Die Akte Kurras - Der Schuss, der die Republik veränderte - von Stefan Aust
(..) Kurras war offenbar ein überzeugter Anhänger des DDR-Sozialismus, aus seinen Berichten wird deutlich, dass er eifrig, gehorsam und skrupellos seinen Spitzeldiensten im Auftrag Ost-Berlins nachging. Er war Waffenfreak, bekam von seinen Dienstherrn sogar das Geld für eine zusätzliche Pistole. Er vertrieb seine Zeit auf Schießplätzen, war also offenbar ein versierter Pistolenschütze.
Einem solchen Mann soll die Pistole aus Versehen losgegangen sein? Das ist nicht wahrscheinlicher als es damals war, als Kurras vor Gericht stand. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass er in der Masse rebellierender vorwiegend linker Studenten gleichsam „unter Freunden und Genossen“ war, lässt seine Aussagen vor Gericht, er habe sich bedroht gefühlt noch unwahrscheinlicher erscheinen.
Was also war sonst sein Motiv? Man wagt sich kaum, es auszusprechen. Aber die Frage muss notwendigerweise gestellt werden: Gab es in Ost-Berlin ein Interesse daran, die Auseinandersetzungen in Westberlin anzufachen und die Studenten durch spektakuläre Aktionen richtig auf die Barrikaden zu treiben? Ihnen zu helfen, einen weiteren Anlass für die „Gegengewalt“ zu geben?
Hat man sehenden Augen in Kauf genommen oder sogar befördert, dass sich in der Bundesrepublik der Terrorismus ausbreitete? War das Ziel der Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland in diesen Zeiten des Kalten Krieges so weit im Focus des MfS dass man Mord, Totschlag und Entführung direkt oder indirekt förderte? Es würde ins Bild der bisherigen Erkenntnisse zur Kumpanei zwischen MfS und Stasi passen, aber über das bekannte weit, weit, hinaus gehen.
Karl Heinz Kurras war der klassische Agent Provokateur, auch wenn er nur fahrlässig gehandelt haben sollte. Öl ins Feuer zu gießen war schon immer die Taktik geheimdienstlicher Operationen in Ost und West. Es wäre nicht das erste und einzige Mal bei der Entwicklung politischer Gewalt und Deutschland und anderswo.
Natürlich werden sich die Apologeten der untoten DDR und ihrer Staatssicherheit melden und sich entschieden dagegen verwahren, dass dem sozialistische Staat nun auch noch die Schuld am Tod Benno Ohnesorgs und am gesamten Terrorismus in die Schuhe geschoben werden soll. (NetReaper :wave:) Man wird achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass Kurras als Stasi-Agent gearbeitet hat und wird - ganz im Gegensatz zu damals - den Beteuerungen glauben, die Waffe sei ganz aus Versehen losgegangen.
Die Akte Kurras zeigt allerdings ein paar Merkwürdigkeiten, die mit einer bloßen Spitzeltätigkeit nicht ganz abgedeckt sind. Er hat ungewöhnlich viel Geld von der Stasi bekommen. Er war Mitglied der SED, er bekam das Geld für eine weitere Pistole von seinem Führungsoffizier.
All dies deutet darauf hin, dass man ihn nicht nur als Quelle, sondern als Aktivisten, wann und wofür auch immer, einzusetzen gedachte oder auch eingesetzt hat. Das MfS war eben „allzeit bereit“ für den „Mob“-Fall, den Mobilisierungsfall, für den es fertige Pläne von Internierungslagern nebst Insassenliste gab. (..)
Das wichtigste an dieser epochalen Enthüllung aber ist, ob und wenn ja welche Hintergründe es für den unbeabsichtigten Todesschuss auf Benno Ohnesorg gegeben haben könnte. Immerhin stellt sich der Fall im Lichte der neuen Aktenerkenntnisse anders das als 1967. Da wäre sicher zu überprüfen, ob es nicht eine Neuauflage des Prozesses geben müsste.
Im Gegensatz zu damals geht es heute nicht mehr nur um Kurras sondern auch um jene, die ihn geführt haben - wohin auch immer.