Stimmen hinter der Hecke

Noel2

Guest
Erik riss die Augen auf. Irgendetwas stimmte nicht. Mit einiger Schwierigkeit versuchte er sich zu orientieren. Regale, Schränke, der robuste Hartholztisch; kaum zu erkennen in dieser merkwürdigen Dunkelheit. Waren sie überhaupt da? Konturen vermochte er erst gar nicht wahrzunehmen. Waren sie nur Manifestierungen der Dunkelheit in unserer Welt? Würde sie ein Fremder, ohne zu wissen, dass sie tatsächlich da sind, sehen können? Und dann diese Dunkelheit.

Sein Blick schweifte die scheinbar endlos langen Wände entlang, bis er schließlich eher zufällig auf ein Fenster stieß. Draußen war es nur unwesentlich heller als drinnen. Dass die Dunkelheit ihren Ursprung nicht im Haus fand, beruhigte ihn ungemein. Warum ihn das beruhigte, das konnte er nicht so genau sagen; auch die Frage nach der Uhrzeit blieb unbeantwortet. Er lächelte grimmig. Er hasste das Gefühl der Unbeholfenkeit, obwohl es ihm eigentlich fremd war. Er verlor nur selten seine Beherrschung.

Auf der Suche nach Antworten fiel sein Blick schließlich auf den sorgsam gewebten Perserteppich gegenüber dem Fenster - endlich ein Fixpunkt. Sorgsam gewebt? Das ohnehin schon diffuse Herati - Motiv wirkte noch matter wie sonst, ebenso unwirklich wie der Rest seiner Umgebung; dennoch ragte der Teppich hervor. Er war sich sicher; nein er wusste, dass es der Teppich sein musste, den er diesem etwas zwielichtigen Antiquitätenhändler vor einigen Monaten abgekauft hatte. Starke Behaarung, ein ziemlich unvollständiger Satz von Zähnen, südländischer Akzent und dieser merkwürdige Duft im Laden: Nein, diesen Menschenschlag war er nicht gewohnt und er hatte auch nicht vor, das großartig zu ändern. Dennoh lächelte er zufrieden; er wusste, dass es ein gutes Geschäft war. Ähnliche Teppiche wechselten für deutlich mehr Geld ihren Besitzer.

Ein leichtes Schnurren riss ihn aus seinen Gedanken. "Gisela?" Als Antwort vernahm er lediglich einen weiteren Laut, der ihn daran zweifeln ließ, dass der Ursprung wirklich seine Frau war. Achtsam, doch zielstrebig näherte er sich dem Bett. Er erschrak, als er statt seiner Frau eine schwarze Katze, deren Fell mit wenigen weißen Flecken geziert war, auf der linken Seite des Betts vorfand. "Verdammtes Mistvieh!" entfiel es ihm. Katzen, Hunde, Haustiere; das alles war nichts für ihn. Das überraschte Tier starrte ihn kurz an, bevor es, sich fast überschlagend, sein Heil in der Flucht aus dem Fenster suchte. Wo kommt das verdammte Ding her? Und wieso ist das Fenster offen? Und wo ist eigentlich Gisela? Langsam wurde er ärgerlich. Er wusste, dass dies keiner von den Träumen war, in dem man Antworten erhält.

Er war es nicht mehr gewohnt, neben seiner Frau aufzuwachen. Sie war morgens schon lange wach, bevor er aufstand. Brötchen holen, Pausenbrote schmieren, die Kinder wecken und sie zu zur Schule schicken; ihr Aufgabenbereich verlangte dies nunmal.
Und Sex? Nunja, obwohl er den 50 nicht mehr fern war, konnte er erst noch recht gut. Aber mit Gisela? Nun, sie war nicht mehr die Jüngste und 3 Schwangerschaften hatten ihr übriges getan. Gott sei dank gab es da andere Möglichkeiten. Ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen überkam ihn wie ein fiebriger Film, der sich über seine Gedanken legt. Es ekelte ihn an, da schlechtes Gewissen für ihn nichts anderes als gedankliche Schwäche ist und er Schwäche hasst - an anderen, aber besonders an sich selbst.
Und außerdem: "Was der Bauer nicht weiß, macht ihn nicht heiß.", so heißt es doch und außerdem war es ja so für alle Beteiligten besser.

Ein weiteres Geräusch drang in sein Ohr. Waren es Stimmen? Oder doch eher Geschrei? Er war sich nicht sicher. Wenn es wirklich Stimmen waren, verloren sie sich wie bei einem schlechten Konzert in einen merkwürdigen Brei aus Lauten. Jedenfalls schien die Quelle außerhalb des Hauses zu liegen. Er wurde ärgerlich. Die Nachbarskinder konnte einem schon einen schönen Sommerabend verderben. Er überlegte kurz, ob er rausgehen sollte, aber dann entschied er, dass ein Blick aus dem Fenster für genug Klarheit sorgen würde. Er näherte sich dem Fenster; der Mond war nirgends zu sehen. Vielleicht war ja auch Neumond? Naja, wen interessiert das schon? Ihn jedenfalls nicht, im Gegensatz zu den merkwürdigen Geräuschen, die ihren Ursprung hinter der Hecke zu haben schienen.
Moment. Welche Hecke? Ihr Grundstück war zwar von dem der Nachbarn getrennt, darauf hatte er damals beim Kauf großen Wert gelegt, aber eine Hecke? Er sah genau hin. Stark verwachsen und merkwürdig verschlungen wirkte sie eher wie eine Wand, die aufgrund ihrer Erscheinung auch Himmel und Hölle hätte trennen können. Deutlich erkennbare scharfe Stacheln, die ein Licht, das scheinbar keinen Ursprung hatte, reflektierten, taten ihr übriges. Er stellte sich mit Narben übersähten Arme seiner Kinder vor. Er wurde noch ärgerlicher. "Der Herr Nachbar hätte sie ja mal schneiden können".

Die erneut anklingenden Geräusche hinter der Hecke machen seinen Zorn kurz vergessen. Etwas ratlos versuchte er, ihren Ursprung auszumachen. Er glaubte auch, dort etwas Menschliches ausmachen zu können. Wirklich die Nachbarskinder? Oder doch irgendwelche Hausierer? Aber um diese Uhrzeit? Welche Uhrzeit eigentlich? Die Stirn runzelnd fällt sein Blick erneut auf die Hecke. "Vielleicht hat sie ja doch etwas Gutes", murmelte er. Die Neugierde wich so langsam dem Gefühl der Sicherheit. Er konnte die Ursache nicht ausmachen, war aber in jedem Falle vor ihr geschützt. Außerdem wusste er ja bereits, dass dies kein Traum war, die Antworten für einen bereithält. Kannte er solche Träume überhaupt?

Er schloss das Fenster und legt sich zurück ins Bett. Gisela? Achja, keine Antworten...

Erik riss die Augen auf. "Blöder Traum", dachte er sich und blickte um sich. Alles in bester Ordnung. Regale, Schränke, der große Wandteppich, alles wie immer. Aus der Küche drangen bereits die Stimmen seiner Familie . Er trat ans Fenster. Die Sonne in ihrem matt-blauen Himmelszeit war bereits aufgegangen. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Die Sonnenstrahlen wurden an den goldenen Löwen, die die schöne weiße Mauer, die ihr Grundstück von denen der Nachbarn trennen, noch verzierten, reflektiert. Er lächelte.
 
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