Leinad,
danke für deine Einlassung. Ich sehe das nicht nur ein wenig anders, sondern finde auch, dass du an einigen Stellen die Verhältnisse ganz gehörig verdrehst, was deinem Beitrag leider einen guten Teil seines sachlichen Gehalts nimmt.
Dein Verweis auf das frühere Obrigkeitsdenken ist mir etwas zu kurz gedacht. Grundsätzlich ist erstmal wertungsfrei feststellen, dass die Beziehung der Sprecher im Deutschen eine direkte Entsprechung in der sprachlichen Form gefunden hat.
Das geschah im Wesentlichen auf zwei Achsen: einer für die Beschaffenheit der persönliche Beziehung (zweite oder dritte Person) sowie einer für die Stellung in der gesellschaftlichen Rangordnung (Singular oder Plural). Nehmen wir zusätzlich noch die Abwandlungen der ersten Person hinzu, erhalten wir eine erkleckliche Auswahl an möglichen Abtönungen für die verschiedensten Situationen.
Diese Vielfalt bedeutet sprachlich erstmal einen Reichtum. Über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in dieser sprachlichen Selektion widerspiegeln, wird man wohl eher gegenteiliger Meinung sein. Darum ist es auch folgerichtig, dass sie im Zuge einer Individualisierung und Liberalisierung der Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden konnte.
Dein Bestreben, Höflichkeitsformeln als unnützes Relikt dieser vergangenen Zeit abzustempeln, hält einem genaueren Hinsehen nicht stand. Der angebliche Widerspruch zur Gleichheitsgesellschaft ist überhaupt nicht gegeben.
Denn nicht die gesellschaftliche Stellung der Sprecher, sondern die persönliche Beziehung, in der sie zueinander stehen, ist heute des ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal. Die Abgrenzung einer Autorität ist dagegen bis auf wenige Ausnahmen (z.B. zwischen Erwachsenen und Kindern) als Zweck der sprachlichen Form obsolet geworden.
Und inwiefern es den aufklärerischen Gleichheitsgedanken tangiert, dass nicht alle Menschen sich gleich vertraut sind, wäre noch darzulegen, bevor man es als Argument anführen könnte. Ansonsten beinhaltet die Wahl der Anrede keine absolute, sondern nur eine relative Wertung des Gegenübers, nämlich über die jeweilige Beziehung der Sprechenden. Und diese Art der Einteilung und Zuordnung ist eine dem Menschen höchst eigene.
Es ist ja bezeichnend, dass du dich zwar für ihre Abschaffung aussprichst, im gleichen Atemzug aber Alternativen der Umsetzung vorschlägst, da man sie ja auch anders ausdrücken könne. Warum man auf eine anerkannte, althergebrachte Form der Abgrenzung verzichten sollte, nur um neue, künstlich geschaffene dafür einzusetzen, hast du nicht gesagt.
Ebenso unschlüssig erscheint mir, dass du einerseits die Höflichkeitsform als bloße Floskel diffamierst, andererseits aber die durch sie verschuldete gesellschaftliche Distanziertheit beklagst. Hat diese Floskel für die Menschen nun eine, wenn auch unbewusste Bedeutung oder ist sie nur eine formlose Hülle? Beides zusammen kann schlecht als glaubhaftes Argument herangezogen werden.
Die Frage, weshalb die distanzschaffende statt der persönlichen Anrede normal sei, ist leicht zu beantworten: weil die dadurch ausgedrückte Distanz normal ist. Eine persönliche Anrede kann Vertrautheit, Nähe, in speziellen Situationen Dominanz, eine höfliche Anrede Distanz und Förmlichkeit ausdrücken. Letztere sind für die meisten Erwachsenen wesentlich alltäglicher, da die meisten zwischenmenschlichen Kontakte nun mal keine originären Wahlbeziehungen sind.
Ob im Berufsleben, beim Einkaufen, beim Behördengang, Nach-dem-Weg-Fragen oder sonstigen alltäglichen Besorgungen: Die Sprache dient der Kommunikation, und die Kommunikation ist Mittel zum Zweck. Wir sprechen mit diesen Personen nicht in erster Linie, weil wir es gerne tun, sondern weil es nötig ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen - und sei es nur ein gedeckter Tisch.
Außerdem kommt es natürlich auch auf das Umfeld an, in dem man sich bewegt. Gerade unter jungen Leuten dominiert meiner Erfahrung nach eher die persönliche Anrede.
Ich finde es geradezu scheinheilig, wie du unter dem Deckmantel des egalitären Aktionismus an der Wirklichkeit vorbei argumentierst. Wenn wir uns der Sprache bedienen, um die Nähe oder Distanz zu anderen Menschen anzuzeigen, dann ist das weder rückständig noch gezwungen oder künstlich. Der Mensch verbringt den Großteil seines Lebens damit, sich über seine Beziehung zu anderen Menschen zu definieren. In unseren Gesten, unserer Körperhaltung, unserem Tonfall, der Art, wie wir sprechen, dem, was wir sagen, in unserem gesamten Verhalten spiegeln sich Verhältnisse wieder - am allermeisten die Verhältnisse zu anderen Menschen. Und diese Verhältnisse sind eben einfach alles andere als gleich.
Begrüßt du denn alle Menschen gleich? Willst du jedem die Hand schütteln, jeden umarmen, jeden küssen? Genau wie jeder Mensch denkst und fühlst du nicht, sprichst du nicht und verhältst du dich nicht gegenüber jedem anderen gleich. Du unterscheidest zwischen den Menschen, wie es jeder tut. Diese Unterscheidung durch sprachliche Gleischschaltung zu unterwandern könnte man ebenso gut als Heuchelei interpretieren.
Die Mittel, die uns gegeben sind, diese Unterschiede auszudrücken, sind unermesslich. Wir können gegen einen Menschen formal Distanz wahren und uns ihm dennoch tief verbinden, ebenso können wir jede formale Distanz überwinden und uns dennoch unendlich weit voneinander entfernen. Einige der besten Mittel dazu gibt uns die Sprache. Wieso sollten wir uns selbst auferlegen, einen Teil dieser Vielfalt aufzugeben?
Ich für meinen Teil denke gar nicht daran.
Was die Umsetzung angeht, so sind wir uns wohl wenigstens soweit einig, dass man so etwas nicht von oben herab diktieren kann.
Sollte es wirklich so kommen, dass ein offizieller Anspruch auf das Siezen nicht mehr zeitgemäßig erscheint, wären die entsprechenden Konsequenzen auch angebracht.
Aber soweit sind wir noch nicht, und ich hoffe, das wird noch sehr lange so sein.