Oh, ein Quint-Thema für mich!
Achtung, Rant.
Das Bildungsniveau ist grundsätzlich relativ hoch, aber gleichzeitig unendlich fragmentiert. Nur, weil jemand auf dem Gymnasium oder gar an der Uni war, ist er lange nicht gebildet. Ich kann mich an Yvette erinnern. Die saß im Geschichts-Leistungskurs und sagte den Satz "Ja, Hitler wollte den Kommunismus."
Kalauer beiseite: Mit Fragmentierung meine ich zum einen die immensen Unterschiede zwischen den Bundesländern und zum anderen die noch viel größeren Unterschiede zwischen den Schularten. Hier in Bayern sind Gym und Realschule noch relativ nah beieinander, weil die RS durchlässig zur FOS sein muss. Die Haupt-, bzw. Mittelschule fällt erschreckend ab. Ein Neuntklässler an der MS hat i.d.R. ca. die Skills eines Siebtklässlers an RS/Gym. Und dieser Neuntklässler geht evtl. mit dem Quali von der Schule. Meiner Meinung nach ist in der heutigen Zeit ein Schulabschluss nach der 9. Klasse viel zu früh. Früher hat man die armen Teufel dann an Maschinen gestellt oder im Friseursalon ausgebildet, heute werden diese klassischen Deppenjobs sukzessive weniger. Da züchten wir uns langfristig ein Problem heran - in Ballungsräumen kann man das Problem ja schon live erleben.
Gerade "wir" in der akademischen Blase vergessen auch viel zu schnell, wie wenig Bildung der Durchschnittsbürger einfach mitgenommen hat. Gleichzeitig muss angemerkt werden, dass schulische Bildung im Gesamten ein Haufen Scheiße ist. Ebenfalls viel zu fragmentiert, die Schüler werden mit unendlich viel Kleinkram bombardiert, lernen aber viel zu selten, unter die Oberfläche zu schauen. Beispiel: Mathe, 10. Klasse. Kollege kam neulich zu mir und zeigt mir ne Schulaufgabe. Eine Schülerin hatte einen Lösungsweg für eine Gleichung "auswendiggelernt" und dann 1:1 auf ne Aufgabe in der SA appliziert, ohne zu schauen, ob das denn überhaupt geht. (Ging nicht.) Da geht auch wahnsinnig viel während der Schullaufbahn verloren, v.a. hinsichtlich der Kommunikation von Möglichem. Man denke an den Klassiker: "Ja, Mathe kann ich halt nicht." Größer Schwachsinn, aber meist self fullfilling prophecy.
Meist läuft es so: Frusterlebnis in 5./6. Klasse -> Abriss beim Verstehen des Stoffes -> Lücken entstehen -> neuer Stoff wird nicht ausreichend verstanden -> keine Motivation beim Lernen -> neues Frusterlebnis. Und das dann in Endlosschleife. Extrem viele Schüler werden in der Tat mitgeschleppt und mich regt das auf. Vor allem, weil viele von denen, die bis in die 9. geschleift werden, dann verkacken und teils sogar komplett aus dem Schulsystem rauseiern. (2x im selben Jahr durchfallen / Höchstausbildungsdauer) Man kann fast immer schon in der 6. Klasse klar erkennen, in welchen Fächern es später massive Probleme geben wird. Nur interveniert da keiner. "Hat der Bub halt an Vierer", sagt man dann in Bayern. Und drei Jahre später hat der Bub in Mathe und Physik ne 5 und in IT ne 6. Na herzlichen Glückwunsch.
Die KMK ist schwerfällig und nutzlos, die Bildungsministerien in den Ländern verknöchert und der Behördenfilz geht über Generationen (U U). Angesichts der teils widrigsten Umstände an Schulen (v.a. in Städten) muss man aber sagen, dass da noch erstaunlich viel rausgeholt wird. Ein gutes Lehrerkollegium kann wahnsinnig viel reißen, aber eben auch auf Kosten von Nerven und Freizeit. In manchen Situationen gibts dann eben keine Möglichkeit mehr, durch Engagement etwas zu bewegen und die Strukturprobleme werden zum Dammbruch. Dann ist man als Lehrer nur noch damit beschäftigt, Ordnungsmaßnahmen durchzudrücken, Eltern zu kontaktieren und zu schauen, dass der Finn-Fabrice dem Manuel nicht das Messer reinhaut. (Namen können je nach Weltbild ersetzt werden)
Persönlich gebe ich relativ strenge Noten und hab da auch immer schnell nen Ruf weg. Aber ich sehe es einfach nicht ein, Denkverweigerung zu belohnen. Klar, in der 8. Klasse ist man hormonell bedingt massiv gestört, aber es muss möglich sein, sich 10 Minuten zu konzentrieren. Es muss eigentlich - ist es aber für viele tatsächlich nicht. Man muss diesbezüglich aber zunächst anmerken, dass die Mehrheit der Schüler (nur anecdotal data, war bisher an drei Schulen) leistungswillig und auch konzentrationsbefähigt ist. Diejenigen, die aus dem Raster fallen, tun dies teils derart brutal, dass darunter alle im Klassenzimmer leiden. Ich hatte schon schreiende Schüler, Schüler, die keine Minute still sitzen konnten, und solche, die bei kleinsten Widrigkeiten körperliche Aggressivität gegenüber Mitschülern zeigten.
Das Konzept Schule ist aber auch irrsinnig. Man stopft 30 grundverschiedene Heranwachsende in einen viel zu engen Raum, lässt sie fünf Stunden eine Wand anstarren und alle 45 Minuten kommt ein anderer Depp vorbei, der unterrichtet, schimpft oder in der Nase popelt. Meiner Ansicht nach müsste da eine radikale und grundsätzliche Reform her. Viel kleinere Lerngruppen. Viel mehr individuelle Förderung. Mehr Kooperation zwischen Schulen und Schularten. Kostet Unsummen, aber im jetzigen System werden nur Fleiß und Unterwerfung belohnt. Wer körperlich oder psychologisch bedingt nicht reinpasst, fliegt auf die Schnauze. Und wer zu faul ist, meistens eben nicht. Ich hatte schon Zehntklässler mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit eines Grundschülers. Das darf einfach nicht passieren. Oder man lässt es passieren und ist dann aber auch ehrlich genug, es ins Zeugnis zu schreiben. Moment, geht nicht. Zeugnisbemerkungen müssen ausschließlich positiv klingen. Ajo.
Könnte jetzt noch seitenlang über Sozialdynamik, Mängel in der Lehrerausbildung, etc. weiterranten, aber es reicht jetzt. Man könnte nach der Lektüre dieses Posts auch meinen, dass ich meinen Job hasse, aber das stimmt nicht. Es vergeht kein Tag ohne irgendein positives / witziges Erlebnis. Und man bekommt von sehr vielen Schülern viel zurück, sei es indirekt durch Leistungen oder direkt durch Verhalten / Aussagen. Hatte diesbezüglich schon viele tolle Erlebnisse. Will man diesen Job vernünftig machen, muss man sich damit abfinden, auch nachts um halb 11 noch random an irgendwelche Klassen / Schüler zu denken. Viele Kollegen trudeln dann in den Burnout und schalten auf Sparflamme. Ist nachvollziehbar, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie ich klarkäme, wenn ich jetzt NUR noch Problemklassen hätte. Das kostet schon Kraft.
Zu meinen persönlichen Bildungslücken: Würde gerne viel mehr Skillz im naturwissenschaftlichen Bereich besitzen. Bin wegen meines Informatik-Studiums (BA) passabel, was Basismathe im Ingenieursbereich angeht, aber das wars dann auch. Physik hat mich z.B. schon immer interessiert, aber dann war ich in der Schule eine faule Sau und der Zug fuhr davon. Ferner würde ich gerne eine zweite Fremdsprache gut sprechen können, dazu fehlt aber schlicht die Zeit.
(edit: zwei Seiten Text in 20 Minuten rausgekloppt, das müsste Rekord sein.)