Weißt du Gustavo, ich halte recht viel von dir. Bei einigen anderen hier ist es mir egal, wenn sie quantitative Evidenz, die nicht ihrer Meinung entspricht, in den Wind schießen. Von dir würde ich aber erwarten, dass du a) etwas gegenläufiges präsentierst um mich zu überzeugen, oder b) so ehrlich bist, zuzugeben, dass dir - egal wie die Empirie aussieht - Gerechtigkeit bzw. deine persönliche Interpretation davon in diesem Punkt wichtiger ist. Ich denke nicht, dass das, was du hier gerade tust, dem Diskussionsstil zuträglich ist.
Zudem stellt es in letzer Konsequenz den Sinn von quantitative empirischer Forschung als ganzes in Frage. Ich war immer der Auffassung, dass empirische Sozialforschung eben auch dazu dienen sollte, Wegweiser für die politische Entscheidungsfindung zu geben. Die von Koopmans aufgezeigten Makroeffekte sind natürlich die Folge einer Vielzahl an Mikroeffekten. Ob das Kopftuch in Schulen zu diesem Set gehört, weiß ich nicht - ich habe aber bisher auch einfach kein überzeugendes Gegenargument gehört. Wenn ich mich in meinen Ansichten also nicht durch durchaus ausführliche und gut gemachte Makrostudien leiten lassen darf, wodurch dann?
Zum Rest deiner Argumentation (wenn ich es richtig verstanden habe):
1)
Du schreibst, dass ein schulisches Kopftuchverbot in der Praxis ungerecht war/ist, weil es in einigen Regionen Deutschlands faktische Bevorzugungen des Christentums gab. Soweit ich weiß, war dieses Problem eine ganze Zeit lang durch ein Karlsruher Urteil gut gelöst. Es machte Entscheidungen dieser Art zur Ländersache mit der Bedingung dass sie Allgemeingültigkeit besitzen sollen. Heißt: Bundesländer, die es mit der Trennung von Staat und Religion im Unterricht ernst meinen, können religiöse Symbole generell verbannen (dazu gehören ausdrücklich auch Halsketten etc.), andere müssen dementsprechend Symbole aller Religionen zulassen. Mit einer solchen Regelung könnte ich persönlich gut leben, auch wenn ich eine strikte Trennung von Staat und Religion bevorzuge (und das diversen Bundesländern nahelegen würde, würde meine Meinung zählen).
Seit 2015 wurden allerdings landesweite Kopftuchverbote untersagt. Kopftücher können jetzt nur noch auf Schulebene verboten werden, und nur dann wenn sie den "Schulfrieden gefährden" (Eltern äußern in großer Zahl Unmut). Dass ich von dieser Gesetzgebung nicht viel halte, sollte klar sein.
Zur Frage der Gerechtigkeit siehe unten. Im Übrigen danke für den Vertrauensvorschuss. Ich fürchte du wirst mir hier nochmal einen geben müssen, wenn ich dir versichere, dass ich so sehr für die Ausrichtung von Policy an Empirie bin, dass ich mich fast als Technokrat sehen würde. Ich glaube wirklich nur einfach nicht, dass die Empirie sich auf diese Frage runterbrechen lässt, weil sie so extrem kleinteilig ist, genau wie ich bspw. aus der Empirie bzgl. Freihandel (den ich insgesamt für sehr gut erachte) ableiten würde, dass jede einzelne Handelsschranke ein Fehler ist.
Zur Substanz: Ich denke das verengt die Sache ein bisschen zu sehr. Ich rede eher von der Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz und was sie in Deutschland alles ermöglicht. Klar, heute gibt es in Schulen kein großes Kontingent an Leuten mehr, die ihren christlichen Glauben ostentativ zeigen wollen, deshalb ist dieser ganz konkrete Fall relativ einfach zu regeln (das wäre allerdings auch lange Zeit in der BRD undenkbar gewesen; meine Freundin bspw. war auf einer Schule, die von Nonnen geleitet wurde, da wäre nie jemand auf die Idee gekommen in den Habit zu verbieten). Aber überall wo in der Geschichte der BRD Religion mit anderen Grundrechten kollidiert ist, hat man der Religion immer mindestens einen gewissen Vorbehalt gewährt, teilweise viel weiter als gerechtfertigt war und ist (siehe bspw. unsere gesetzlichen Regelungen bzgl. Abtreibung). Davon hat lange Zeit nur das Christentum (und, in viel geringerem Maße, das Judentum) profitiert. Jetzt zu sagen: Hoppla, Religion ist uns nicht mehr wichtig weil wir nicht mehr religiös sind ist imho nicht schwer als Diskriminierung auszulegen, wenn man nicht in der Mehrheitsgruppe ist. Und es ist nun mal besonders schwierig, weil wir mittlerweile an einem Punkt sind, wo der Islam nicht mehr einfach nur "das Fremde" ist, sondern eine deutlich negative Konnotation hat (siehe etwas wie PEGIDA, das sich so wohl nie hätte entwickeln können, wenn wir es nur mit einer Abstration wie "das Fremde" zu tun hätten). Ich befürchte ein bisschen, dass wir Leute nur noch mehr dazu drängen, sich selbst primär als "Muslim" wahrzunehmen statt als Deutscher oder Sozialdemokrat oder Spieltheoretiker oder was auch immer, wenn wir dem Islam eine so große Wichtigkeit zuschreiben. Wie willst du dem entgehen, wenn du nun mal türkisch aussiehst und sagen wir mal Korhan heißt? Ich fände es unclever, wenn wir Muslime zu sehr dazu zwingen würden, sich zwischen diesen Identifikationen zu entscheiden, indem wir den Staat so sekular wie möglich machen. In meinem Idealbild ist der Staat so sekular wie nötig und die Religion wird dadurch zurückgedrängt, dass sie an Popularität verliert, so wie es beim Christentum auch passiert ist, nicht dadurch dass wir das dekretieren.
2)
Du schreibst, dass eine Regelung, wie sie oben steht, immer noch ungerecht ist, weil es für eine kopftuchtragende Muslima viel schwerer ist, auf das Kopftuch zu verzichten, als für eine Christin auf die Halskette. Nun, ich persönlich würde es als Errungenschaft werten, dass wir das Christentum soweit "gezähmt" haben, dass es das Leben der Anhänger nicht mehr bis ins kleinste Detail "managed". Vor diesem Hintergrund leuchtet es mir nicht ein, warum wir dem Anspruch des fundamentalistischen Islams nachgeben sollten, über die Kleidung seiner Mitglieder zu bestimmen?
Wir reden hier über Menschen, für die es nicht möglich ist ein verdammtes Tuch für ein paar Stunden am Tag abzulegen. Das Tuch, die "Bedeckung der Blöße" (ind. Zitat Fereshta Ludin*) ist wichtiger, als die Trennung von Staat und und Religion. Soweit ich die Argumentation von islamischer Seite richtig verstanden habe, geht es diesen Menschen auch in der Regel nicht um die Ungleichbehandelung von Christentum und Islam. Sie wollen nicht, dass Neutralitätsgesetze konsequent umgesetzt werden. Sie haben genau ein Ziel: Mehr Rechte für die eigene Interpretation des Islams.
Dass der Islam (bzw. weit verbreitete Auslegungen des selbigen) das Leben seiner Mitglieder derart stark "kontrolliert" ist meiner Meinung nach Teil des Problems. Gerade mit Hinblick auf Koopmans Resultate ist es deshalb überhaupt keine gute Idee, auf Forderungen aus dieser Richtung einzugehen.
*Muslimische Lehrerin, die den Kopftuchstreit 1998 losgetreten hat.
Anmerkung:
Meine Position zu Religionen generell ist vermutlich nichtmal so drastisch, wie du sie formulierst. Ich denke sie können sinnstiftend sein und gutes bewirken (ja, auch der Islam). Man sollte sie aber tunlichst aus allen staatlichen Angelegenheit und Aufgaben heraushalten.
Du missverstehst meine Position. Mir geht es nicht um Gerechtigkeit für einzelne Personen oder für eine Religion, ich argumentiere rein funktionalistisch. Wenn ich davon überzeugt wäre, dass das Erlauben von Kopftüchern ceteris paribus insgesamt der Integration abträglich ist, wäre ich dafür es eben nicht zu erlauben. Ich bin mir natürlich auch im Klaren darüber, dass einige derjenigen, die hier Rechte für den Islam fordern, in einer Situation unter umgekehrten Vorzeichen der Minderheit diese Rechte niemals zugestehen würden. Ich finde es auch bedauerlich, dass es Leute gibt, die ihre Religion so sehr verinnerlicht haben, dass es ihnen nicht möglich ist, das Kopftuch als pure Symbolik zu erkennen. Mir wäre es lieber, die Gruppe sekularer (oder extrem moderater) Muslime wäre groß genug, dass man mit ihnen sinnvoll verhandeln könnte. Leider ist das halt momentan nicht die Situation, in der wir uns befinden und deshalb argumentiere ich dafür, jungen Muslimen nicht den Eindruck zu vermitteln, sie werden anders behandelt als die Mehrheitsgesellschaft, weil uns ihre Religion nicht passt. Das Christentum wurde aus unserer Gesellschaft auch nicht vom einen auf den anderen Tag zurückgedrängt. Das kann man als false consciousness sehen und ich würde das nicht mal unbedingt bestreiten, aber das ändert halt nichts an der Tatsache, dass man die Leute integrieren muss, wie sie sind, nicht wie man sie gerne hätte. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man mit Leuten zu tun hat, die vielleicht selbst kein Kopftuch tragen würden, aber die alle Famile/Freunde haben, für die das anders ist. Deshalb bin ich dafür, darauf zu achten, dass Muslimen kein Grund gegeben wird, sich
gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zurückgesetzt zu fühlen, weil das nun mal genau ist, worauf alle Bevölkerungsgruppen empfindlich reagieren. Das heißt nicht, dass man dem Islam MEHR Rechte zugesteht, aber es heißt halt, dass man aushält, was man nicht besonders gut findet, weil man es beim Christentum eben auch ausgehalten hat und teilweise immer noch aushält. Wären wir tatsächlich schon der sekuläre Staat, den du gerne sehen würdest (und den ich durchaus auch gut fände) sähe die Sache für mich anders anders aus, aber da sind wir nun mal noch nicht. Mir ist natürlich auch klar, dass das eine Gradwanderung ist und dass man Rechte, die sich überlebt haben, irgendwann auch abräumen können muss, aber gerade in dieser Situation sehe ich einfach keinen echten Schaden (insofern man von dem Argument bzgl. Integration absieht): Alle Argumente gegen das Erlauben des Tragens, die NICHT auf Integration zielen, sind mehr oder weniger Symbolik und Bullshit. Niemand kann bspw. ernsthaft glauben, dass der Staat nicht neutral ist, weil er Lehrern erlaubt, ihre Religion sichtbar zu zeigen.