Flugangst

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15.10.2001
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Du stehst da, auf dieser Wiese.
„Warst du schon?“ „Nein. Ich glaub' nicht, dass ich...“
Dann bist du doch gegangen.
Erst stehst du ein paar Schritte weiter weg von diesem grauen Granitblock. Dann, ganz langsam setzt du einen Fuß vor den anderen.

Bis du die Inschrift lesen kannst.

Da musst du wieder an sie denken.

„Mein Name ist Hanna, ich bin neu in der Stadt.“
Das waren die ersten Worte, die sie gesagt hat. Nicht zu dir, zu euch, als ganze Klasse.
Du spürst, wie ein Kollektiv eine Entscheidung fällt, manchmal ist es jetzt schon vorbei, manchmal bekommen die Neuen noch eine Chance.
Jetzt, im Mathe LK ist die Wahrscheinlichkeit für eine Chance groß, sie ist hübsch. Aber nicht so schön, dass sie eine echte Bedrohung für die Prinzessinnen sein könnte.
Dafür ist sie wohl auch zu schüchtern.

Es kommt, wie es kommen muss, was dich in deinem Gefühl bestätigt, dein Leben müsse irgendwann in den letzten drei oder vier Jahren endgültig durch eine Reality Soap ersetzt worden sein.
Es ist die fiese Variante. Die wo du nachts plötzlich aufwachst, und dich an den Traum so grade noch erinnern kannst.
Die Variante in der du von IHR träumst. Nur nicht richtig.
Die Art von Träumen, in denen es um etwas ganz anderes geht, in denen SIE nur ganz am Rande vorkommt, in ihr viel zu kleines Auto gezwängt, und mit Musik.

Was genau dich daran hindert, in ihrer Gegenwart zu sprechen, was genau deinen scharfsinnigen Schwarzhumor zum einfrieren bringt, wird dir nie so richtig klar.
Obwohl du genau weißt, was los ist.
Natürlich weißt du, was los ist. Sie weiß es vermutlich auch. Alle wissen es, und dir ist es irgendwie auch egal.

Dann siehst du sie irgendwann mit einem von diesen Typen in der Stadt. An dem Abend träumst du das letzte mal von ihr.
Sie lacht dich aus, verspottet dich.

Dann hat sie wieder diese traurigen Augen.
Dann sagt sie etwas merkwürdiges zu dir, auf dem Flur, nach Mathe, als du in Gedanken schon ganz woanders bist.
Dann redet sie mit dir, auf dem weg zu Chemie: „Komm mit,“ sagt sie, „lass uns Chemie schwänzen gehen, die Atome werden auch morgen noch umeinander kreisen.“
Einfach so.

Du sagst einfach so „Ja.“

Gleich hinter der Schule gibt es diesen Park. Dort lasst ihr euch ins Gras fallen, sie kramt in ihrem Rucksack, findet schließlich ein kleines in Zeitung eingewickeltes Päckchen.
„Hier,“ sie drückt es dir in die Hand. „Happy Birthday.“

Die Angst ist weg, trotzdem zittern deine Finger etwas, als du die Tesastreifen abfummelst.
Nur ein Buch, denkst du dir.
Natürlich ist es mehr als das, natürlich ist es nicht irgendein Buch.

„Woher wusstest du..?“ Sie lacht. „Lena.“
„Danke.“ Entgegnest du nur.
Dann starrst du schweigend deine Schuhe an.

„Warum?“ Warum bist du hier, warum denkst du an meinen Geburtstag, warum redest du mit mir, warum lässt du dich mit Idioten wie Sven ein, warum grad heute?

Das sagst du nicht, nur: „warum ich, warum jetzt?“

Dann ist sie auf einmal ganz nah, dann vergisst du den Moment und schließt die Augen.
Dann küsst sie dich.
Dann ist es vorbei und ihr schweigt.

Bis sie etwas sagt, das du zuerst nicht verstehst.
„Geh jetzt.“
Du starrst sie an.
„Geh jetzt. Bitte!“

Warum du ihr folge leistest, ist dir selbst nicht bewusst.

Dann, ganz am Schluss, du bist schon fast außer Hörweite, ruft sie dir etwas hinterher. „Es ist Krebs, aggressiv, nicht therapierbar.“

Du stoppst.
„Sie sagen, einen Monat noch, vielleicht zwei.“
Jetzt geht sie selbst weg.
„Warte doch, verdammt, WARTE!“ Du versuchst sie am Arm festzuhalten, sie reißt sich los.
„Geh einfach, vergiss mich. Das ist leichter, glaub mir.“

Dann rennt sie weg, und dir fällt nichts ein, als stehen zu bleiben.
Am Abend findest du einen Brief an dein Fenster geklebt.

In ihrer großen Mädchenschrift hat sie ein Wort druntergemalt.
Danke.

Manchmal schreibt sie dir in den nächsten Wochen eine eMail. Bis das dann auch aufhört.

Und jetzt stehst du hier auf diesem Friedhof.

„Hey,“ sagst du zu niemand bestimmtem, „was machst du nur für Sachen?“
Einen Moment hörst du sie leise lachen.

Dann ist es wieder still.
 
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