Wir können uns wohl darauf einigen, dass ein stabiles Zusammenleben grundlegende "Normen" braucht. Regeln an denen Probleme, Handlungen und ihre Folgen gemessen werden können. Hier gibt es in essentiellen Lebensbereichen weitgehende Übereinstimmungen. Sie sind sozusagen geronnene Erfahrung und oftmals in Gesetzen, "common laws" oder heiligen Schriften niedergeschrieben.
Ihr Ursprung ist die menschliche Erfahrung mit ihrer jeweilige Umwelt, deshalb gibt es übrigens auch Punkte in denen es unterschiedliche Normen gibt. Eben weil die Menschen in einer anderen Umwelt leben müssen. Sie standen deshalb unter einem partiell anderen Anpassungs- und Erfahrungsprozess. Unterschiedliche kultivierte Normen sind die Folge. Anders ausgedrückt: es gibt KulturEN. Kulturen sind in diesem Sinne nicht essentialisitisch gedacht, sondern die Folge von Erfahrungen und Lernprozesse und ihre Verinnerlichung/Kodifizierung. Ein anderer Punkt ist, wie wir diese extrem komplexen Anpassungs- und Normierungsprozesse bezeichen oder sogar herleiten. Wir sind nämlich keine Tiere, sondern können in diese "Evolution" und unsere "Umwelt" aktiv eingreifen. Das macht die Frage der Herkunft von Normen interessant, weil damit auch die Suche nach der aktiven Veränderung von Normen gestellt wird.
Für mich persönlich ist natürlich die "rationale Erklärung" interessanter, einfach weil ich nicht an Gott glaube und mich selbst eher als Atheisten bezeichnen würde. Trotzdem muss man die Sinnhaftigkeit bestimmter kultureller Formen der Religion einfach anerkennen, ohne gleich mit dem Argument der historischen Praxis und Herrschaft der Institution (Kirche) dogmatisch gegen jede Religion anzugehen. Damit ist nämlich ein völlig anderes Problem angesprochen.
Aber zurück zum Vergleich: in meinen Augen hat die "rationale" Variante den Vorteil eine Selbstreflexion zu beinhalten, die Normen unabhängig von der Moral/Gott testen kann und dadurch eine höhere Varianz erreicht. Trotzdem wird sie dadurch anpassungsfähiger, aber nicht unabhängig von eigenen Standpunkten. Gerade für rationale Menschen müssen Normen begründet werden und eine Begründung ist IMMER wertgebunden. Wie atheistische Kommunisten, heidnische Nazis oder liberale Kapitalisten bewiesen haben. Die Inanspruchnahme eines "rationalen Standpunktes" macht einen nicht standpunktslos und quasi zum Agenden der Rationalität. Das ist in der Tat ein Trugbild der Aufklärung, dem hier ja einige Anhängen.
Die "religiöse" Variante hat den Vorteil der besseren Stabilisierung und Sozialisierung von Normen, sie sind stärker kodifiziert und durch Erziehung und Autorität besser aufrecht zu erhalten. Das mag in einer Welt die von schneller Veränderung lebt manchmal ein Nachteil sein, aber Stabilität ist ein nicht unwichtiger Aspekt menschlichen Zusammenlebens. Sie wird hier quasi durch die Verdeckung der Begründung erbracht. "Kommt von Gott", nicht sehr schön für die Legitimation, aber im Endergebnis kann das durchaus erfolgreich sein. Wie die 10 Gebote beweisen.
Obwohl ich eigentlich atheistisch bin, ist es dumm die soziale Kraft von Religion und Kirchen zu verneinen. Die Kirche ist in der westlichen Welt immerhin die älteste Institution und hat so einiges überlebt. Das kann man mit Machtinstinkt erklären, aber eben auch mit ihrer gewonnen Erfahrung.
Noch ganz kurz sei hier Max Weber und seine protestantische Ethik erwähnt, in der quasi die Wirkung unterschiedlicher religiös-kultureller Einflüsse auf die moderne Welt, kurz den Kapitalismus, vorgeführt hat. Auch wenn das historisch nicht 100% stimmt oder der entscheidende Faktor war, zeigt es die Macht von kulturellen und religiösen Komponenten in der Entwicklung der Menschheit und im alltäglichen Zusammenleben.
An Albstein: ich würde aber bezweifeln, dass die Religion und nicht die besondere Situation der Nachkriegszeit dieses Gefühl der gegenseitigen Hilfe erzeugt hat. Obwohl man historisch hinzufügen muss, dass der Zulauf und die Wirkung der Kirche gerade in der Nachkriegszeit sehr stark war. Sie galt als einzige "unbefleckte" Institution und als ehrlicher Vermittler. Allerdings hat sie auch stark den konservativen Impetus der Aufbaujahre mitgetragen. Erst in den 60er Jahren ist das auf breiter Front gebröckelt.