Der Kastaniensammler vom Montagnolawald
Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.
Hermann Hesse
Im wunderbaren Jahre 1943 erschien nicht weit von Calw entfernt, im friedlichen Zürich, die Erstausgabe des lang erwarteten letzten großen Romans
Das Glasperlenspiel des schwäbischen Dichters Hermann Hesse. Nach über zwölfjähriger Arbeit legte Hesse den Stift beiseite und erklärte das Buch für vollendet. Es muss wortwörtlich so gewesen sein, denn Hesse schrieb sämtliche Manuskripte von Hand, mit nur sehr spärlichen Korrekturen, um sie nachher, zumindest im Falle des hier zu besprechenden Glasperlenspiels von seiner dritten Frau Ninon ins Reine tippen zu lassen. Das arme Wesen bekam die Blätter mit Rotweinflecken und Aschespuren herüber gereicht und sah sonst nicht mehr viel von ihrem Mann. Hesse war schon lange ausgestiegen. 1930 begann die Arbeit an dem Buch, drei Jahre nach dem
Steppenwolf, der schrecklichen Geschichte über den im Kognac ersaufenden Harry Haller, einem nur schlecht getarnten Verschnitt des damaligen Autors selbst.
Um das Glasperlenspiel und seine furchtbare Einöde, die es in jedem Menschen auslöst, der vom Schicksal in seine Fänge getrieben wurde, zu verstehen, bedarf es der Vorgeschichte; der vorangegangenen Romane und Erzählungen, der Beleuchtung aller drei Frauen, mit denen Hermann Hesse im Laufe seines unlustigen Lebens verheiratet war, sowie der spezifischen klimatischen Verhältnisse, die in diesem italienisch anmutenden Teil der Schweiz, an dem das Buch geschrieben wurde, aufzufinden sind. Geboren wurde Hesse in Calw, im bigotten Schwabenland, was an sich noch kein schweres Verbrechen ist, das Schicksal aber zielsicher in die dunkelsten und verlogensten Ecken des Universums führen wird ohne eigenes Zutun oder Verschulden. Das ließ im Falle Hermann Hesses auch nicht lange auf sich warten und so landete der Vierzehnjährige nach der missglückten Flucht aus dem perversen Evangelenkloster Maulbronn prompt in der Irrenanstalt Boll, wo er sich einen selbstgekauften Revolver an den Kopf hielt und ob des jämmerlichen Versagens dieses Werkzeugs schier durchzudrehen bereit war. Wütende und hassvolle Briefe im Wechsel mit reumütigen und schon geschlagenen Aussagen, kleinen Kapitulationsbekundungen gerichtet an den pietistischen Vater, geben uns noch heute eindrucksvoll Auskunft vom Kampf des stolzen Jünglings, der sich bereits jetzt um sein Leben betrogen sah, denn er ahnte natürlich nicht was noch folgen würde.
Es hat sich Hermann Hesse, trotz mehrfacher Versuche, in diesem pubertären Lebensabschnitt leider nicht das nutzlose Leben nehmen können. Es folgte die übliche bürgerliche Langeweile, Ausbildung zum Buchhändler in Tübingen, Goethebilder und Tabakspfeifen an den Wänden in der ersten eigenen kleinen Bude, zwölf Stunden Arbeit jeden Tag im Buchgeschäft und am Abend wurde heimlich Nietzsche gelesen. Alles grausig und furchtbar, niemand möchte mit ihm tauschen. Um das alles abzukürzen, mir wird beim Schreiben schon ganz unwohl, kamen dann märchenhaft die ersten Veröffentlichungen seines literarischen Talents, unter anderem die vollständige Ausgabe des oben nur in Auszügen dargebotenen Gedichtes über Elisabeth, der eigentlichen Liebe Hermann Hesses. Diese unerreichbare blonde Schönheit muss er wohl bereits in Boll erblickt haben, noch mit dem kaputten Revolver an der erschrockenen Schläfe.
Elisabeth jedenfalls wollte von dem gequälten Knaben natürlich nichts wissen, denn welche Frau bei Verstand lässt sich schon auf einen gottverdammten Dichter ein (wir werden bald drei Beispiele näher erläutern) und Hermann besann sich weiter auf das, was er konnte. Emsig Worte aneinanderzuleimen bis eine Art Fließsprache, ein plätschernder Singsang voll heiterer Gedanken entsteht. Der
Peter Camenzind. Dieses an sich nicht weiter erwähnenswerte Buch brachte Hesse schlagartig in den Ruf eines aussichtsreichen Schriftstellers. Eine Einschätzung, die heute hoffentlich hinreichend widerlegt ist. Es purzelte das Geld vom Himmel, es starb wenig beachtet und unvermisst die Mutter, es lief alles wie gemalt im Leben des jungen schwäbischen Sunnyboys und er sah sich genötigt ob dieses Glücks gleich eine Bernoulli (Mathematikern wird der Name etwas sagen) zu heiraten, die dann auch die einzige Mutter seiner bis heute unglücklichen Kinder wurde.
In Gaienhofen am Bodensee wurde dieses Kapitel auf- und nach kurzem Betrachten schnell wieder zugeschlagen. Die verfluchten Kinder machten den ganzen Tag Lärm und die Bernoulli war dann, mit ihrem ausgelaugten Body, eigentlich zu auch nichts mehr nütze.
Flucht nach Süden. Eines grauen Tages nahm sich Hermann Hesse seinen Mantel, seinen Hut und eine Schachtel Zigarillos, um der ungeliebten Familienwelt auf immer Lebewohl zu sagen. Er kletterte in einen Nachtzug nach dem Tessin, den Kopf voll schwerwiegender Gedanken (wunderbar dokumentiert in der blutigen Erzählung
Klein und Wagner) und mit der Absicht, sich nie wieder gefangen setzen zu lassen; sei es durch ein Weib, einen Verlag oder was auch immer.
Vermutlich ist er besoffen wie ein junger Matrose beim ersten Landgang in Montagnola ausgestiegen, ein Zustand, den er die nächsten zwei Jahre sicherheitshalber beibehielt, und schleppte sich, wild & frei aber schlapp, mit letzten Kräften in die Casa Camuzzi, seinem Märchenschloss für die neu anbrechende Zeit. Hesse tauschte das Notizbuch gegen eine Kladde und den Stift gegen einen Pinsel und zog mit Klappstuhl und Aquarellmalkasten durch die umliegenden Haine und Wälder. Den Tag über wurde gemalt, mit nahezu alberner Talentlosigkeit, dafür verbissen und maßlos. Nach getaner Arbeit ging es in die zahlreichen Grottos, kleine in den Felsen gehauene Weinkeller, um sich im lauen Abendsommerwind die Lichter auszuschießen, während die Eisenbahn durchs Tal pfiff und die einheimischen Frauen aufgeregt am Strumpfband nestelten. Hier lernte Hesse seine „schlanke Rakete“ (Hesses dem
Klingsor entnommene Beschreibung der aüßerst aerodynamisch geformten Ruth Wenger) kennen und, naja nennen wir es lieben.
Warum Hermann Hesse in drei Ehejahren mit dieser, seiner zweiten Frau nicht ein einziges Mal die Ehe vollzogen hat, wird wohl für immer des kleinen Hermännchens Geheimnis bleiben, doch spätestens hier fällt dem interessierten Leser auf, dass die privaten Gepflogenheiten des späteren Literaturnobelpreisträgers doch zumindest merkwürdiger Natur gewesen sind. Entweder war es der viele Wein oder der Umgang mit Ruth oder eine teuflische Kombination aus beidem, die seinen literarischen Ausstoß vom feurigen Klingsor über den phlegmatischen
Siddhartha hin zum restlos verzweifelten Steppenwolf verwandelte. Wir sehen in den ersten Montagnoler Jahren den rasanten Weg von der Wiedergeburt bis zum Todeswunsch abgezeichnet und können nur verwundert den Kopf schütteln und uns fragen, was denn nun hierauf noch folgen sollte. Es gibt glaubhafte Zeugenaussagen und ein eigens verfasstes Bekenntnis, dass Hermann Hesse in seinen ersten Tessiner Jahren hin & wieder, wenn er knapp bei Kasse war, in den Wald zog, um Kastanien zu sammeln und später auf seinem kleinen Balkon in der Casa Camuzzi zu verzehren. Argwöhnisch beäugt von der aerodynamischen Ruth Wenger.
Nachdem es Ruth mit Hermann Hesse langsam etwas zu langweilig wurde und sie die Scheidungspapiere einreichte, gelangte dieser in seine endgültige und abschließende literarische Schaffensperiode. Im mittelalterlich öden
Narziß und Goldmund jongliert Hesse mit seinem späten, ja eigentlich ewigen Thema der beiden Pole, die einander so fremd sind und doch einander bedingen, so dass keiner ohne den anderen denkbar wäre und sorgte damit unter Publikum und Kritikern für erleichtertes Aufatmen, da ein zweiter Steppenwolf für nicht wenige unter ihnen kaum zu verkraften gewesen wäre. Und während Hitler sich wie ein getriebenes Aufziehmännchen Bierkeller um Bierkeller zum Untertan macht, gleitet Hesse kaum spürbar in eine immer fantastischer und entlegener aussehende Traumwelt hinüber, in die er sich, so die gängigen Theorien, eine geistige Heimat durch die Schrecknisse der sich anbahnenden neuen Katastrophen herüber retten möchte. Es entsteht die
Morgenlandfahrt, die man heute als umfangreiche Einleitung zum Glasperlenspiel betrachten muss. War nicht auch schon hier eine feine Lage Schlafsand über jede Seite verteilt und klang nicht auch schon hier Hesses Fließsprache sanft und paralysierend wie ein betäubendes Wiegenlied?
Nach einem die Nerven aufreibenden und, man muss es zugestehen, äußerst produktivem Schriftstellerleben begibt sich Hesse müde und erschöpft in die Arme einer selbstverschriebenen, therapeutischen Depression, die als Altersweisheit getarnt sein Spätwerk prägen und den abgebrannten Geistesmenschen entlasten soll und in der die Dinge ihrer Bedeutung entledigt harmlos und interessant durch einen luftleeren Raum wabern, wo es nicht mehr viel zu erleben aber vor allem nichts mehr zu verlieren gibt.
In diesem inneren Zustand schreibt Hesse die ganzen Jahre der Naziherrschaft hindurch, Blatt auf Blatt an seine dritte Frau Ninon gebend, am Glasperlenspiel, abseits aller Realitäten, während ringsum die Flammen immer höher schlagen. Zum Inhalt des Buches lässt sich erstaunlich wenig sagen, da Hesse es fertigbrachte im gesamten Verlauf des Romans nicht ein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren. Wenig bleibt länger als fünf Minuten im entsetzten Hirn des fehlgeleiteten Lesers hängen. Bis heute weiß kein Mensch was das Glasperlenspiel überhaupt ist. Die Hauptfigur Josef Knecht erscheint uns als makelloser, religionsersetzender Buddhajesus ohne Fehl und Tadel, der vermutlich noch wertvollere Stoffwechselendprodukte hervorzubringen vermag als sämtliche Arbeiten der gesamten restlichen Menschheit. Die im Buch übrigens gar keine große Rolle spielt, denn sie bleibt ausgeschlossen. Die Menschheit, das sind die vielen Wertlosen, die gewöhnliche und nutzlose Leben leben ohne je ein Bewusstsein dafür entwickelt zu haben. Der Horizont des Glasperlenspiels endet an den Grenzen der Gelehrtenrepublik Kastalien, wo fleißige Übermenschen Tag auf Tag das Wissen der Welt horten und pflegen und eben das Glasperlenspiel spielen. Am ehesten beschreibbar ist das Glasperlenspiel vielleicht als eine Art evolutionärem Nachfolger der Kunst, der in sich alles einen soll, von sämtlichen Vorgängerkünsten über die Wissenschaften bis hin zu den Sphären wahrer Spiritualität. Vielleicht ist es das, was uns Hermann Hesse geben wollte. Vielleicht wollte er sich aber auch nur einen letzten Spaß erlauben.