Ich pick das mal raus. Du kannst auch in Deutschland aufwachsen und dabei dennoch nicht in Deutschland sozialisiert werden. Zumindest nicht zwangsläufig so wie der 08/15 Alman es idealerweise könnte.
Sozialisierung in der eigenen Peergroup die Antisemitismus gut findet, wird nicht automatisch zu weniger Antisemitismus in dieser Peergroup führen. Hier geboren zu sein heißt nicht automatisch auch den deutschen Wertekanon aufzunehmen.
Das sollte spätestens seit Samstag wieder klar sein.
Klar, das wollte ich auch nicht sagen. Sozialisation ist ja auch kein dichotomes 1/0-Phänomen, wo man entweder Gepflegter-Rasen-"Ruhestörung? Ich rufe die Polizei"-Alman wird oder ein fanatischer Israelhasser wird. Aber mir fällt schon auf, dass bei dem Thema selbst die grundlegendsten Befunde der Einstellungsforschung über Bord geworfen werden, weil man sich aufregt. Einstellungen ändern sich im Durchschnitt (!) im Erwachsenenalter einfach nicht mehr groß. Dazu kommt, dass wie gesagt in Deutschland einfach unheimlich häufig die Einstellung vorherrscht, es müsse jedem inhärent klar sein, warum die deutsche Achtsamkeit bzgl. Antisemitismus die einzig korrekte Haltung ist, ohne dabei in irgendeiner Form mit der Tatsache Handel zu betreiben, dass für andere Völker Antisemitismus vielleicht einfach eine Spielart von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist wie jede andere, was ironischerweise exakt die Haltung ist, die Deutsche selbst bzgl. der anderen Spielarten ja auch einnehmen.
Die ganzen Bullshitargumente gegen "Identitätspolitik", die von konservativer Seite kommen, verkehren sich bei Antisemitismus ins Gegenteil: Da wird völlig ungefragt die Behauptung übernommen, dass der Mehrheitsbevölkerung das Wohlergehen einer doch recht kleiner Gruppe (Juden in Deutschland) inhärent extrem wichtig sein muss, als ob andere Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht immer nach exakt demselben Muster funktionieren würden und das legitime Anliegen von bsp. Sinthi und Roma, nicht diskriminiert zu werden, nicht exakt dasselbe in grün ist. Stattdessen wird jetzt wieder das Geschrei laut, man müsse prüfen, ob man Antisemiten "ausbürgern" kann.
Ich finde es etwas befremdlich, hier eine Dichotomie zwischen tatsächlicher deutscher/westlicher Sozialisierung und diesen offenen Bejubeln von Mord, Folter, Vergewaltigung und Terror aufzubauen.
Das Problem gerade im Rahmen der Debatte ist doch nicht nur die Haltung - sondern dass man meint, diese in dieser jubelnden, offenen Weise kundzutun.
Ein "normales" nicht-westliches Verhalten wäre hier, einen klar pro-Palästinensischen Bias zu haben und zu sagen "Israel ist am Ende schuld", aber zumindest nach außen den Terror abzulehnen.
Na ja, die Leute sehen es halt nicht als der "Terror", der es ist. Allerdings muss man auch mal klar sagen: Dumme Sachen sagen ist eine Sache, so etwas tatsächlich aktiv zu unterstützen ist schon noch mal was anderes und ich würde davor warnen, vom einen auf das andere zu schließen.
Und zum Thema Push/Pull:
Natürlich brauchen wir eine EU-Lösung. Diese braucht Reduktion der Anreize & Schutz der Außengrenzen.
Wenn nur ein Teil der EU die Anreize reduziert und wir die Außengrenzen nicht effektiv schützen, dann ist es nur ein Umverteilungseffekt.
Selbst der Umverteilungseffekt ist aber nicht ohne Vorteile - schließlich sind wir hier Bürger und Steuerzahler, und die höheren Zahlen in anderen Ländern hätten mehr politischen Druck zur Folge, Maßnahmen auf EU-Ebene zu treffen.
Dass auch Maßnahmen einzelner Länder große Wirkung haben können zeigte doch 2016. Deutschland zeigte, dass ein großes Land die Ströme verstärken kann, wenn es positive Signale sendet. Und Mazedonien zeigte, dass man doch tatsächlich unblutig eine Grenze schließen kann.
Die Behauptung, dass Deutschland "Ströme verstärkt" habe, hatten wir hier diskutiert und du hast das Paper, das ich dir dazu gepostet habe, mit in meinen Augen extrem fadenscheinigen Argumenten beiseite gewischt. Im Mindestmaß solltest du aber jetzt nicht so tun, als wäre das Gegenteil bewiesen.
Und wie gesagt: Ich würde schon gerne hören, wie diese Maßnahmen aussehen sollen. Da ist es mit Floskeln wie "Grenzen schützen" nicht getan, insbesondere nicht im Äquilibrium: Diese Menschen sehen ja auch was funktioniert und ändern ihr Verhalten dementsprechend. Das hieße in meinen Augen, dass man entweder (1) alle Länder mit realistisch erreichbarer Seegrenzen "volllaufen" lässt und eine humanitäre Katastrophe ganz anderen Ausmaßes in Kauf nimmt (also Muster Mazedoniens Grenzschließung, aber ohne Griechenland über den Türkei-Deal zu entlasten), (2) mit allen Anrainerstaaten, von denen aus Europa realistischerweise zu erreichen ist Deals schließt, Überfahrten zu verhindern oder (3) tatsächlich Asyl abschafft und ein Land findet, das bereit ist diese Leute aufzunehmen.
Dass man als Deutschland nennenswerte Ströme in andere europäische Länder umlenken kann, zumindest ohne die Versorgungsleistungen deutlich unterhalb dessen zu legen, was das BVerfG vorsieht, halte ich für unrealistisch, einfach aufgrund der Netzwerkeffekte und der Tatsache, dass wir selbst ohne Sozialleistungen noch am ehesten einen großen, aufnahmefähigen Arbeitsmarkt und eine vergleichsweise freundlich gesonnene Bevölkerung haben. Dass wir Asyl gänzlich abschaffen halte ich zwar auch politisch für möglich, aber eben nicht bei den aktuellen Zahlen, da müssten wir vermutlich nochmal über deutlich höhere Zahlen reden, bevor der politische Wille dafür vorhanden ist. Dass die europäischen Bevölkerungen wirklich den politischen Willen für (1) haben halte ich momentan noch nicht für sehr wahrscheinlich. In dem Sinne macht Deutschland es natürlich den anderen Ländern auch sehr einfach, indem es den Druck von ihnen nimmt, aber ob es ohne dieses Ventil deshalb zu einer Lösung nach (1) kommen würde, imho mehr als unsicher. Vermutlich wird auf Dauer eine Mischung aus (2) und weiterhin nicht unbeträchtlichen (aber eben geringeren) Strömen das Resultat sein, wäre zumindest meine Vermutung.
Genau weil dies aus falsch verstandener Rücksichtnahme nie eingefordert wurde, sind Menschen wie ein Cem Özdemir heute leuchtendes Beispiel anstatt eine ganz normale Baseline. Und das ist schlimm, denn ich habe eine ganze Latte von Kollegen die alle irgendwie eine türkische Migrationsgeschichte in der Familie haben und alles korrekte Menschen sind. Genau die sind es die dann darunter leiden wenn auf der Straße der Terrorismus gefeiert wird, die AfD gewählt wird und bei Markus Lanz über böse muslimische Immigranten und Arzttermin-Missbraucher diskutiert wird, weil sich genau diese Menschen dann ZU RECHT an den Karren gefahren fühlen!
Das ist der eine Teil der Rechnung, dem stimme ich auch zu. Der andere Teil der Rechnung wäre allerdings, diese Probleme einzuordnen. Ich habe jetzt bestimmt 20x von den Süßigkeiten verteilt, die in Neukölln verteilt worden sind und das wird regelmäßig kontextualisiert als "Schande für Deutschland". Vielleicht sollte man auch einfach mal im Hinterkopf behalten, dass es unrealistisch ist, in einem Land mit Millionen von Muslimen keine paar Dutzend Schwachköpfe zu finden, die sowas feiern, genau wie es noch keine Ewigkeit her ist, dass in Ostdeutschland Flüchtlingsheime brannten und die Leute bestenfalls apathisch daneben standen; deshalb käme niemand (außer vielleicht die konkret) auf die Idee, Deutsche seien halt so.