@Gustavo das hast du schon mehrfach gesagt. mag sein. in meinem fall ist es so, dass ich aufgrund von umständen (wiederholt) mit mehreren menschen reden musste die von sich selbst sehr deutlich und glaubhaft betont/behauptet haben, dass sie die AfD wählen. und jedes einzelne mal war es so, dass sie mir sehr deutlich vermittelt haben, dass sie eigentlich die union wählen würden, wenn die union nicht mit merkel linksgrün geworden wäre.
klar gibt es auch die ecken in denen die AfD über die kümmererschiene punktet. klar gibt es diejenigen, die die AfD exakt wegen ihrer kompromisslosen ausländerfeindlichkeit und ihrem "zurück zu damals als alles toll war" wählen. aber alle die ich persönlich über mehr als eine interaktion kennengelernt habe, waren solche menschen, die in einem anderen jahrzehnt einfach als konservative arbeiterschaft durchgegangen wären, die SPD oder Union gewählt hätte. denn ja, ausnahmslos alle haben gesagt "eigentlich union/SPD, aber immigration" oder "…aber linksgrün/zigeunerschnitzel/whatever."
das ist eine enorm emotional aufgeladene sache, in deren kern häufig steht, dass diese menschen das gefühl haben, dass für jedes nischeninteresse die welt in bewegung gesetzt wird (gendern, trans-rights, ukraine, umwelt, whatever), aber dass ihre interessen, befindlichkeiten und ängste "der politik" vollkommen egal sind.
vielleicht verstehe ich dich auch falsch, aber … wo nehme ich sie denn nicht ernst?
Du verstehst mich ein bisschen falsch, aber der Post war wahrscheinlich auch nicht klar genug darin, was ich ausdrücken wollte. Es ist ein bisschen tricky, weil ich tatsächlich nur eine bestimmte Art von AfD-Wählern meine. Wenn du dir das ideologische Spektrum eindimensional vorstellst* dann gibt es Wähler, die liegen in ihren Einstellungen einfach deutlich jenseits rechts der Union. Das Problem, wenn man über Wähler und Wahlabsicht redet, ist dass allgemein der Maßstab angelegt wird, Wähler wüssten schon was sie tun und würden sich tatsächlich immer für die Partei entscheiden, die ihren eigenen Einstellungen am nächsten kommt. Was in der Öffentlichkeit relativ wenig beachtet wird (obwohl die Politikwissenschaft darauf seit Jahrzehnten hinweist) ist die Tatsache, dass es sowas wie eine Parteiidentifikation gibt und diese zumindest ab einem bestimmten Alter (und da reden wir nicht über 50, sondern eher so Mitte 20) bei den meisten Leuten sehr stabil ist.
Der Witz ist: Es gibt eine nicht unbeträchtliche Menge an Leuten, die Parteiidentifikation Partei X angeben, deren Einstellungen aber eigentlich besser zu Partei Y passen. Trotzdem wählen diese Leute traditionell sehr häufig eben trotzdem Partei X. In Deutschland waren die Grünen das beste Beispiel: Relativ lange konntest du sehen, dass bei älteren Leuten, deren Parteiidentifikation sich schon gebildet hat bevor es die Grünen als Partei gab, fast keiner grün gewählt hat, obwohl durchaus einige Einstellungen hatten, die besser zu den Grünen gepasst hätten als zu den anderen Parteien. Das Phänomen erledigt sich langsam weil mittlerweile nur noch die ältesten Kohorten alt genug sind, dass sie eine stabile Parteiidentifikation entwickelt haben bevor die Grünen existierten.
Heute sehen wir die AfD in einer ähnlichen Rolle: Es gab zwar immer wieder Parteien wie die AfD in der BRD (NPD in den 60ern, Republikaner in den 90ern), aber erst die AfD hat sich dauerhaft als politische Kraft etabliert. Erst dadurch wurde die AfD überhaupt zu einer realistische Option für Leute, die eigentlich schon eine andere Parteiidentifikation hatten, für die ideologisch aber die AfD auch in Frage käme. Was wir jetzt sehen ist dass die AfD (wie übrigens viele andere rechtspopulistische Parteien in Europa) nach und nach einen großen Teil derjenigen einsammelt, deren Einstellungen weit rechts von der rechtesten etablierten Partei im jeweiligen politischen System steht. Diejenigen, die keine starke Parteiidentifikation haben, sind relativ leicht zu erreichen (übrigens einer der Gründe, warum die AfD im Osten so viel besser abschneidet als im Westen, weil dort die Parteiidentifikation durch die Bank schwächer ist), während der Wechsel bei denjenigen mit starker Parteiidentifikation viel seltener klappt.
Was ich mit ernst nehmen meine ist dass über AfD-Wähler so geredet wird als wäre AfD wählen so eine Art Geisteskrankheit, die man irgendwie heilen könnte wenn man den Leuten nur erzählt, wie irrational das eigentlich ist. Und ich würde gar nicht abstreiten, dass das Programm der AfD in großen Teilen tatsächlich irrational ist (wir sehen gerade bei Trump, wie es aussieht, wenn jemand auf Basis von total irrationalen Vorstellungen regiert), aber das ändert ja nix daran dass Wähler diese irrationalen Vorstellungen teilen. "Rechtspopulismus" ist wahrscheinlich besser charakterisiert als eine Mischung aus Inhalten und einem gewissen modus operandi, wie man Politik macht, aber es gibt in jedem Fall eine beträchtliche Menge an Wählern, denen ideologisch eine rechtspopulistische Partei wie die AfD am nächsten ist, genau wie es bspw. eine Menge Wähler gibt die ideologisch der Sozialdemokratie am nächsten sind. Die Union würde niemals ernsthaft leugnen, dass es Leute gibt die ideologisch links der Mitte stehen und für die die SPD die bessere Wahl ist, genau wie die SPD nicht denkt jeder Christdemokrat ist eigentlich ein Sozi der nur nicht richtig verstanden hat dass die Sozialdemokratie seine materiellen Interessen besser vertritt. Nur bei der AfD gehen alle immer davon aus, die Wähler sind grundsätzlich irgendwelche Verwirrten, die man "zurückholen" müsse, ohne Rücksicht darauf was diese Leute tatsächlich denken.
Was die Eigenbeschreibung angeht: Diese Leute gibt es, aber ich wäre vorsichtig gesagt sehr skeptisch Leuten gegenüber, die sich eine fiktive Union ohne Merkel wünschen, die Politik "für die Mehrheit" macht. Bei genauerer Betrachtung merkst du relativ schnell, dass der Fokus nicht auf den "Minderheitenthemen" liegt, gegen die die meisten Leute eigentlich gar nichts wirklich haben und die bei genauerer Betrachtung häufig weder wirklich kleine Themen (Klima, Ukraine) sind, noch sind es Themen bei denen die Wünsche von Minderheiten nach Anerkennung um eine endliche Resource konkurrieren (Gendern, Trans-Problematik). Meistens brauchen die Leute nicht sonderlich lange, bis sie auf den eigentlichen springenden Punkt kommen: Es geht gar nicht so sehr darum dass andere zu viel Beachtung bekommen, man selbst bekomme nur zu wenig. Das denken aber tatsächlich mittlerweile sehr viele gesellschaftliche Gruppen und ich habe noch kein überzeugendes Konzept gesehen, wie die Politik dagegen effektiv etwas tun kann. Und das ist natürlich auch kein Gefühl, mit dem Deutschland so alleine steht; das ist auch weit verbreitet in Ländern, in denen die konservativen Parteien deutlich nach rechts gerückt sind; man denke nur etwa an den UK.
*was ein bisschen eine Vereinfachung ist, aber eine die tatsächlich erstaunlich gut Komplexität reduziert ohne deshalb die Wirklichkeit zu sehr zu verzerren