"Erkenntnis" - eine Kurzgeschichte

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28.08.2010
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Ja...also hierbei handelt es sich um eine Geschichte, die ich für einen Kurzgeschichtenwettbewerb an der Uni geschrieben habe. Das Ganze läuft so: Die Veranstalter geben ein Stichwort als Thema des Wettbewerbs vor, auf das sich die Geschichte dann irgendwie beziehen muss. Das Stichwort dieses Semesters lautete "Paradies" und ich schrieb eine Geschichte dazu, die sich sehr an alte SF-Kurzgeschichten anlehnt.

Ich hoffe, es ist angenehmen zu lesen. Ich habe zahlreiche Leerzeilen eingefügt, damit es nicht so ein "Wall of Text" ist. Die Originallänge beträgt 5 Wordseiten (Arial 12 pt, Zeilenabstand 1,2-fach, rechter Rand 5 cm) Comments sind erwünscht.

–Es ist etwa vier Jahr her, dass wir den Kontakt zur Erde verloren haben. Niemand spricht es aus, aber die Bedeutung ist klar: Sie haben Apophis nicht mehr abgelenkt. Der Planetoid ist mit der Erde kollidiert und hat unsere Heimat zerstört. Die Reste der Menschheit leben auf diesem Schiff und den Kolonien auf Mars und Ganymed. Von uns ist nur noch ein Bruchteil übrig. Alle Kultur und alle Geschichte sind für immer verloren.
Die Sensoren schweigen. Nur das Signal ist da. Das Signal, auf das alle vertrauen. Sie vertrauen auf den Plan, den es uns übermittelt hat und der es uns ermöglichte, die Eden zu bauen und ihren Antrieb zu konstruieren. Das Signal soll uns zu seinem Ursprung leiten: Epsilon Eridani. Nach unseren Berechnungen sollen wir eine Strecke von 10 Lichtjahren in weniger als 500 Jahren zurücklegen können. Es sollen 500 Jahre sein, die der Rest der Menschheit auf diesem Schiff überleben muss. Einige Millionen Menschen, Tier- und Pflanzenarten. Eine Arche, die in der Hoffnung gebaut wurde, dass wir an unserem Ziel einen bewohnbaren Planeten und eine Macht vorfinden, die uns kontaktiert hat, um uns zu retten, damit wir über uns selbst hinauswachsen und uns weiterentwickeln können.

Sie werden sich besser daran erinnern, ich war damals noch zu jung. Aber als wir das Signal entdeckten, wuchsen doch einige Dinge in den Herzen der Menschen: Der Wille zum Frieden und die religiöse Verklärung gehörten dazu. Die Verklärung triumphierte schließlich über alle anderen Emotionen. Der Einfluss der Religionen machte weltliche Politik zunichte, stürzte Regierungen und verschmolz innerhalb weniger Jahre die Menschheit zu einer Einheit, wie sie es nie zuvor gegeben hatte. Wir dachten und handelten unter dem Eindruck, dass der Ursprung des Signals keine außerirdische Intelligenz sein könne, sondern dass es von Gott stammen müsse, der uns auf diese Weise vor der Apokalypse durch Apophis retten wollte. Kritische Äußerungen wurden von den Klerikern hart bestraft. Alle Programme zum Schutz unserer Heimatwelt wurden eingestellt, alle Schiffe, alle Waffen und alle Technologien, die wir gebraucht hätten, um unsere Heimat zu retten. Alle Ressourcen wurden stattdessen in dieses Schiff investiert. Das Schiff sollte zum Zeichen werden, dass die Erleuchtung der Menschheit die Barbarei der letzten Jahrtausende schließlich überleben würde, indem wir das irdische Dasein hinter uns ließen und uns auf den Weg zu Gott begaben:

Wir bauten das Grundgerüst im Mondorbit. Ein großer Schöpfergeist lag über dem Unterfangen, denn es sollte unsere Erlösung sein. Dies geschah im Jahr 6133.
Wir vollendeten die Hülle und aktivierten den Fusionsreaktor. Mit der Hohlkugel hatten wir ein stählernes Gewölbe geschaffen, das mit seinen gigantischen Ausmaßen den schwarzen Himmel teilte. Es wurde im Jahr 6134 vollbracht.
Wir beschleunigten die Rotation bis zur Erdschwerkraft und begannen mit der Geoformung des Biodoms. Der Prozess endete im Jahr 6135.
Wir siedelten ein reduziertes Ökosystem in der künstlichen Umgebung an. Es war schwierig, ein Gleichgewicht zu finden, das unser Überleben sichern würde. Dafür benötigten wir das Jahr 6136.
Wir lagerten die DNA zahlloser Lebensformen in geschützten Bereichen des Schiffes. Die Sammlung war im Jahr 6137 komplett.
Wir brachten Millionen von Menschen von allen Kontinenten auf dieses Schiff, um im Inneren der metallenen Welt zu leben. Die Besiedlung wurde im Jahr 6138 abgeschlossen.
Wir betrachteten das Schiff, das wir ‘Eden’ genannt hatten, und hatten Freude daran: Denn es war gut. Wir verließen die Erde und begannen unseren langen Flug zur versprochenen Erlösung. Es war das Jahr 6139.


So wird die Erschaffung des neuen Paradieses im letzten Lehrbuch beschrieben, das Religion und Wissenschaft unter dem Göttlichen Plan vereinigen wollte. Aber es ist eine Lüge. Sie wissen es. Mir wurde es schon bald klar, nachdem ich den Posten des Ersten Ingenieurs von meinem Vater geerbt hatte. Der Plan, den wir mit dem Signal erhalten hatten, ist perfekt – effektiv, ästhetisch, wunderschön, eine nahezu ewig haltbare Maschine. Man kann ihn in der Tat göttlich nennen. Aber leider waren unsere Fähigkeiten beschränkt und unser Material minderwertig. Wenn der Plan von Gott stammen sollte, dann hat er vergessen, dass wir nicht allmächtig sind. Wir könnten seine Gedanken niemals adäquat umsetzen. Also bauten wir uns eine künstliche Welt, die mit Mängeln behaftet ist. Defizient. Sobald ich den Plan studiert und mit dem Zustand des Schiffes nach nur 15 Jahren Betrieb verglichen hatte, stand für mich fest, dass wir niemals unser Ziel erreichen werden. Lange vorher zerreißt die Rotation die Meridianstreben oder wir erleiden einen schweren Reaktorschaden.

–„Kommen Sie zur Sache. Sagen Sie mir, was Sie getan haben.“

–Wie Sie wollen. Ich hatte mir in letzter Zeit angewöhnt, die Arbeit in der Zentrale immer früher als die anderen zu beginnen. So konnte ich eine erweiterte Diagnose durchführen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Ich überprüfte immer zuerst den Reaktor und den Partikeldeflektor, dann die strukturelle Integrität und die Rotationsgeschwindigkeit und zuletzt die Triebwerke. Da es auch Zeit für die planmäßige Kontrolle der Sensoren war, führte ich auch diese durch.

Als ich die Abweichung entdeckte, fühlte ich mich in meinen Befürchtungen bestätigt. Ich dachte, die Sensoren würden als Erstes versagen und wir würden vom Kurs abkommen, aber als ich darüber nachdachte, entdeckte ich meinen Irrtum: Die Sensoren haben wir selbst entwickelt, sie stammen nicht aus dem Plan. Mit dieser Komponente hatten wir genügend Erfahrung, um sie richtig zu bauen. Das konnte natürlich eine Fehlfunktion nicht ausschließen, also überprüfte ich das System weiter, ohne dass sich etwas Neues ergab. Eine der alten Raumsonden, die die Vorfahren gestartet hatten, hatte an dieser Stelle ein neues Sternensystem entdeckt, es vermessen und einen Bericht an uns geschickt. Ich sah mir überrascht und entsetzt das Modell eines Doppelsterns an, der von mehreren bewohnbaren Planeten umkreist wurde. Planeten mit Ozeanen, Kontinenten und atembarer Atmosphäre.

–„Die Sonde hat ein unbekanntes System entdeckt?“

–Nein, kein unbekanntes System. Ein neues System. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, aber an dieser Stelle gab es vorher kein Sternensystem. Ich habe alle Daten der Sonde heruntergeladen und alle Aufzeichnungen der Astrometrie überprüft. Es ist so, als sei dieses System einfach dort aufgetaucht. Über Nacht, mitten auf der Flugbahn der Sonde. Vorher waren die Sterne unbekannt und es hatte keine Hinweise auf irgendeine Gravitationsquelle in diesem Bereich gegeben. Es kann sich hier auch nicht um die Fehlfunktion eines Systems handeln, wenn die Sonde und unsere eigenen Sensoren das Gleiche anzeigen.

–„Warum haben Sie nicht sofort Bericht erstattet?“

–Die Tatsache, dass Sie mich hier eingesperrt haben, beweist doch, dass die Inquisition nicht erfreut über etwas Unvorhergesehenes im Göttlichen Plan ist. Hätte ich es irgendwem gesagt, wäre ich doch schon lange wegen Ketzerei angeklagt worden. Und was hätte ich schon sagen sollen? Dass offensichtlich aus dem Nichts ein Sternensystem aufgetaucht ist? Das hätte niemand geglaubt. Neue Systeme tauchen nicht einfach auf.

–„Ihre jetzige Situation ist aber nicht besser.“

–Natürlich ist sie besser. Ich bin angeklagt, aber ich habe erreicht, was ich wollte, und Sie können nichts dagegen tun. Ich bin überzeugt davon, dass wir Epsilon Eridani nie werden erreichen können, aber es gibt mehrere Planeten, die sich zur Besiedlung eignen und die weniger als drei Monate entfernt sind. Der einzige Nachteil an der Sache war, dass ich den Kurs um fast 90 Grad ändern musste. Es sollte klar sein, dass es dafür niemals die Zustimmung der Synode gegeben hätte, die am Ursprung des Signals Gott vermutet.

Ich entschloss mich, die gesamten Daten erstmal aus dem Hauptrechner zu löschen und in einem der Hilfskerne zu verstecken, um in Ruhe darüber nachzudenken. Es ist ja heutzutage leider so, dass man sich nicht sicher sein kann, mit wem man auf dem Schiff über bestimmte Dinge reden kann. Die Synode schafft ein Klima, in dem Denunziation gedeiht.

–„Bleiben Sie beim Thema!“

–Ich habe regulär die Schicht beendet. Anstatt in mein Quartier zurückzukehren, bin ich hinunter in den Biodom gefahren, um den Menschen zuzusehen und das Grüne zu genießen. Am vorderen Pol gibt es einen Obsthain. Dorthin ziehe ich mich gerne zurück. Die Schwerkraft ist dort so niedrig, dass man gefahrlos in die Kronen klettern und die Früchte unentdeckt essen kann, vorbei an der üblichen Rationierung. Ich saß im Baum und habe meine Alternativen überdacht. Den Flug nach Epsilon Eridani fortzusetzen, war in meinen Augen undurchführbar, da er unser aller Überleben gefährdete. Jemand anders zu informieren und öffentlich Zweifel am Göttlichen Plan zu äußern, würde mich bestenfalls ins Gefängnis bringen und nichts würde sich ändern. Deshalb entschloss ich mich, allein zu handeln.

In den folgenden Tagen habe ich immer wieder die neuesten Daten der Sonde heruntergeladen und mit den Daten unserer Astrometrie verglichen, aber das System entpuppte sich nicht als Trugbild: Es war noch immer da. Ich verursachte schließlich einen harmlosen Fehler im Hauptcomputer. Während die anderen in der Zentrale mit der Bewältigung der Folgen beschäftigt waren, habe ich mich unter dem Vorwand entfernt, die Computerkerne einer Diagnose zu unterziehen. So konnte ich die Kursänderung direkt eingeben und den Zugriff über eine Hintertür im Programm verschlüsseln. Ein Abschiedsgeschenk meines Vaters an die, die ihn schikaniert haben. Natürlich wurde ich schnell entdeckt und eingesperrt, aber das wissen Sie ja.

–„Details! Nennen Sie Details! Wie können wir die Änderung rückgängig machen? Wie lautet der Zugangscode?“

–Sie erfahren von mir nichts Weiteres mehr, egal, was Sie mir androhen. Auch darüber haben wir bereits gesprochen. In 78 Tagen werden wir unser neues Ziel erreichen. Dann können Sie mir für unsere neue Heimat danken. Und für die Rettung der Menschheit.

–„Und warum sollte irgendwer eher an Ihre neuen Planeten anstatt den Göttlichen Plan glauben?“

–Ich kann die Existenz der Planeten wissenschaftlich beweisen und Ihren Göttlichen Plan ebenso widerlegen. Hier lassen wir ein falsches Versprechen hinter uns. Dort errichten wir uns selber eine neue Erde unter einem neuen Himmel. Wir haben alles, was wir dazu brauchen. Das sollte reichen, um die meisten zu überzeugen. Sie glauben ja nicht, wie überdrüssig viele Menschen des Plans geworden sind.

–„Blasphemie! Ketzerei! Sie wissen, wohin Sie das führt?“

–Zu unserer wahren Erlösung.

Der Kommandant pausierte die Wiedergabe und blickte unsicher ins Gesicht des Kardinals. „Das war das gesamte Gespräch, Exzellenz. Danach hat sie beharrlich geschwiegen.“ Der Kardinal seinerseits beachtete ihn gar nicht. Sein hasserfüllter Blick war auf das Standbild der Frau geheftet, die selbstzufrieden in die Kamera blickte. „Teufelsweib!“ Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte. „Diese Lüge, die sie uns da auftischt… Planeten erscheinen nicht einfach. Es handelt sich hier um eine Versuchung des Teufels, der uns davon abhalten will, unser Ziel zu erreichen. Unsere Seligkeit, unsere Rückkehr ins Paradies. Und sie…,“ ein zitternder Finger deutete auf den Bildschirm, „…ist das Instrument des Satans! Ich erlaube hiermit den Einsatz der Heiligen Inquisition. Ihre höchste Priorität ist es, das Schiff wieder auf seinen alten Kurs zu bringen und sie wird Sie nicht davon abhalten. Sie müssen diesen Zugangscode erfahren. Machen Sie außerdem alle Daten ausfindig, die über den Vorfall existieren, und vernichten Sie sie! Und die Besatzung muss schweigen! Der gesamte Vorfall darf nicht öffentlich werden. Die Menschen müssen auch weiterhin glauben, dass wir dem Göttlichen Plan folgen, haben Sie verstanden?“ Der Kommandant nickte und unterdrückte das Verlangen, zu widersprechen, bis ihn der Kardinal schließlich entließ.

Nachdem er etwas später die Türe seines Quartiers hinter sich geschlossen und verriegelt hatte, sah er sich an seinen persönlichen Terminal nochmals den letzten Teil des Verhörs an, den er aus der Aufzeichnung gelöscht hatte, bevor er sie dem Kardinal gezeigt hatte. Er sah sich selbst an der Tür der Zelle stehen, bereit zu gehen, als die Gefangene ihn nochmals zurückrief: „Adem, haben Sie eigentlich jemals bedacht, warum wir hier sind? Gott soll in der Vergangenheit durch Engel zu den Menschen gesprochen haben. Er versprach den Vorfahren, die Gläubigen am Ende der Welt ins Paradies zu holen und die Sünder in die Hölle zu verbannen. Das ist angesichts der Vernichtung der Erde nicht geschehen. Stattdessen empfangen wir ein Signal auf einer Tachyonenwelle und denken, es käme von Gott. Vielleicht sind die Urheber des Signals für einige hier auch höhere Wesen, die sich unserem Verständnis entziehen, Engel also. Aber wofür braucht Gott ein Signal, um zu uns zu sprechen? Und wofür brauchen wir ein Schiff, um zu Gott zu gelangen? Warum sind wir hier draußen auf uns gestellt? Gott ist allmächtig. Warum braucht Gott ein Raumschiff?“ Damit hatte Eve Fragen aufgeworfen, die er nicht länger ignorieren konnte. Er sah die Zweifel auf seinem Gesicht.
„Warum haben Sie das getan, Eve? Warum greifen Sie in den normalen Betrieb des Schiffes ein und riskieren alles? Aufgrund eines ungeklärten Phänomens? Noch dazu als Ingenieurin, als Frau der Wissenschaft?“ – „Etwas Glauben an die Zukunft kann mehr bewegen als das vage Versprechen alter Männer.“
Adem begann, sich eigene Gedanken zu machen, während er den Apfel betrachtete, den er sich aus dem Biodom geholt hatte. Wenn Eve Recht hätte und der Göttliche Plan eine Lüge oder zumindest undurchführbar wäre, dann käme es im Folgenden natürlich darauf an, die Rückkehr zum alten Kurs zu verschleppen. Das neue Sternensystem gründlich zu prüfen. Konstruktion und Zustand des Schiffes von anderen Ingenieuren beurteilen zu lassen. Die Synode abzulenken und die Sache zu verschleppen. Eve aus dem Augenmerk des Klerus zu halten und sie vor Strafe und Folter zu schützen. Die Absetzung des Klerus für den Moment vorzubereiten, in dem man das neue Ziel erreichte. Insgesamt also, Leute mit der Sache zu befassen, denen man vertrauen konnte. Leute, die wie Adem selber den Anblick des Schiffes satt hatten und die gerne wieder einen echten Himmel sehen wollten. Man hätte also 78 Tage Zeit zu handeln. Ihm ging dabei nicht aus dem Kopf, woher auf so wundersame Weise Planeten gekommen waren, wo es vorher keine gegeben hatte.
 
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