Wenige Stunden, nachdem die Rechtsextremen mit 89 Frauen und Männern in das französische Parlament eingezogen waren, sagte Céline Calvez diesen folgenschweren Satz: "Wenn wir eine Mehrheit brauchen, werden wir auch die Stimmen des Rassemblement National suchen." Die gerade wiedergewählte Abgeordnete des Präsidenten Emmanuel Macron wusste sicherlich, was sie tat: Calvez studierte Politikwissenschaften und leitete jahrelang eine PR-Agentur – sie kann also die Wirkung ihrer Worte einschätzen. Sie brach daher bewusst in einer Fernsehsendung ein politisches Tabu in Frankreich: Künftig, sagte Calvez, könne die Macron-Partei also auch mit dem Rassemblement National Marine Le Pens zusammenarbeiten, um Gesetze verabschieden zu können.
Dabei hieß es in Frankreich wie auch in Deutschland immer: Niemand arbeitet und stimmt mit den Rechtsextremen. Nun aber, wenige Tage nachdem Macron bei den Parlamentswahlen seine absolute Mehrheit verloren hat und er künftig für jedes neue Gesetz 60 Stimmen aus der Opposition benötigt, gehen er und seine Gefolgsleute auf den Rassemblement National zu. Auch sein Justizminister Éric Dupond-Moretti kündigte an, für gemeinsame Ziele, etwa "für mehr Stellen bei der Polizei", gemeinsam mit dem RN "voranschreiten zu wollen".
Dabei ist Le Pens Programm so menschenverachtend und autoritär wie eh und je: Sie fordert etwa die "nationale Präferenz", nach der Menschen mit französischem Pass bei der Wohnungs- und Arbeitssuche grundsätzlich vor Bewerberinnen anderer Herkunft bevorzugt werden sollen. Außerdem will sie Flüchtlinge medizinisch nicht mehr versorgen und die Polizei grundsätzlich davon freisprechen, für ihre Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. Vorschläge, die der französischen Verfassung widersprechen und, bislang zumindest, auch den Werten der demokratischen Parteien.
Sie ist so menschenverachtend wie immer
Le Pen kündigte umgehend an, "konstruktiv" arbeiten zu wollen. Sie habe Macron im Vieraugengespräch gesagt, in der Opposition zu sein, aber nicht "systematisch blockieren" zu wollen. Damit klingt sie sogar versöhnlicher gegenüber Macron als die konservativen Republikaner, die auf Macrons "magere Bilanz" verweisen, um eine Zusammenarbeit auszuschließen. Le Pen sagte, sie werde sicherlich nicht für die spätere Rente mit 65 Jahren stimmen. Für weitere wichtige Projekte, etwa den Bau sechs neuer Atomkraftwerke, wird sich Macron allerdings auf die Stimmen des RN stützen können.
Macron hat, so sehen es viele Politikwissenschaftlerinnen, die Rechtsextremen genutzt, um sich selbst an der Macht zu halten: Im Duell gegen Le Pen, das war sein Kalkül, würde er mit größerer Sicherheit wiedergewählt als gegen andere Kandidaten. Auch deshalb hat er Le Pen immer wieder verharmlost, indem sein Innenminister beispielsweise sagen durfte, sie sei zu "weich" gegenüber Islamisten. Zwar wurde Macron in der Stichwahl gegen Le Pen wiedergewählt, aber seine Rechnung ging langfristig trotzdem nicht auf: Er hat keine eigene Mehrheit im Parlament, Le Pen hingegen hat ihre Zahl der Abgeordneten knapp verzehnfacht. Macron sei inzwischen der "nützliche Idiot" der Rechtsextremen, so drückt es die Investigativredaktion Mediapart aus. "Es besteht die Gefahr, dass der Rassemblement National in wenigen Jahren 200 oder 250 Abgeordnete stellt und langfristig eine Mehrheit erreicht", sagt der Politikwissenschaftler Olivier Rozenberg. Schuld daran ist auch der Wahlkampf Macrons.
Noch in seiner ersten Amtsrede 2017 sagte Macron, er wolle "alles tun, damit niemand mehr einen Grund hat, für die Rechtsextremen" zu stimmen. Macron begeisterte damals im In- und Ausland, weil er als überzeugter Europäer die Nationalisten bekämpfen wollte. Und noch bei den Kommunalwahlen 2020 zogen sich Macrons Kandidaten zurück, um alle Personen links von Le Pen zu unterstützen, ihr einziger Feind, sagte der Präsident damals zu seinen Leuten, sei der Front National.
Seit seiner Wahl 2017 gewinnt die inzwischen zu Rassemblement National umgetaufte Partei bei jeder Wahl viele Millionen Stimmen hinzu. "Macron hat mitgeholfen, das rechtsextreme Monster zu erschaffen", schreibt der britische Guardian über Macron. Er müsse seine Strategie dringend ändern und mehr links besetzte Themen wie eine starke Klimapolitik schärfen, statt rechtsextremen Ideen hinterherzurennen.
Eine stumpfe Rote-Socken-Kampagne
Augenblicklich macht Macron allerdings das Gegenteil. Bei der Parlamentswahl galt seine schärfste Kritik und die seiner Minister nicht mehr Le Pen, sondern dem neuen links-grünen Bündnis Nupes: Sollte es gewinnen, drohten dem Land "Chaos" und "Anarchie", hetzten seine Ministerinnen. Macron selbst setzte in einer Ansprache die Linke mit den Rechtsextremen gleich, beide stünden außerhalb der Republik. Bis heute weigert sich sogar das Pariser Innenministerium, alle gewählten Abgeordneten der Nupes-Allianz auch tatsächlich als solche zu zählen – einige von ihnen wurden unter "divers links" eingeordnet, um den Erfolg der Linksallianz zu schmälern. Das führte zu der absurden Situation, dass viele Medien, darunter die angesehene Zeitung Le Monde, in ihren Grafiken neun Nupes-Abgeordnete mehr zählten als die offiziellen, problematischen Statistiken.
Dieser stumpfen Rote-Socken-Kampagne folgten Taten: Kam es in den Wahlkreisen zu einem Duell zwischen Rechtsextremen und der Nupes, riefen Macrons unterlegene Kandidatinnen in den meisten Fällen nicht dazu auf, sich für die Linken zu entscheiden. Selbst im Wahlkreis Marine Le Pens zog es die bereits ausgeschiedene Macron-Kandidatin vor, in der Stichwahl ungültig zu wählen. Diese offizielle Gleichsetzung einer radikalen Linken mit den Rechtsextremen beeinflusste auch die Anhängerschaft Macrons: Die allermeisten seiner Wählerinnen und Wähler enthielten sich bei den Duellen zwischen Nupes und RN. Und eine Pariser Abgeordnete stellte die Frage in den Raum, warum sie denn "mehr mit der linken Nupes diskutieren solle als mit dem Rassemblement National". Als gebe es keinen Unterschied zwischen einem ausländerfeindlichen, nationalistischen Programm und einem Programm, das mit seinen höheren Steuern für Besserverdienende und seiner radikalen Klimapolitik zwar im Gegensatz zu Macrons Politik steht, aber niemanden diskriminiert und die Verfassung achtet.
Inzwischen mehren sich sogar die Stimmen von Macrons Abgeordneten, die Leitung des Finanzausschusses im Parlament lieber an die Rechtsextremen zu geben als an die zahlenmäßig viel bedeutsamere Nupes. Traditionell geht dieser wichtige Ausschuss an die Opposition. Die Linken wollten im Ausschuss "die Steuern kontrollieren", sagte etwa der kürzlich erst von den Konservativen übergelaufene Abgeordnete Éric Woerth. Er spielt darauf an, dass der Ausschuss das Steuergeheimnis von Firmen und Privatpersonen aufheben kann, um eventuelle Hinterziehungen aufzudecken. Scheinbar eine Praxis, die Woerth nicht gutheißt, weswegen der Rassemblement Nation den Vorsitz übernehmen soll. Offenbar ist Le Pens Strategie, ihre Partei zu entteufeln, nicht nur bei vielen Wählerinnen und Wählern erfolgreich: Inzwischen will das halbe französische Parlament mit ihr zusammenarbeiten. Zumindest, wenn damit eine angeblich linksextreme Finanzpolitik, etwa eine Vermögensteuer, verhindert werden kann.