Kann etwas schlimm sein an der Frage, woher man kommt? Wer sie stellt, kann sie für sich selbst meistens beantworten. Die Eltern sind in diesem Land groß geworden und die Großeltern auch, der Name klingt vertraut, und im Telefonbuch stehen manchmal Dutzende andere, die genauso heißen. Wer so fragt, gibt sich mit einer einfachen Antwort meistens nicht zufrieden, sondern fragt weiter: »Bist du lieber in der Türkei oder hier?« – »Bist du mehr türkisch oder deutsch?« – »Ist an dir noch überhaupt etwas türkisch?« Wir antworten vorsichtig. Es soll nicht so klingen, als würden wir ein Land dem anderen vorziehen. Wir wollen nicht undankbar wirken. Manchmal sagen wir deshalb: Ich bin beides. Oder: Ich bin keines. Das Eigentliche hängt unbeantwortet in der Luft: die Frage nach der Heimat. Denn Heimat ist für uns ein schmerzhaftes und sehnsuchtsvolles Ding. Heimat ist die Leere, die entstand, als unsere Eltern Polen, Vietnam und die Türkei verließen und nach Deutschland gingen. Ihre Entscheidung zerriss unsere Familiengeschichte. Wir sind in einem anderen Land aufgewachsen als unsere Eltern, in einer anderen Sprache. Deutsche Traditionen konnten wir von ihnen nicht lernen. Das Bewusstsein, zu diesem Land zu gehören, noch weniger. Wir kennen es nur vom Hörensagen: das Heimatgefühl, das unsere deutschen Freunde spüren, weil sie ihren Platz in diesem Land geerbt haben. Diese Sicherheit. Unser Lebensgefühl ist die Entfremdung Es gibt viele Arten, das Wort Heimat zu verstehen. Auf Polnisch heißt es mała ojczyzna, »kleines Vaterland«, auf Türkisch anavatan, »Mutterland«, und auf Vietnamesisch que, »Dorf«. Obwohl sich die Begriffe unterscheiden, spielen sie alle auf die Verbindung zwischen Biografie und Geografie an: Heimat ist der Ursprung von Körper und Seele, der Mittelpunkt einer Welt. Die Kultur eines Landes prägt das Wesen der Menschen, die dort aufwachsen. Sie macht die Deutschen diszipliniert, die Franzosen charmant und die Japaner höflich. Aber was bedeutet das für die, die in zwei Ländern aufgewachsen sind: Haben die überhaupt eine Heimat? Oder haben sie zwei? Wieso fällt uns kein Plural zu diesem Wort ein? Die gebrochenen Geschichten unserer Familien machen es schwer, eindeutig zu sagen, woher wir kommen. Wir sehen aus wie unsere Eltern, sind aber anders als sie. Wir sind allerdings auch anders als die, mit denen wir zur Schule gingen, studierten oder arbeiten. Die Verbindung von Biografie und Geografie ist zerrissen. Wir sind nicht, wonach wir aussehen. Oft haben wir uns gefragt, ob unser Humor, unser Familiensinn, unser Stolz aus dem einen Land kommen oder dem anderen. Haben wir diese Eigenschaften von unseren Eltern geerbt? Oder in der deutschen Schule gelernt? Von Freunden abgeschaut? Uns fehlt etwas, das unsere deutschen Freunde haben: ein Ort, wo sie nicht nur herkommen, sondern auch ankommen. Wo sie andere treffen, die ihnen ähnlich sind – so stellen wir es uns zumindest vor. Wir hingegen kommen nirgendwoher und nirgendwo an. Wenn wir mit unseren deutschen Bekannten und Kollegen zusammensitzen, fragen wir uns oft: Gehöre ich wirklich dazu? Und wenn wir mit unseren polnischen, türkischen und vietnamesischen Verwandten zusammensitzen, fragen wir uns dasselbe. Wir sehnen uns nach einem Ort, an dem wir sein können, statt das Sein vorzuspielen. Gleichzeitig wissen wir: Das ist kein Ort, sondern ein Zustand. Unser Lebensgefühl ist die Entfremdung. Sie wird begleitet von der Angst, als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Selten reden wir über dieses Gefühl. Wir wollen normal sein, und wenn das nicht geht, wollen wir wenigstens so tun, als ob. Wir sind innerlich verkrampfte Menschen in einem innerlich verkrampften Land. Auch die Deutschen kennen dieses Gefühl der Entfremdung. Wir spüren ihre Scham über die Vergangenheit und gelegentlich sogar die Angst vor sich selbst. Die Angst ist alt, und sie verändert sich; je mehr sich das Land verändert, desto schwächer wird sie. Aber deutsch sein heißt immer noch: im Ausland Naziwitze ertragen, den Kopf gesenkt halten, die Fahne nur zur WM rausholen. Auch dieses Gefühl kennen wir nur vom Hörensagen: Wenn wir im Ausland sind, bekommen wir keine Naziwitze zu hören. Auch wenn wir noch so oft sagen, dass wir aus Deutschland kommen: Die anderen glauben
nicht, dass die deutsche Geschichte auch unsere Geschichte ist. Deutsch sein hieß bis ins Jahr 2000, deutsche Eltern zu haben. Das Staatsbürgerschaftsrecht zäunte die Gemeinschaft genau und genetisch ein, es hieß Jus Sanguinis, Blutrecht. Obwohl es inzwischen verändert wurde, können viele immer noch nicht glauben, dass Deutsche auch von nicht deutschen Eltern abstammen können. Nie würden sie das Wort Rasse benutzen, aber letztlich klingt der Gedanke an: Du bist doch nicht richtig deutsch. Was sind denn deine Wurzeln? Die ständigen Fragen nach der Herkunft, das Lob: »Sie sprechen aber gut Deutsch!«, die Klischees in den Medien über Gangstertürken und die Klischees im Alltag über polnische Putzfrauen – sie erzählen vom verkrampften Umgang, den die Deutschen mit dem Fremden haben, immer noch. Von den Tabus rund um Worte wie Herkunft, Identität und Patriotismus. Wer würde schon zugeben, dass sich die meisten Deutschen ihre Landsleute hellhäutig vorstellen? Wer würde schon diese Worte benutzen: Rasse, Gene, Vaterland? Diese Begriffe sind belastet. Und doch brauchte es sie, um die deutsche Angst vor sich selbst und die deutsche Angst vor dem Fremden besser zu verstehen. In der Heimat unserer Eltern gehen wir endlich in der Masse unter Manchmal besuchen wir die Heimat unserer Eltern, im Gepäck die heimliche Hoffnung: Vielleicht komme ich dort an. Und wenn wir dort sind, spüren wir tatsächlich Glück. Unsere Verwandten nehmen uns bedingungslos in die Familie auf, auf den Straßen gehen wir endlich in der Masse unter. Alle sehen so aus wie wir, haben Namen wie wir. Niemand findet uns komisch. Einen Urlaub, eine Recherchereise lang tun wir so, als gehörten wir dazu. Wir können das, uns für eine Weile fallenlassen. Eintauchen in unsere andere Kultur. In diesen Momenten erkennen wir uns selbst nicht wieder. Wir reden vor der vietnamesischen Großmutter nur nach Aufforderung. Wir bringen dem türkischen Onkel den Tee und gehen mit der polnischen Cousine in die Messe. Wir sprechen die Sprache der anderen mit unserem deutschen Akzent, wir wollen uns an ihre Regeln halten. Denn wir sind Teil der Familie. Wir erzählen von »den Deutschen« und »dem Westen«, und wenn wir einen Touristen aus Deutschland sehen, dann ist er auch für uns ein Fremder. Es ist schön, zu einer anderen Gemeinschaft zu gehören. Es ist nicht schwer, nach anderen Regeln zu spielen. Wir leihen uns die Heimat unserer Eltern, weil wir wissen, dass wir dort Besucher sind. Keine Eindringlinge, sondern Ehrengäste. Wir wissen, dass wir nicht leben können wie die Menschen dort. Wir sind froh, sie zu besuchen, aber wir sind auch froh, wieder nach Deutschland zu fahren. Egal, wie oft wir in die Heimat unserer Eltern reisen, egal, wie oft wir darüber schreiben: Wir werden dort nie zu Hause sein. Wir werden nie unseren Akzent verlieren, nie das Land so lieben, nie wirklich dazugehören. Wir wissen das und unsere Verwandten auch. Die Marktfrau erkennt sofort, dass wir die aus dem reichen Deutschland sind. Wir haben doch bestimmt eine schöne Wohnung, denkt sie, bestimmt schicken wir Geld an die Verwandten – und sie verlangt einen zu hohen Preis. Sie weiß, dass sie ein Zehntel oder Zwanzigstel von dem verdient, was wir verdienen. Und wir wissen, dass sie es weiß. Wir schämen uns. Weil wir es besser haben als sie, obwohl wir nicht besser sind. Wir sind einfach nur aus Deutschland. Wir schämen uns, mehr zu besitzen als unsere Verwandten: das iPhone, den Schmuck, die Markenklamotten. Wir nuscheln irgendetwas, wenn sie nach unserem Gehalt fragen, und fügen dann ungefragt hinzu: Das ist normal in Deutschland. Das klingt jetzt viel, aber das ist normal! Wir erzählen nichts von den vielen Reisen oder den Abenden in irgendwelchen Bars. Wir haben Angst, dekadent und hedonistisch zu wirken. Denn wir wissen, unsere Verwandten arbeiten viel härter für viel weniger Geld. Wir fühlen uns wie Verräter. Unser Aussehen, das uns den Anschein von Gleichheit gibt, es ist eine Hülle. Wenn wir im Ausland sind, spüren wir, wie deutsch wir sind. Warum sind wir nicht wie die, mit denen wir verwandt sind? Wir schauen mit deutschen Augen auf die Verwandten Dass wir den Unterschied zwischen Deutschland und Polen, Vietnam und der Türkei verkörpern;
dass wir auf der Gewinnerseite sind, ohne etwas dafür getan zu haben – das können wir uns nur schwer verzeihen. Ohne es zu wollen, schauen wir mit deutschen Augen auf die Verwandten. Und ohne es zu wollen, sind wir irritiert. Warum sind die Polen so scharf auf dicke Autos? Warum müssen die türkischen Schüler jeden Morgen ihre Liebe zum Vaterland besingen? Warum haben Frauen in Vietnam nichts zu sagen? Warum ist das Land so korrupt, die Regierung so schwach, die Bevölkerung so arm? Warum ist es nicht so sicher, demokratisch und zuverlässig wie in Deutschland? Wenn wir in der Heimat unserer Eltern sind, werden wir »Auslandstürken«, »Deutschländer« oder »die aus dem Reich« genannt. Etwas nagt an uns. Das schlechte Gewissen, ihnen finanziell überlegen zu sein. Die Schuld, sie nach unserem Besuch zurückzulassen. Die Erleichterung, dass es für uns eine Alternative gibt. Wir kehren zurück nach Deutschland und merken, dass hier unsere Leben sind. Dass wir uns hier wohler fühlen. Zu Hause. Aber das Wort Heimat kommt uns immer noch nicht über die Lippen. Es hängt fragend in der Luft, eine Idee, die einfach nicht in unsere Wirklichkeit passen will. Wir finden uns damit ab. Wir spüren die Leere, aber wir sehen auch die Logik. Unser Charakter wurde nicht von einem Ort geprägt, sondern davon, dass es ebendiesen einen Ort nicht gab. Irgendwann begriffen wir: Wir haben kein Manko, wir haben mehr. Wir sind nicht, wir werden. Das ist auch befreiend. Wir werden nicht in Haft genommen für deutsche Verbrechen oder vietnamesischen Kommunismus. Wir entscheiden uns, stolz auf das polnische Wachstum oder die türkische Modernisierung zu sein. Und wir finden es inzwischen gut, dass wir verschiedene Kulturen verkörpern: Manchmal sind wir diszipliniert wie Deutsche, manchmal stolz wie Türken, melancholisch wie Polen oder loyal wie Vietnamesen. Wir sind vieles auf einmal. Vielleicht ist die Vorstellung von Heimat keine so gute Idee mehr. Sie passt nicht in eine Gesellschaft, in der viele Menschen zerrissene Lebensläufe haben. Sie passt nicht in diese Zeit, in der die Kinder gleich nach der Schule ausziehen und für mehrere Jahre ins Ausland gehen; in der sich Liebende nicht in der Nachbarschaft, sondern über das Internet finden und sich an einem dritten Ort etwas Gemeinsames aufbauen. Deutschland ist grenzüberschreitender und rastloser geworden. Eine neue Art von Heimat.