander den clasico gewinnt. Da steckt schon system dahinter. Ebenso wenig ist es ein zufall, dass der gewinner des clasico meistens auch meister wird.
Offenbar gelingt es selbst auf dem niveau und bei der leistungsdichte immer wieder mannschaften, sich einen systematischen vorteil zu erarbeiten und diesen konsequent auszunutzen.
Spanien hat das geschafft: sie spielen ein system, das sie nach vorne unberechenbar macht und im selben zug die wahrscheinlichkeit eines gegentreffers minimiert.
Ich stimme dir darin zu, dass Portugal mit einer exzellenten mischung aus pressing und raumaufteilung und ihrem schnellen umschalten einen starken konter dagegen aufbieten konnte, der beinahe gestochen hätte. Darum hatte Spanien in diesem spiel in der tat viel mehr glück als zb gegen Italien.
Denn Italien hatte keinen solchen konter zu bieten. Im gegenteil, sie haben sich gegen einen überlegenen gegner zu sehr auf ihr eigenes spiel verlassen - ohne diesen fehler ist Prandelli für mich der überragende trainer dieses turniers. Doch das war übermütig: wenn du gegen das spielstärkste team aller zeiten antrittst, brauchst du zu aller erst ein konzept, um das spiel des gegners zu zerstören.
3. Gegentore
Ok, man kann nicht behaupten, die Gegentore hätten nicht weiter von rechts weg sein können und auch ich predige immer, dass Defensive bei den Stümern anfängt (und bin daher kein Polid-Hater, weil ich finde, dass er defensiv immer sehr stark gespielt hat), allerdings hatte das 1:0 dann imo wieder nichts mit dem Mittelfeld und Sturm zu tun. Die Abwehr stand hier gut, egal ob Müller oder Reuss außen gewesen wären und ein individueller Fehler hat eine Chane ermöglicht, die es einfach nicht geben darf. Das ist Ballbesitz Deustchland oder Ecke/Einwurf, alles andere ist persönliches Versagen. Zuerst Hummels und dann Badstuber, der ja auch am Mann war und nicht aufgrund des Systems zu weit weg von Bolatelli.
Beim 2. Tor ist das etwas komplexer, allerdings wurde hier ja das Mittelfeld überbrückt in einem Konter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Abwehr hier anders gestanden hätte, wenn Müller oder Reuss statt Kroos auf dem Platz gestanden hätten. Hier bin ich über weitere Meinungen gespannt.
Ich finde, du unterschätzt die taktischen implikationen dieser szenen bei weitem.
1. gegentor: Pirlo darf völlig unbedrängt einen ball spielen, der sechs(!) deutsche spieler überbrückt: plötzlich ist nur noch die viererkette hinterm ball gegen zwei italienische stürmer. Das allein ist schon eine riskante situation.
Im nächsten schritt muss Boateng rausgehen, hat aber zunächst keine unterstützung, kann deshalb nicht direkt draufgehen, weil das zu riskant wäre. So kann Chiellini den ball ungefährdert an Cassano durchreichen, der wiederum Hummels aus dem zentrum zieht, wodurch dort eine prekäre 1-gegen-1-situation entsteht.
Ok, dann lässt Hummels sich ausspielen und Badstuber verliert das kopfballduell. Das sind individuelle fehler, ja, aber die ganze brisanz der situation ist hochgradig taktisch.
2. gegentor: Wir haben ecke. Es sind fünf deutsche im strafraum gegen gerade einmal sechs italiener, wovon einer auch noch den pfosten bewacht. Im rückraum haben wir keine spieler, die einen abtropfenden ball aufnehmen könnten. Dass Italien hier in ballbesitz gerät und kontern kann, ist durch unsere taktische aufstellung kein pech, sondern wahrscheinlich!
Montolivo kriegt wiederum rechts den ball und hat platz, um unbehelligt vom eigenen strafraum einige schritte zu gehen und dann ohne bedrängnis passen zu können. In diesem moment verteidigen in der eigenen hälfte einzig Lahm und Podolski gegen Balotelli - eine alles andere als optimale taktische konstellation.
Dann ist es halt falsches stellungsspiel: Lahm hebt das abseits auf und guckt auf einen ball, den er nicht erreichen kann: kardinalfehler. Ich tendiere aber eher dazu, dass Lahm in der situation abwehrchef ist und Podolski, dessen defensivarbeit du lobst, sich an dessen position auszurichten hat, dh er muss hier tiefer stehen und in dem moment, wo Balotelli startet, ebenfalls tempo aufnehmen, um ihn bei der ballannahme entscheidend zu stören, bis Lahm zur stelle ist. Dass das nicht funktioniert, kann man als individuellen fehler sehen, aber auch als fehlen einer klaren taktischen absprache.
Ich sage nicht, dass die tore Löws schuld sind. Aber ich sage, dass sie nicht ohne taktische schwächen entstanden wären, für die letztlich Löw verantwortlich ist.
Auch Spanien hat gegen Italien individuelle fehler gemacht: verlorene kritische zweikämpfe, fehlpässe, stellungsfehler. Aber Spanien war insgesamt so gut eingestellt und so spielstark, dass sie diese fehler kompensieren konnten - wie, das habe ich in meinem ersten beitrag kurz umrissen.
Und das sind in erster linie basale taktische möglichkeiten (tiefere grundstellung, raumaufteilung, pressing), die auch uns zur verfügung standen, und die nicht von der besonderen qualität der spanier abhängen.
Warum hat denn Löw keine Weltklasse für die Mannschaft? Weil wir 2 Mal gegen Spanien verloren haben und EINMAL ein Konzept nicht aufgegangen ist, welches - ich wiederhole mich - ja korrigiert wurde und es halt unglaubliches Pech war, dass wir dann schon 2 Toren hinterherrennen mussten.
Löw hat das Deutsche Team von Platz 20 auf Platz 3 oder 2 in der Weltrangliste geführt, wir hatten 15 Siege in Folge, was - wie oben beschrieben - nicht ohne eine extrem hohe Siegwahrscheinlichkeit = auch gute Leistung vom Trainer möglich gewesen wäre.
Ähem, hier wischst du dir die realität aber zurecht.
Gemessen am marktwert des kaders (ein besseres kriterium kenne ich nicht) sind wir nach Spanien die nummer 2 der welt. Ein 2. oder 3. platz in der weltrangliste ist also der erwartete platz, jedoch kein overachievement.
Und nun zu sagen: JETZT brauchste aber den großen, den Van Gaal, Mourino oder wen, um den Titel zu holen, ist doch auch absurd. Dann schau doch nach 96, bei Vogts wurde doch keine Gelegenheit ausgelassen, ihn als Witzfigur abzustempeln. NIEMAND hätte gesagt "Ja, Vogts ist GENAU der Weltklasse-Trainer, GENAU die Persönlichkeit, die Deutschland braucht, um Titel zu holen.
Aber es besteht doch wohl kein zweifel darüber, dass wir unsere chancen auf den sieg steigern, wenn wir einen trainer holen, der seine weltklasse bewiesen hat, oder?
Und das hat Löw eben nicht.
Es fordert doch wahrhaftig niemand, dass wir unbedingt gegen Spanien gewinnen. Aber nimm doch dein paradebeispiel Portugal: die haben sich in den letzten jahren nicht grad als stärker als wir erwiesen, trotzdem haben sie in meinen augen gegen Spanien zweimal besser ausgesehen, einmal sogar sehr viel besser.