Das mit der Therapie ist sicher nicht der dümmste Anfang, v.a. wenn du jemanden ins Vertrauen ziehen möchtest, mit dem du keine Vergangenheit teilst. Das kann definitiv helfen, wieder ne positive Einstellung zu dir selbst und zum Leben zu kriegen.
Ansonsten: One step at a time. Ja, du bist "alt". Ja, du hast afaik "nur" Abitur und kaum Berufserfahrung. Das schließt fast aus, dass du in angepassten und auf puren Schwanzvergleich ausgerichteten Branchen noch nen Fuß in die Tür kriegen wirst. Unmöglich ist nichts, von ner Laufbahn wie sie typische BWL-Studenten hinlegen, biste aber nun mal weit entfernt.
Und das ist so und wird sich auch nicht mehr ändern. Sieh es so: Du hast ein Leben. Du hast Entscheidungen getroffen / vermieden und bist deshalb da, wo du jetzt bist. Du brauchst keine Karriere, sondern erstmal eine Einstellung zu dir, deinen Fähigkeiten und deinen Optionen. Aktionismus wäre jetzt das dümste. Kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich mitten in ner ziemlich finsteren Phase auch wild alles ausprobiert habe und fast komplett auf die Schnauze gefallen wäre. Erst als ich mich ganz bewusst von meinem "alten" Leben distanziert habe, habe ich wieder ne Richtung reinbekommen.
Was das konkret für dich heißt:
- Therapie anfangen, Gespräche suchen und so offen (!) wie nur irgendwie möglich sein. Andere belügen hilft dir nix, im Endeffekt belügst du immer dich selbst. Und darauf willst du kein Leben aufbauen.
- Über den Tellerrand schauen. Grundfragen stellen: Bist du Idealist oder eher pragmatisch? Bist du praktisch oder theoretisch veranlagt? Wie siehts mit Technik aus? Fühlst du dich wohl in Menschengruppen? Kannst du Verantwortung übernehmen oder bist du eher passiv? Willst du primär Kohle, um den Kopf und die Zeit frei für anderen Quatsch zu haben oder willst du einen Beruf haben, der dich erfüllt, aber evtl. zu Lasten deines sozialen Lebens ist?
Triff deine Entscheidung bitte vernünftig und nicht nach dem Schema "oh Beruf A ist geil, ah Beruf B ist auch geil, aber Beruf C wäre noch viel interessanter, ich mach Beruf D!"
- Eine Möglichkeit wären Praktika. Sind meistens ziemlich hohl und auch miesestens bezahlt, andererseits kannst du dich so erstmal umschauen.
- Staatsdienst ist eine Option, weil da das Einstiegsalter relativ wumpe ist, solange du körperlich und seelisch fit genug bist (fit genug = weder chronisch schwerkrank oder in psych. Behandlung bei Berufsantritt; Behinderung ist aber kein Problem).
Lehramt würde ich auf gar keinen Fall als "Notlösung" studieren. Du musst schon auch Lehrer werden wollen, d.h.: auf Geld verzichten, dafür nen stressigen Job mit doofen Eltern, blöden Kollegen und nervigen Schülern akzeptieren und hinter all dem Unfug die Freude ausmachen, die die Arbeit mit Kindern / Jugendlichen bringen kann. Hab bis dato nur als Aushilfslehrer und Kleingruppen-Bespaßer gearbeitet, wurde da aber in meinem Vorhaben, Lehrer zu werden, bekräftigt. Es gibt nix geileres als wenn ein Schüler nach der Stunde sagt: "Heute hab ich das echt verstanden, das wird was." Außerdem sind Teenager liebenswerte Trottel, die meinen, alles verstanden zu haben und dann den herrlichsten Unsinn von sich geben. Ich find die gut.
- Bei Jura gilt Ähnliches: Ist ein sehr hart umkämpftes (Höllenexamen) Studium mit vielen Karrieristen und Scheinmenschen an Bord. Ist aber anders als das Lehramt ein Fachbereich, der dich etwas flexibler aufstellt. Hängt primär von deinem Interesse, deiner Leistungsbereitschaft und Leidensfähigkeit, deinen Noten und social skills ab, was du aus dem Jurastudium machst.
- Ganz wichtig: Kannst du dich organisieren oder kämpfst du täglich gegen dich selbst, um den kleinsten Scheiß erledigt zu kriegen? Falls letzteres zutrifft, würde ich von nem Studium an ner Uni abraten und eher Richtung Ausbildung / FH schielen. Jetzt wirst du evtl. denken: "wat, Ausbildung, ich bin so alt", aber es gibt genug Branchen, die auch gerne ältere Azubis mit kaputtem Lebenslauf nehmen. V.a. im Handwerk gibts da Optionen. Musst du aber natürlich auch wollen.
Fazit mit etwas Rutznefutz-Biographie: Ich hab selber 4 Jahre meines Lebens damit verbracht, vor mir selbst wegzulaufen. Jetzt schließe ich nächste Woche mein Studium ab und geh mit nem Examen und nem parallel gemachten Master raus. Vor sechs Jahren war ich komplett depressiv, illusionslos, ungesund und frustriert. Kann natürlich immer noch als Hartzer enden, aber das ist mir ehrlich gesagt jetzt egal. Die Tatsache, dass ich mein Leben doch noch in die Hand genommen habe, hat mir den Arsch gerettet.
Allein hab ich das aber nicht geschafft. Ohne Familie und Freunde wär ich wahrscheinlich in der Klapse. Deshalb mein ganz unironischer Rat: Umgib dich mit Menschen, auf die du dich verlassen kannst.