Ein Abend mit dem Doktor

[fN]Leichnam

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Ein Abend mit dem Doktor

Der Doktor saß aufrecht am bequemen Kopfende seines heimischen Bettes und las in einer medizinischen Fachzeitschrift einen Artikel über Koronargefäßoperationen, als das Telefon klingelte.
„Herr Doktor, Sie haben Dienst.“
Der Doktor stutzte.
„Ja, am Freitag. Bereitschaftsdienst, ganz richtig. Heute ist mein freier Tag.“
„Heißt das, dass Sie nicht kommen wollen?“
„Was? Moment, es ist ein, wie sagt man gleich, Missverständnis. Heute ist mein freier Tag.“
„Herr Doktor, Sie wissen doch, wer sich mit ganzer Seele der Medizin verschrieben hat, der kennt keinen freien Tag. Sie müssen in zwei Stunden eine Koronargefäßoperation durchführen. Der Patient wird sonst sterben und Sie sind der einzige, der ihm helfen kann. Zwei Stunden. Wir warten. Der Patient auch.“
Das Telefon piepste drei Mal, dann erklang der Dauerton des Freizeichens und der Doktor legte entsetzt auf.
Er sprang aus dem weichen Lager seines Bettes, ließ die Fachzeitschrift zwischen den Kissen liegen und die Nachttischlampe brennen und eilte in das Badezimmer.
Ich bin ein krankhafter Selbstbeobachter, dachte der Doktor, während er sich die Zähne putzte und dabei jeden Blickkontakt mit seinem Spiegelbild vermied. Zuletzt spuckte er aus, wusch sich die Hände mit Seife und hastete zurück ins Schlafzimmer und dort an den Kleiderschrank.
Natürlich werde ich helfen, dachte der Doktor und zog sich eine schwarze Stoffhose über, dazu ein frisch gebügeltes Hemd, dunkles marineblau, und ließ die Krawatte weg. Es ist ja mein Beruf, dachte der Doktor. Natürlich werde ich helfen.
Dann lief er zur Wohnungstür, glaubte im Vorbeigehen Wohnungsschlüssel und Identkarte der Klinik auf, verließ die Wohnung und stieg im dunklen Treppenhaus nach unten, um sich nicht den neugierigen Blicken der allezeit ihn belauernden und belagernden Nachbarn auszusetzen.
An der Straßenbahnhaltestelle sprang die Digitaluhr, welche die verbleibende Wartezeit angab, von fünf auf sechs Minuten. Dann auf sieben.
Nach zwei Minuten fuhr die Bahn ein und er fand sogleich einen freien Sitzplatz in Fahrtrichtung. Ihm gegenüber saß ein putziger Strolch von bestimmt sechzig Jahren und schaute ihn schamlos an. Der Doktor blickte weg, versuchte aus dem Fenster zu sehen, schreckte jedoch vor seinem eigenen Spiegelbild zurück, das in der nächtlichen Stunde mit der Innenbeleuchtung der Tram an die Glasscheibe geworfen wurde.
Als die Bahn anfuhr, stürzte der Strolch von seinem Sitzplatz in den Mittelgang und blieb mit geschlossenen Augen dort liegen. Die übrigen Fahrgäste drehten sich um und standen von ihren Plätzen auf, um zu sehen, was geschehen war.
Pflichtbewusst kniete der Doktor schon neben dem Strolch und hielt seine Hand vor Mund und Nase des Gestürzten.
„Machen Sie die Augen auf“, sagte der Doktor.
Der Strolch schlug folgsam seine Augen auf und lächelte den Doktor auf merkwürdig liebenswerte Weise an.
„April, April“, sagte er.
„Es ist August“, sagte der Doktor. „Wenn ich eine Herzdruckmassage durchgeführt hätte, hätte ich Ihnen eine Rippe brechen können. Wissen Sie das?“
„Aua“, sagte der Strolch. „Ich hätte Sie verklagt.“
„Unglaublich“, sagte der Doktor und setzte sich wieder auf seinen Platz und verscheuchte den Strolch, der sich ebenfalls wieder zu ihm setzen wollte.
„Verschwinden Sie!“, sagte der Doktor und der Strolch machte sich davon.
„Er hat ihm das Leben gerettet!“, rief plötzlich ein junger Mann aus dem Rückraum der Straßenbahn und die Leute klatschten noch, als der Doktor am Klinikum ausstieg und über die Treppe am Haupteingang das Gebäude betrat, vor dem zu jeder Tageszeit mehrere verzweifelte Rollstuhlfahrer in ihren Vehikeln saßen und für Geld Wettrennen um das Haus veranstalteten.
„Ich bin heute gut in Form, Herr Doktor“, sagte einer von ihnen. „Sie doch hoffentlich auch.“
Im geräumigen Foyer war außer dem Pförtner niemand zugegen.
„Guten Abend, Herr Doktor“, sagte der Pförtner.
„Meinen Schlüssel, schnell. Ich habe eine dringende Operation vor mir.“
„Natürlich, Herr Doktor“, sagte der Pförtner und öffnete seinen Schlüsselkasten, in dem fünfhundert Schlüssel auf ihren Haken hingen. Er begann damit, einzelne Schlüssel herauszunehmen und wieder an ihren Platz zu hängen.
„Na los doch“, sagte der Doktor.
„Augenblick“, sagte der Pförtner.
„Finden Sie den Schlüssel nicht?“
„Hab ihn gleich, Herr Doktor.“
„Was ist denn nur los mit Ihnen?“
„Wenn Sie schimpfen geht es auch nicht schneller, Herr Doktor.“
„Geben Sie mir einen Ersatzschlüssel. Irgendeinen Generalschlüssel.“
„Sind alle bereits vergeben, Herr Doktor. Aber ich habe eine Idee.“
Der Pförtner griff sich aus einer Schublade eine große Plastiktüte und hielt sie unter den Schlüsselkasten. Dann begann er mit dem Ellenbogen die Reihen der Schlüssel entlang zu fahren, dass diese (die meisten, einige blieben widerspenstig am Haken hängen wie die Rhythmik dieses Satzes) einer nach dem Anderen in die Tüte purzelten.
„Damit müsste es gehen, Herr Doktor“, sagte der Pförtner und stellte die Tüte mit einem satten Klang auf den Tresen. „Gutes Gelingen. Ich gehe rauchen.“
Der Doktor stand fassungslos vor der Tüte mit den Schlüsseln.
„Unterschreiben brauchen Sie nicht“, rief ihm der davon eilende Pförtner noch zu. „Ihre kann ich perfekt.“
Auf dem Weg zum Ärztezimmer rutschte der Doktor auf einem der langen Krankenhausflure aus und hörte die Putzkraft gerade noch lachend davon huschen.
„Nummer drei heute!“, rief sie fröhlich, während sie hinter der Ecke verschwand.

Eine Stunde später stand der Doktor umgezogen im Operationssaal. Der Patient lag betäubt und mit nacktem Oberkörper vor ihm auf dem Tisch. Überdeutlich im grellweißen Licht.
Zwei Schwestern und der Assistenzarzt standen in steriler Operationskleidung zum Eingriff bereit neben dem Doktor.
„Mir ist langweilig“, sagte eine der Schwestern.
„Fangen wir an, Herr Doktor“, sagte der Assistenzarzt. „Ich glaube, er hat nicht mehr viel Zeit. Sehen Sie nur, wie grün er schon im Gesicht ist.“
„Es ist ja mein Beruf“, murmelte der Doktor und legte das Operationsbesteck bereit.
Körperverletzung ist ein Straftatbestand, die Geistesverletzung das ungesühnte Hobby eines jeden Einzelnen, dachte der Doktor und schnitt den Brustkorb zwischen den Rippen mit einem scharfen Skalpellmesser auf.
"All das Blut", sagte der Assistenzarzt. "Ist das überhaupt die richtige Stelle?"
„Nachher im Bereitschaftszimmer, Herr Doktor?“, fragte die zweite Schwester und zwinkerte dem Doktor zu. „Heute kann ich Ihnen nicht widerstehen, fürchte ich“, säuselte sie weiter.
Der Doktor schüttelte den Kopf und begann behutsam den Schnitt zu erweitern und aufzuspreizen.
Die Schwester stöhnte und legte den OP-Kittel ab.
Konzentriert arbeitete der Doktor in dem jetzt mit Klammern fixierten Schnitt am offenen Herzen des Patienten, als ihm der Assistenzarzt ins Ohr blies.
„Kann man einen Schreck kriegen, was?“, fragte der Assistenzarzt und feixte.
Der Doktor arbeitete sich weiter zum zu behandelnden Kranzgefäß vor. Die Schwester riss ihre weiße Bluse auf und ließ zwei große, braungebrannte Brüste hervorschlenkern.
„Sehen Sie doch wenigstens hin“, stöhnte sie.
„Kann er nicht!“, rief der Assistenzarzt und schlich sich an den Doktor heran, um ihm mit beiden Händen die Augen zu verdecken. Mit Gewalt befreite sich der Doktor und setzte seine Arbeit fort, bis der Assistenzarzt erneut an ihn herantrat und ihm unter die Achsel griff.
„Machen Sie weiter!“, rief der Assistenzarzt. "Kitzelt das hier? Oder da vielleicht?"
„Warum schlafen Sie nicht mit mir!“, klagte die Schwester.
„Mir ist so langweilig“, sagte die andere.
Der Doktor legte das Operationsbesteck beiseite.
„Er ist tot“, sagte er.
„Oh, keine Überraschung heute?“
 
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