Schlaf (Contest 2012)

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So, anscheinend fällt mir die Ehre zu, den Lyrik-Contest 2012 zu eröffnen. :)

Ich wusste erst nicht, was ich schreiben sollte, da ich normalerweise keine Kurzgeschichten schreibe und all meine vorrätigen Ideen auf Roman ausgelegt waren. Es musste also eine neue, kompakte Idee her, die am besten noch etwas mit dem Forum zu tun hatte. Für eine Geschichte im Starcraft-Universum fehlte mir aber etwas der Story-Hintergrund und die Inspiration. Dann fiel mir dieser alte Thread und die Legende, die darin erwähnt wurde, wieder ein. Ich habe aiw aufgegriffen und daraus meine Geschichte gestrickt. Ich hoffe, sie gefällt.


Schlaf

Simon fühlte sich ungewohnt beschwingt, als er an diesem regnerischen Donnerstagmorgen sein Büro betrat. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er wieder gut geschlafen, ungestört und traumlos. Das wirkte an sich wie nichts Besonderes und kein Grund zur Freude, aber für ihn war das ein unglaubliches Geschenk. Er hatte die letzten zwei Wochen keine Nacht durchgeschlafen und hatte sich als Folge wie ein Zombie gefühlt. Dieses Lied konnte wohl jeder singen, der schon einmal unter ernsthaften Schlafstörungen gelitten hatte, aber seine Schlafprobleme waren ganz besonders verstörend.

Jonas war wie immer schon etwas früher da und nippte gerade an einem Kaffee, als Simon eintrat. Er lächelte, als er seinen Kollegen erkannte. „Hey, du siehst ja richtig erholt aus! Hast du dein Schlafproblem unter Kontrolle bekommen?“

Simon nickte und hängte seine Jacke auf. „Die Pillen haben echt gut geholfen. Wenn diese Nacht etwas da war, habe ich es nicht mitbekommen.“

„Sagte ich ja. Diese Dinger sind toll. Keine Dauerlösung, aber für Notfälle echt praktisch. Wobei du dich vielleicht mal auf die Couch legen solltest, eine solche Reaktion auf Horrorfilme ist nicht normal!“

„Das ist keine Reaktion auf Horrorfilme!“, sagte Simon, der aber durchaus nachvollzeihen konnte, wie Jonas auf diesen Gedanken kam. Schließlich hatte das Problem unmittelbar nach ihrem alljährigen Halloween-Horrorfilmmarathon angefangen. In den Tagen danach hatte Simon immer wieder das Gefühl gehabt, dass jemand nachts in seinem Zimmer stand. Er war schweißgebadet aufgewacht und hatte diese dunkle Gestalt an seinem Bett gesehen, die vage an einen Mann mit Zylinder erinnerte. Sie hatte ihm nie etwas angetan und war immer kurz nach seinem Aufwachen verschwunden, aber das Ergebnis war trotzdem extrem verstörend gewesen. Simon war sich sicher, dass die Gestalt mit der Zeit näher an sein Bett herangerückt war und hatte sich oft gefragt, was passieren würde, wenn er mal nicht rechtzeitig aufwachen würde. Seltsamerweise schien niemand sonst dieses Phantom sehen zu können. Er lebte mit seiner Verlobten Anna zusammen und diese hatte den Fremden nie bemerkt. Seine panische Reaktion hatte sie stets aufgeweckt, aber sonst schien für sie alles in bester Ordnung zu sein. Natürlich machte sie sich Sorgen, aber die drehten sich wohl eher um seinen Geisteszustand als um die merkwürdige Gestalt.

„Oder haben wir irgendeinen Film mit einem Kerl mit Zylinder gesehen?“, sagte Simon, als Jonas ihn weiterhin skeptisch ansah.

„Hmm, ‚From Hell‘ vielleicht?“

„Ich habe ganz sicher keine Angst vor Jack the Ripper. Ich bin doch keine Londoner Nutte.“

„Stimmt wohl“, sagte Jonas. „Aber jetzt mal im Ernst, Simon: Es ist kein Schande, wenn einem ein solcher Film manchmal nachhängt. Ich habe zum Beispiel ‚Drag Me To Hell‘ an Halloween auch ganz schlecht verkraftet. Ich hatte in den letzten Wochen manchmal Albträume von einer hässlichen, blauhäutigen Hexe, die mich durch das Fenster angestarrt hat, aber einigermaßen schlafen konnte ich trotzdem. Entweder lässt du das Ganze zu sehr an dich herankommen – was ich bei jemandem mit deiner Horrorfilmerfahrung für unwahrscheinlich halte – oder du hast irgendwelche tieferen Probleme. Es kann ja nicht schaden, mal nachzusehen.“

An diesem Punkt war Simon auch schon gewesen. Er hatte sich in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema beschäftigt – es war erstaunlich, wie viel Zeit man hatte, wenn man nicht schlief – und hatte auch einiges dazu gefunden. Das Phänomen war wohl zumindest halbwegs bekannt und wurde in der ‚Fachwelt‘ – wenn man das bei einem so exotischen Thema so nennen konnte – als ‚Bedroom Visitor‘ bezeichnet. Seriöse Quellen waren Mangelware, stattdessen war er entweder auf Esoterikseiten, die nebenbei noch Heilsteine und Foki verkauften, oder bei rein fiktionalen Fällen gelandet. Die Fälle waren alle recht ähnlich zu seinem gewesen, auch wenn die Betroffenen meistens Kinder waren. Die Besucher schienen grundsätzlich harmlos zu sein, jedenfalls wurden körperliche Schäden praktisch nie berichtet. Einen Ratschlag, wie man sie wieder loswurde, hatte aber keine der Quellen genannt. Meistens schienen die Besuche von selbst aufzuhören, sie konnten sich aber über Jahre hinziehen.

Warten war für ihn aber keine Alternative, weshalb er sich nach langem Zögern schließlich ein Schlafmittel besorgt hatte. Simon war zwar recht skeptisch, was diese Mittel anging, aber permanenter Schlafmangel war auch keine Lösung. Natürlich hatte er dem Arzt nicht genau gesagt, was das Problem war, aber generische Schlafstörungen hatte als Begründung locker gereicht. Müde genug ausgesehen hatte er jedenfalls. Geholfen hatte es, allerdings hatte Jonas ganz recht, er musste sich noch mal mit der Ursache für seine Schlafstörungen beschäftigen. Vielleicht war ein Psychiater ja keine schlechte Idee, er würde sich mal diskret nach einem umsehen müssen.

Jetzt war aber nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Die anderen Kollegen würden bald auftauchen und Simon wollte nicht vor ihnen darüber reden. Mentale Probleme waren nie gut für die Karriere und im konservativen Banksektor war das nochmal problematischer. „Ich werde mal darüber nachdenken.“

Das schien Jonas zu reichen und den Rest des Arbeitstages konzentrierten sie sich auf ihre Aufgaben, was mehr als genug Arbeit war. Der Finanzsektor war noch schwer gebeutelt von der anhaltenden Finanzkrise und das schlug auch auf ihre tägliche Arbeit durch. Da überall Kosten gespart wurden, musste sie mit deutlich weniger Kollegen auskommen als früher und gleichzeitig alle irgendwie fragwürdigen Transaktionen der letzten Jahre aufarbeiten. Der Job war immer noch sehr gut bezahlt, gerade für Ende Zwanzig, aber die goldenen Zeiten war wohl vorbei. Am frühen Nachmittag ging Simon den Ausdruck einer Eigenkapitalunterlegungsberechnung aus dem Drucker holen. Der Druckerraum war ein kleines Kabuff ohne Fenster mit schrecklich abgestandener Luft. Früher hatte der Drucker immer im Büro der Sekretärin gestanden, aber seitdem auch Drucker unter Feinstaubverdacht geraten waren, wurden sie in leere und abgetrennte Zimmer abgeschoben, die auch nicht sonderlich behaglich sein mussten. Als Simon sich nach dem Ausdruck bückte – die Idee eines papierlosen Büros war bei vielen in der Firma noch nicht angekommen –, flackerte des Licht an der Decke plötzlich. Der Raum wurde schlagartig dunkel und er hatte das bestimmte Gefühl, dass jemand hinter ihm stand. Starr vor Schreck überlegte er, was er tun sollte. Sollte er sich umdrehen oder nicht? Seine Horrorfilmerfahrung war hier nur von begrenztem Nutzen, es war eben manchmal richtig hinzuschauen und manchmal nicht. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, ging die Lampe über ihm wieder an und die unheimliche Präsenz verschwand wieder. Erleichtert drehte er sich um und blickte direkt in das Gesicht des Phantoms mit dem Zylinder.

Es war ein verstörender Anblick. Das Phantom trug neben seinem Zylinder einen altmodischen Mantel, der vermutlich noch aus der Weimarer Republik stammte, über einem ausgemergelten und vertrockneten Körper. Sein Kopf war so eingefallen, dass sein Gesicht wie ein Schädel wirkte. Es war eindeutig tot, vermutlich handelte es sich um einen Geist oder etwas Ähnliches. Eine Todesursache war nicht zu erkennen, der Körper schien bis auf den verfallen Zustand unverletzt zu sein. Nur die sehr lebendigen Augen passten nicht zu dem eindeutig untoten Aussehen.

„Du musst sie aufhalten!“, sagte das Phantom zu ihm. Seine Stimme war kratzig und sehr leise. „Sie ist schon ganz nahe.“

Da das Phantom zwischen ihm und dem einzigen Ausgang stand, war Flucht keine Option. Simon spielte daher erst mal mit, während er instinktiv nach eine Waffe suchte. Was half denn normalerweise gegen Geister? Eisen oder Salz, soweit er sich erinnern konnte. Beides war in einem Druckerraum aber nicht zu bekommen. „Wen soll ich aufhalten?“

„Die Nachthexe. Dein Freund wird sie nicht kommen sehen und sie wird ihn holen, so wie sie mich geholt. Finde ihn und gib ihm etwas aus Silber. Es wird ihn vor ihrem Blick verbergen. Ich wollte ihn warnen, aber sie ist viel mächtiger als ich. Es hat meine ganze Kraft erfordert, mit dir zu reden. Ich wollte dich früher warnen, aber sie hat mich immer aufgehalten. Nur jetzt, wo sie abgelenkt ist, kann ich mit dir reden.“

Die Stimme des Phantoms wurde zunehmend schwächer und seine Gestalt flackerte etwas. Anscheinend fiel es ihm wirklich schwer, so mit ihm zu reden. Das war eine sehr surreale Situation, aber Simon war geneigt, diese Warnung ernst zu nehmen. Er wusste zwar nicht, was eine Nachthexe genau war, aber für einen Scherz war die ganze Sache zu aufwendig. „Okay, aber wen soll ich retten?“

Das Phantom legte eine Hand auf seine Schulter – zu Simons Überraschung konnte er die Hand fühlen – und für einen Moment sah er Jonas, wie er in einem anliegenden Büro seinen Mittagsschlaf – oder moderner: sein Power Nap – hielt. Irgendeine unförmige Gestalt schien sich über ihn zu beugen. Dann endete die Vision und er stand alleine in dem Druckerraum. Das Phantom war verschwunden. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Möglich, aber es schien ihm unvorsichtig, die Warnung einfach so zu ignorieren. Wenn er falsch lag, war Jonas vielleicht etwas sauer auf ihn und er würde sich dringend einen Psychiater suchen müssen, aber das war besser als die Alternative. Er sprintete aus dem Druckerraum in Richtung des Büros, in dem Jonas bevorzugterweise seinen Mittagsschlaf hielt. Hoffentlich kam er noch rechtzeitig. Etwas aus Silber hatte er glücklicherweise, sein Verlobungsring war aus Silber und Platin gefertigt. Zumindest temporär würde Jonas ihn tragen können, egal was die Kollegen dazu sagen würden.

Als er dort ankam, sah er Jonas schlaff in einem Stuhl liegen, seine gelöste Krawatte lag daneben auf einem Tisch. Er hatte Simon den Rücken zugewandt, sah aber so friedlich aus, dass Simon schon erleichtert aufatmete. Dann aber blickte er in die spiegelnde Fensterscheibe, die normalerweise eine tolle Aussicht über das Frankfurter Bankenviertel gab. Eine grauenvolle Gestalt blickte ihn an. Die Nachthexe sah aus wie eine sehr dünne, abgrundtief hässliche Frau mit bläulicher Haut, langen Klauen und roten Augen. Das musste die Frau sein, von der Jonas geträumt hatte. Er hatte die Warnung gesehen, aber sie nicht erkannt. Die Hexe schenkte ihm ein abstoßendes Lächeln voller gelblicher Fangzähne und verschwand dann. Er lief zu Jonas und fühlte ihm den Puls. Nichts. Er sah unverletzt aus, aber er war eindeutig tot.
 

Green Monkey

Lyric-Contest Sieger 2009, Lyric-Contest Sieger 20
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Die Idee der Geschichte ist eigentlich ganz gut. Damit meine ich jetzt nicht unbedingt den Auslöser eines Horrorfilmabends für Schlaflosigkeit, sondern eher das zugrunde liegende Motivfeld Wahrnehmungsstörung/ Angstzustände/ Aufhebung der Grenzen zwischen Illusion und Realität. Das ist fast immer ziemlich interessant, nicht umsonst handelt praktisch jeder Nolan-Film davon (mit Insomnia ist ja fast der direkte Bezug da). Auch der Erlkönig ist ein gutes Beispiel dafür.
An manchen Stellen hätte ich mir noch eine energischere Umsetzung gewünscht, etwa hätte man das Ende noch ein wenig spannender gestalten können glaube ich. Mehr retardierende Momente, ein bisschen mehr Suspense, mehr Zweifel (beispielsweise: dass Simon vom Drucker zurückrennt, aber alles in Ordnung, dann wird Jonas überredet den Ring zu tragen, damit Simon beruhigt sein kann, das ganze Büro spottet dann natürlich, Jonas will den Ring ablegen, Simon wird unruhig, zeigt ihm den Druckerraum, der ist ganz normal, der Ring wird abgelegt, Simon wieder alleine im Druckerraum, wieder eine Warnung, er kommt zurück, Jonas ist tot). Der Grundkonflikt ist ja die subjektive Wahrnehmung der Realität, die im Gegensatz zur objektiven Sichtweise (die anderen Mitmenschen, das Wissen, dass etwas nicht sein kann, etc.) steht. Das könnte noch ein bisschen maximaler zur Geltung kommen.
 

suN

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Fand ich ganz nett. Selten lese ich Sachen (selbst Kurzgeschichten) zu Ende, wenn ich nicht gleich was daran finde. Stimme aber Green Monkey zu, dass man an bestimmten Punkten ein bisschen was hätte ausführlicher/besser hätte machen können um ein bisschen mehr Spannung zu erzeugen.

Aber sei es drum, ich fands ganz gut.
 
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Danke schon mal für das Feedback. Ihr habt schon recht, ich hätte die Idee noch etwas weiter ausbauen können, nur leider kam ich bei der momentanen Länge schon auf drei Seiten :(
 
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