Wirtschaftsstruktur Stadt vs Land

Mitglied seit
27.06.2014
Beiträge
3.511
Reaktionen
1.287
Ort
Hamburg
Dass Städte produktiver sind (siehe Grafik) ist kein Geheimnis und überrascht auch noch. Vorteile sind bspw kürzere Wege, mehr aufeinandertreffende Menschen und damit Ideen, mehr Alternativen und damit Differenzierung und Konkurrenzdruck bei Dienstleistungen etc.pp.

Was mich interessiert: Wieviel vom GDP-Vorteil von Städten beruht dabei aber auf Faktoren, die nicht klar "besser" sind, sondern nur "anders"?

Ein Beispiel: In NYC kann man ohne Frage geil Essen gehen. Viel Auswahl, und für so eine teure Stadt faire Preise. Aber: Viele "müssen" es auch, weil ihre Wohnungen keine richtige Küche haben. Ob es ein aufwendigeres Gericht ist, oder insbesondere das Bewirten von Gästen: Dafür müssen fast alle New Yorker ins Restaurant. Der Landbewohner (oder schon deutscher Mittelstadtbewohner) hat eine größere Küche und den Platz für Gäste. Kocht daher auch mal selbst.

Anderes Beispiel: Man hat oft keine eigene Waschmaschine. Sondern geht zum Waschsalon. Auf der einen Seite effizient. Auf der anderen Seite aber für den Betroffenen mehr Aufwand als der Gang in den Keller. Hier entsteht eine Ebene mit zusätzlicher Dienstleistung, welche das GDP erhöht, und auch sinnvoll ist, aber in keiner Weise für höhere Lebensqualität steht. Aber immerhin positiv fürs Klima ist, weil man weniger Wäschemaschinen und weniger Räume dafür braucht.

Drittes Beispiel: Pendelei. Je größer die Stadt, desto mehr Kosten dafür -> schlecht, aber ggf mehr GDP. Hier ist das Land nicht unbedingt besser, aber mittelgroße Städte.

Nun ist extrem schwer herauszufinden, wann bspw ein Restaurant-Besuch "wünschenswert" ist und Lebensqualität steigert und wann "notwendig" und eigentlich die Lower-GDP-Variante Home cooking "besser" wäre.

Frage: Gibt es trotz dieser Schwierigkeiten dazu Meinungen/Research, welcher Teil des Mehr-GDP quasi "nützlich" vs "nicht nützlich" ist? Und daraus ableitend, wie man (bspw Stadtplanung) den nützlichen Teil incentiviert/misst?

Natürlich hängt es sicher auch vom Ziel ab: für Klimaschutz bspw ist ja eine sehr hohe Dichte mit viel ausgelagerter Dienstleistung immer(?) gut.


1691912475164.png
 
Mitglied seit
13.06.2005
Beiträge
19.564
Reaktionen
1.487
Ort
Baden/Berlin
GDP per Capita ist eine so immens verzerrte Kennzahl, die nur wenig Rückschlüsse auf die eigentliche Wertschöpfung zulässt. Wenn man es dann noch auf Städte runterbricht wird es ganz wild.

Man nehme München. Die Stadt gilt als reich, das GDP per Capita ist recht hoch und teilweise stimmt das auch. Aber München ist die Heimat von Weltkonzernen wie Siemens oder BMW, die mit großen Teilen, oder sogar mit ihrem Gesamtumsatz in die Berechnung mit einfließen. Die Produktion selbst findet aber ganz woanders statt. Stuttgart (Bosch, Daimler) und Frankfurt (Banken) ebenfalls.

Imo ist das höhere GDP in Städten einfach dem Umstand geschuldet, dass dort globale Player tendenziell eher ihre Konzernzentralen oder große Auslandshubs haben, sprich die ganze Management-Eliten, das GDP nach oben pressen. Das höchste GDP per Capita hat in Deutschland nämlich Wolfsburg, surprise suprise.
 
Mitglied seit
27.06.2014
Beiträge
3.511
Reaktionen
1.287
Ort
Hamburg
Die Konzerne fallen afaik üblicherweise nicht mit ihrem gesamten Umsatz in die Stadtbilanz - aber die Konzernzentralen haben natürlich viele gut bezahlte Jobs.

Deswegen sind für Stadt-GDP ja gut bezahlte Jobs sehr relevant. In Wolfsburg ist ja die Zentrale UND ein relevanter Produktionsstandort. In London sind viele Firmen deren Wertschöpfung stark in der Stadt stattfindet (Banking, Tech, Media).
 
Mitglied seit
15.09.2000
Beiträge
1.406
Reaktionen
261
Ist der primäre Effekt nicht einfach, dass Menschen mit gehobener Ausbildung, entsprechend hohem Lohneinkommen und dadurch dann auch höherer gemessener Produktivität in BIP in den Städten leben?

Also nicht die Stadt macht produktiver, sondern produktive Menschen leben halt in Städten.
 
Mitglied seit
27.06.2014
Beiträge
3.511
Reaktionen
1.287
Ort
Hamburg
Was lässt dich das vermuten?

Bspw ist ja bekannt, dass quasi identische Jobs mit quasi identische Qualifikation sehr unterschiedlich bezahlt werden je nach Ort.

Dass das ein Faktor sein mag neben echten Vorteilen der Stadt als Hub von Ideen und Dienstleistungen mit kurzen Wegen - und dem o.g. "Overcounting", weil mehr Aspekte des Lebens über die formelle Wirtschaft laufen (bspw Waschsalon vs eigene Waschmaschine), das wird schon sein. Aber der primäre?
 
Mitglied seit
15.09.2000
Beiträge
1.406
Reaktionen
261
Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Meine ambitionierten Mitschüler sind quasi alle in eine grössere Stadt fürs Studium und später dann in eine noch grössere Stadt und haben da jetzt einen gut bezahlten Job. Die weniger ambitionierten sind dort geblieben, haben eine Ausbildung gemacht, oder nichtmal das und werden jetzt entsprechend bezahlt. Das ist natürlich wechselseitig, aufm Land hätten sie gar nicht die Möglichkeiten gehabt, das kriegt man jetzt natürlich nicht mehr ausdiffundiert, obs an der Person lag oder am Umzug. Gleiches Problem wie beim Studium. Macht Studium schlau oder studieren schlaue Leute?

Immerhin sind mir noch zwei weitere Aspekte eingefallen, die verfälschend wirken:
  1. Das Preisniveau in der Stadt ist höher. Wenn in der Stadt die Pizza 10€ kostet und aufm Land 8€, misst das BIP 20% mehr Produktivität, da die PPP Bereinigung auf Bundesebene stattfindet
  2. Die anfängliche Statistik ist pro Einwohner. Erwerbsquote ist höher in der Stadt, da es auf dem mehr Alte, Kinder und Mütter hat, die nicht oder nur Teilzeit arbeiten
 
Mitglied seit
19.11.2003
Beiträge
1.979
Reaktionen
79
Kann da nicht viel wissenschaftliches beisteuern, aber habe jetzt quasi schon alle Größen bis auf Megastädte selbst bewohnen dürfen. Mein Eindruck:
In den Großstädten wird extrem viel "verlebt": hohe Einkommen (meist 2x), hohe Ausgaben für Miete, Leben und eben Dienstleistungen. Die Dienstleistungen bedingen sich oft aus der Wohn- und Sozialsituation. Außerdem ist Freizeitkonsum halt Belohnung&Statussymbol. Sorgt alles für hohes BIP.
In Dörfern & Kleinstädten wird mehr gegenseitig ausgeholfen/schwarz gearbeitet, weniger konsumiert, gefühlt auch mehr Wert geschaffen und erhalten. Da stellt der Fließenleger, dessen Frau ne halbe Putzstelle in der Schule hat, teilweise Häuser hin, die von vielen Adademikern in den Städten nie erarbeitet und fremdvergeben werden können. Der selbst bestellte Gemüsegarten, die Kinderbetreuung oder viele Freizeitaktivitäten gehen komplett ohne am BIP vorbei?!

Zur Effizienz: für uns als Familie scheint die Kleinstadt ideal. Alles was man zum Leben braucht ist vor Ort. Kurze Wege / Wenige Fremdabhängigkeiten. Bezahlbarer Wohnraum. Weniger "Externer Stress" Trade-Off: Hochbezahlte Jobs gibts halt meistens nur in der Großstadt.
 
Mitglied seit
27.06.2014
Beiträge
3.511
Reaktionen
1.287
Ort
Hamburg
Gegenseitige Hilfe ("schwarz") vs offizielle Dienstleistung ist ein gutes Beispiel.

Ich wäre echt gespannt, welchen Teil des Unterschiedes durch solche Unterschiede zustande kommen, die den Lebensstil gar nicht beeinflussen.

Perfekt schwarz/weiß trennen kann man es nicht, bspw gibt es ja Restaurant-Konsum mit Genuss-Mehrwert und solchen eher ohne (einfach günstig essen weil unterwegs), und diese Unterscheidung ist sehr subjektiv.

Essen wäre gutes Beispiel: Je mehr Menschen in der Mittagspause gesundes mitgebrachtes Essen verspeisen statt Mittagsangebot Pizza zu fressen, desto weniger GDP, aber desto mehr Gesundheit.
 
Oben