Bildung und Noteninflation

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21.08.2010
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Gustl: Jo. Aber warum überhaupt noch Noten vergeben wenn ihre Signalwirkung komplett für die Tonne ist? Gerade die realen Auswirkungen der Bologna-Reform sind hier maximalst abschreckend. Aus einer überschaubaren Menge von Studiengebieten ist eine unüberschaubare geworden. Aus auch für den Nichtexperten klar unterscheidbaren Geschmacksrichtungen FH/Uni/Ausbildung wurde "BSc/MSc/BA/MA".
Es ist sowohl für Studienanfänger die nicht gerade promovierte Akademiker als Eltern haben nahezu undurchschaubar geworden was eine gute und was eine schlechte Wahl ist, und für Personalabteilungen erst recht. Dort ist es allzu häufig der Fall, dass Privat-FH-Absolventen mit einer 1,x (gegen die man sich je nach Institution echt wehren muss, um sie nicht zu bekommen) Uniabsolventen mit einem Abschluss um die 2,0 herum vorgezogen werden. (Ich rede von BWL, und nicht von BWL an staatlichen FHs.)
Mein Hauptproblem hierbei ist, dass vormals explizites transparentes Wissen nun für Nichteingeweihte opak und (nahezu) undurchdringlich geworden ist. Damit hat diese Reform in der Realität vor allem zu viel Beliebigkeit geführt, denn es wird jeder BSc und jeder MSc über den gleichen Kamm geschoren, egal wie real unterschiedlich sie sind. Ja, das ist eine Auswirkung des Fokus auf die Zeitworkloads, aber mal im Ernst, die Zeiten zieht man sich beim Studiengangsdesign ohnehin wild aus dem Arsch wie man gerade lustig ist.

Stirling: Stimme Dir zu, aber der Trend geht dahin, dass ein Abschluss nur noch als "studiert" wahrgenommen wird, ohne jegliche weitere Differenzierung. Und obvly wird die Ausbildung immer mehr als "lol" wahrgenommen, was ein beschissener Nebeneffekt der ganzen Sache ist. Denn, wie Du selbst schreibst, für einen großen Haufen Jobs braucht man einen kompetenten Menschen, egal ob Studiert oder Ausbildung oder angelernt. Was wichtig ist, ist zwischen den Ohren (+zivilisiertes Verhalten). Abschlüsse (iSv Bachelor/Master) haben für jemanden ohne ein gutes Verständnis des Systems nur eine sehr schwache Aussagekraft über das Können der innehabenden Person. Sie können also genau diese Bescheinigung nicht leisten. Auch wenn ich Gustavo zustimme, dass die wahre Feuerprobe im Job kommt: Warum dann überhaupt Abschlüsse und nicht direkt an das angelsächsische Highschool plus Anlernen plus ggf. Berufsfachschulen anpassen? Ich bin frustriert, weil unser Bildungssystem wie es aktuell existiert bevorteilt sneaky Dünnbrettbohrer, benachteiligt Menschen die mit ihren Eltern Pech hatten, und verbrennt ganz generell ohne Not viel Geld.

SFJunky: Keine Frage. Zu einer ordentlichen Bildung gehören alle Fächer dazu. Aber warum sollte es uns nicht gelingen Menschen bis ungefähr zu ihrem 18. Geburtstag zu einigermaßen gebildeten Erwachsenen zu machen? Was ändert das 13. Schuljahr? Warum gelingt es allen Nachbarn und uns in einigen Bundesländern nicht? Sämtliche systematischen Untersuchungen sagen klar, dass G8-Schüler weder gestresster, noch dümmer, noch unzivilisierter als G9-Schüler sind. Die ganze Debatte lebt von Emotion und davon, dass in der langen Zeit der Umstellung viel anderer Shit passiert ist wie z.B. auch das Aussetzen der Wherpflicht. Gerade junge Menschen die sich entfalten sollen, sollten dies doch auch in einem Umfeld tun was Selbständigkeit und eigenverantwortliches Handeln fördert. Der Schulbetrieb wäre da das letzte was mir da einfällt.

BabaUTZ: thx.

Kann Deine Darstellung im Großen und Ganzen bestätigen. Die Leute die Sprechstundenangebote nutzen sind meiner Erfahrung nach v.a. die die sich einbilden ich würde ihnen bei zero Vorbereitung noch mal alles von null erklären, die nervigen Streber und die genuin interessierten Streber. Bei ersterer Gruppe ist meistens Hopfen und Malz verloren. Die Fragen dann eine Woche vor der Klausur nach geheimen Tips zu selbiger. Ich antwortete normalerweise "warum sollte ich gerade Ihnen Tips geben und nicht allen anderen?" und bekam darauf typischerweise ein "hihi, weil ich nett und süß bin." :|

Könnte übrigens auch mit Studiengebühren leben. Ich würde parallel das Bafög anheben, die erlaubte Stundenzahl für Nebenjobs senken, das Bafög elternunabhängig machen (adieu Verwaltungsaufwand) und beim Kindergeld die Möglichkeit der alternativen Anhebung des Steuerfreibetrags abschaffen, denn es benachteiligt diejenigen die nix haben. Und das Schulsystem generell zweigliedrig, die ganzen Nebenschauplätze (FOS, BOS, …) evtl. etwas straffen, zweiten Bildungsweg generell aber stärken, spezielle Förderung innerhalb der Schule für die Starken und die Schwächeren (ohne Etiketten). Förderschulen wieder ausgliedern. Habe zu viele Lehrer (Gym und Förderschule) kennengelernt die das ganze Integrationsbla für außerordentlich dummes Zeug halten und gleichzeitig nicht gerade bourgeois sind.

Anekdoten-Time:
Ich finde es immer wieder faszinierend zu sehen wie Studenten daran verzweifeln a) heruntergeladene Dateien zu finden und b) ZIP-Dateien zu entpacken. Loops bringe ich denen im Einführungskurs Statistik (2 SWS VL, 1 SWS Übung mit R) gar nicht bei. Das wäre für einen relevanten Anteil die totale Überforderung.
 
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