maja

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maja (aus meinem nie fertig werdenden 1. roman ;))

Rauschen. Im Keller des Hochhauses rauschte es immer. Tag und Nacht. Eine Frau in einem weißen Kittel mit einem grünen Streifen an der Seite stand über ein Mikroskop gebeugt und notierte ihre Beobachtungen in einen dieser Palmtops, die eigentlich niemand braucht, die aber zum Standardinventar aller wichtigen Menschen gehörten. Sie arbeitete schon lange in diesem Hochhaus, seitdem sie die Schule abgebrochen hatte. Damals hatte sie sich eine Lehrstelle in irgendeinem naturwissenschaftlich orientierten Konzern gewünscht. Ursprünglich hatte sie ja Ärztin werden wollen, aber das war ohne Abitur nicht möglich gewesen. Deshalb hatte sie beschlossen, sich als Laborassistentin in einem der großen Unternehmen zu bewerben. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie von dieser Firma, von der sie vorher noch nie etwas gehört hatte, ohne große Zusatztests genommen worden, sie erhielt einen Lohn, der ihre Erwartungen bei weitem übertraf und war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Sicherlich gab es spannendere Jobs, aber sie musste zufrieden sein. Ohne Abitur 2000 Euro netto im Monat, und das schon mit 25.

Sie kam jeden Morgen um kurz vor sieben Uhr zu dem Hochhaus, das vor zehn Jahren am Stadtrand errichtet worden war. Ein gigantisches Gebäude aus Glas, das von allen vier Himmelsrichtungen aus betrachtet gleich aussah, jedoch im Inneren asymmetrisch aufgebaut war. Sie ging jeden Tag durch den Osteingang, um dann, nachdem sie sich durch ihren Fingerabdruck angemeldet und den Zugangscode für den Laborbereich erhalten hatte, mit dem Fahrstuhl 27 in die Tiefe zu fahren. Ihr Arbeitsplatz war das Labor 11D, hier untersuchte sie Gewebeproben, analysierte sie neue chemische Zusammensetzungen, irgendwelche Erfindungen, die die Typen aus den oberen Geschossen gemacht hatten, ihre Aufgabe war, die neuen Stoffe auf Verträglichkeit mit Mensch und Umwelt zu überprüfen. Es war ihr nicht erlaubt zu fragen, was genau sie da untersuchte. Sie war auch nicht eingestellt worden, um die Forschungen voranzutreiben. Ihre Aufgabe war einfach und klar umrissen: Kontrolle der Gewebeproben, Analyse auf Verträglichkeit, bei negativen Ergebnissen Meldung erstatten, alles im Computer vermerken. Sie langweilte sich, aber das war in Ordnung. Ihre Gedanken gingen auf lange Reisen, während sie vor sich hin summend die Reagenzgläser neu sortierte. Eigentlich war sie gar nicht hier. Am Anfang waren durch ihre Träumereien einige Sachen zu Bruch gegangen, doch seitdem die Personalabteilung ihr eine Rüge erteilt hatte, konzentrierte sie sich so lange nur auf ihre Arbeit, bis sie irgendwann alle Arbeitsvorgänge verinnerlicht hatte. Damit waren ihren Gedanken Tür und Tor geöffnet und sie sang und träumte sich durch ihren gläsernen Tag, sie vergaß, wo sie eigentlich war und dachte an die Welt, die draußen immer noch sein musste.

Sie hatte schon lang keinen Wald mehr gesehen. Sie kam, wenn es noch dämmerte und sie ging, wenn es schon dunkel war. So war es auch kein Problem für sie, dass sie alleine arbeiten musste. Sie hatte vierzig Quadratmeter Laboratorium ganz für sich allein, wenn sie gewollt hätte, hätte sie auch nackt arbeiten können. Nur alle zwei Wochen kam mal jemand von oben, um alles zu kontrollieren und sie ein bisschen zu begrapschen. Doch darüber sah sie hinweg, sie war im Wald, auf der Wiese. Manchmal, wenn sie daheim vor der Heizung kauerte, weil ihr so kalt war und sie sich allein fühlte, weinte sie. "Das geht vorbei", sagte sie sich immer und immer wieder vor und sie schloss ihre Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf. "Nicht traurig sein." Am traurigsten war sie immer dann, wenn sie morgens in der U-Bahn die anderen Menschen beobachtete. Das war nicht diese einsame Verzweiflung vor dem Heizkörper, das war eine Traurigkeit, die so rein und unverfälscht in ihr rumorte, dass sie fast schon ein wenig stolz darauf war, eine solche Emotion in sich zu tragen. Die meisten Menschen waren allein und einsam, das sah sie ihnen an. Diese sarkastische Falte um die Mundwinkel, die zu sagen schien "mir gehts gut, ja mir gehts gut", die darum zu betteln schien, aktiviert zu werden. Doch niemand aktiviert in einer U-Bahn. Sie liebte mit dem Mädchen, das jeden Morgen am Bahnsteig stand, um ihren Freund zu verabschieden, und sie fühlte mit dem Kind, das nur unter Tränen von seiner Mutter lassen konnte. Im Zug saß meistens ein alter, barttragender Orthodoxer, der seine Gebete murmelte und diese nur unterbrach, wenn sich jemand zu ihm setzte. Dann sah er kurz auf, runzelte die Stirn, so als ob er sich das Gesicht des Menschen, der sich zu ihm gesetzt hatte, einprägen wollte, um schließlich mit seinem ewigen Gebet fortzufahren. Sie war drauf und dran zu vereinsamen, das wusste sie. Ihre alten Freunde hatte sie schon seit einem Jahr nicht mehr angerufen, ihr Handy hatte sie mit einem Hammer zerschlagen, weil sie sich so über das Schweigen des Gerätes geärgert hatte. Angst stieg oft in ihr auf, wenn sie daran dachte, dass sie vielleicht niemals Kinder haben würde. Ihre einzige Ansprache war ihr Anrufbeantworter, den sie manchmal besprach, nur um sich selbst von einer Telefonzelle aus anzurufen, um eine Nachricht zu hinterlassen, die sie dann daheim weinend abhörte. Sie hasste dann den Anrufbeantworter, das Telefon und sich, aber sie tat nichts gegen ihre Einsamkeit, und das wusste sie.

Das letzte Mal, als sie abends aus gewesen war, war schon eine halbe Ewigkeit her. Damals hatte sie einen gutaussehenden Mann angesprochen, und alles war ziemlich gut gelaufen, bis zu dem Moment, als er sie küssen wollte. Sie war zurückgeschreckt und hatte ihm dabei unabsichtlich ins Gesicht geschlagen. Dass er daraufhin nichts mehr ihr wissen wollte, war logisch und sie war diesen Abend tränenüberströmt nach Hause gerannt, zu ihrem Heizkörper, der so warm war. Sie hatte ein Polster an den Körper montiert, so dass sie sich eng an ihn schmiegen konnte, fast wie an einen menschlichen Körper. Manchmal trank sie. Dann weinte sie nicht, dann schrie sie. Sie beschimpfte den Heizkörper, an ganz besonders schlechten Tagen drohte sie ihm, ihn rauszuwerfen. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie andere Vorstellungen vom Leben gehabt.
Sie besaß kein Auto, obwohl sie den Führerschein erworben hatte. Sie hatte weder Fernseher, noch Computer, auch ihr Radio war schon lange auf den Müll gewandert. Filme und Musik machten sie rasend, sie war nicht mehr zu bremsen vor Wut, wenn sie ein Lied aus ihrer Vergangenheit hörte. Bright Eyes, Goldfrapp, Travis. Das hatte sie einst geliebt, nun hasste sie es. Sie summte bei der Arbeit, doch das waren keine Melodien aus ihrem früheren Leben, das war minimal music, die keinen Anfang und kein Ende hatte, ein Geräusch, das sich in das Rauschen einfügte, das allgegenwärtig war.

Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie führ herum. "He, Maja!" Nur Peter nannte sie so. Peter war der einzige Mensch, den sie in der Firma kannte, der diese Bezeichnung verdient hatte. Er war nett, zuvorkommend und hilfsbereit, Peter war der Hausmeister der Untergeschosse im Ostbereich und seine Stimme war noch die eines Mannes, der ein Leben außerhalb der Arbeit hat. Er hatte eine Familie und einen großen Hund, das hatte er ihr mal erzählt. Nun stand er vor ihr, die kleinen Augen inmitten eines freundlichen Gesichts, mit einem unmöglichen Schnurrbart in der Mitte. "Maja, biste schon verrückt geworden da unten?" Maja lächelte. "Nee, Peter, was gibts denn." Ein kleines Glücksgefühl breitete sich in ihrem Bauch aus, Peter, Peter. "Wollt dich fragen, ob du mal Lust hast, hier rauszukommen. Ich geb heute Abend ne kleine Party, hab nämlich Geburtstag..."
"Alles Gute!"
"...Geburtstag und wollte ein paar Freunde einladen, du weißt ja, wie das ist." Sie schluckte. "Mhm."
"Na ja, und weil ich mir gedacht hab, du bist immer so traurig und außerdem stehst du den ganzen Tag in dieser grauen Scheiße da rum, da hab ich mir gedacht, ich lad die kleine Maja mal ein, dass sie mal raus kommt aus ihrem Schneckenhaus, was sagst du?"
"Oh, das ist echt nett, aber..."
"Nee, nee, Maja, so brauchste mir gar nich kommen! Du kommst heute Abend zu mir und Edith und wir grillen was, trinken einen Wein zusammen und du lachst mal wieder. Ich sehs doch, du wirst jeden Morgen stiller und trauriger. Vor nem Jahr biste noch jeden Morgen reingschwebt, ich hab der Edith immer gesagt, du bist wie der Sonnenaufgang,

"ich bin der sonnenaufgang."

aber die letzte Zeit, da...ich wills auch gar nicht wissen, was mit dir los ist, ich will nur, dass du mal wieder lachst und du kommst heute Abend. Wenn du willst kannst du auch ein paar Freunde von dir mitbringen."
Maja schluckte erneut und holte tief Luft. "Peter", sagte sie, "Peter hör mal, ich glaube, dass ist keine so gute Idee. Ich hab sehr viel..." Sie zögerte erneut. "Peter, ich hab sehr viel zu tun. Ich denke, dass ich heute Überstunden machen muss."
"Komm, erzähl mir keinen Mist, Maja, ich rechne mit deinem Kommen, und wenn du nicht hinkommst, weil du kein Auto hast, dann nehm ich dich einfach mit, wenn du Schluss hast." Maja schüttelte energisch den Kopf und versuchte krampfhaft, ihrer Stimme Nachdruck zu verleihen: "Peter, erstens kann ich echt nicht, außerdem hast du doch so weit ich weiß schon um halb sieben Arbeitsschluss. Du müsstest meinetwegen noch hier rumsitzen, beim besten Willen, ich kann dir nur absagen. Es tut mir leid."
Peter schien sichtlich getroffen zu sein, er wirkte fast schon ein wenig beleidigt, als er Maja den Rücken zukehrte. "Dann mach doch was du willst. Ist ja deine Sache, viel Spaß daheim." Er ließ die Tür hinter sich zufallen und Maja stand wieder allein in ihrem Reich aus Grau und Rauschen. Vielleicht würde sie doch zu Peter gehen, sozusagen den großen Auftritt hinlegen. Nein.

Also wieder alleine zu Hause.
"Scheiße."
Die Ampullen auf dem Schreibtisch lächelten.
 

Green Monkey

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Ich finde bei dieser Geschichte hat man ein bisschen gemerkt, dass es ein Teil aus einem Roman ist. Wenn man sie ein wenig gekürzt und umstrukturiert hätte, wäre sie vielleicht noch besser gewesen, weil kurzgeschichtenartiger.
 

[fN]Leichnam

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noel:

Die Idee am Ende ist nicht ganz verkehrt, aber in meinen Augen unrealistisch. Sie zerschlägt ihr Handy, weil es so leise ist, geht aber nicht auf die Party des einzigen Menschen, zu denen sie ein wenig eine Beziehung hat. Ich bin kein Tiefenpsychologe, aber ihre Gedanken und ihr Handeln ist nicht konsistent.




Ausdruck:

Recht gut, gerade im ersten Teil wird die Stimmung relativ gut eingefangen.
 
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Sie ist einsam, deswegen frustriert, hat aber Angst vor Menschen.
Is doch ganz einfach.

Zum Stil: Gefällt mir selber nicht so, entspricht nicht mehr meinem heutigen Schreibstil. Ist halt der einzige Text, der so etwas ähnliches wie eine Handlung enthält, den ich für den Contest finden konnte.
 
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