Brief an Hermann Hesse

[fN]Leichnam

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Geehrter Herr, geliebter Jüngling,

die Zeit ist längst vergangen, der Mond ist längst die Sonne. Die Musik ist schon nicht mehr die, die sie einmal war. Mein lieber Junge!

Wir warten noch immer auf den Tod. Geliebter Angler! Wir sterben noch immer wie die Fliegen. Nichts hat sich gedreht. Das Leben wird noch immer geliebt, der Tod noch immer mehr gehasst, als das Leben geliebt wird. Man hat mich tot geboren, Freund vermisster Stunden. Mich angebunden, überwunden, angelogen, miss- und verbraucht und geschunden.

Es gibt noch immer nur Einsamkeit, nach wie vor nur Glück und Leid. Ich muss dir ehrlich gestehen, dass es mir vor der Wiedergeburt graut und ich keinerlei Lust darauf habe. Ich bin froh, wenn es hier vorbei ist. Meine Angst ist so satt, sie verträgt nicht mehr von sich, weißt du, Hermann?
Ich schätze, ich habe gelebt. Wie ein kleiner König, möchte ich sagen. Und jetzt sitze ich in fünf grauen Zimmern, fliege ich geschwärzt durch neun gestrichene Himmel, durch zehn verlorene und gottverlassene Paradiese, durch elf gewesene Dimensionen. Ich spüre das Nichts nicht mehr, vertrauter Schreiber du! Der Tod erwartet mich und ich gehe ihm guter Dinge entgegen.

Ich sah Frauen, Hermann, ich sah Frauen von solcher Schönheit, dass die Zeit ehrfürchtig stehen blieb und mir schlimme Geschichten ins Ohr schrieb. Hörst du? Hermännchen? Ich spüre gerade noch den Tod, gerade noch genug, um nichts zu fühlen. Lieber Hermann, hier haben die Leute zwischen all den Steuererklärungen, Krankenversicherungsbeiträgen, Rechtsstreitigkeiten, Werbeblöcken, Selbsterklärungen, Amtsbesuchen, sinnfreien Lebeversuchen und Selbstmorden gar keine Zeit mehr zu lieben.

Deutschland stirbt aus, mein Freund, stirbt endlich aus, für immer immer und endlich aus. Wenn ich meinen Schrei schreiben könnte, gekannter Hermann Hesse, so stünde er hier. So läuft leider nur stumme Tinte in verwirrten Bahnen, wie nutzlose Vergleiche, wie totes Gedankengut, wie einmalige Güter, wie schwarzes Blut.

Gute Nacht, Geliebter. Ich muss dich jetzt vergessen. Auf, verstehe mich! Nicht! niemals. Auf nimmer nimmer Wiedersehen.

Erstaunlich, dass es ein Wort dafür gibt: Tod.
 
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