Interview mit Historiker Wehler
Für die Zukunft ist er beschädigt
14. August 2006
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung enthüllte Günter Grass, daß er Mitglied der Waffen-SS war (siehe auch: FAZ.NET-Spezial: Das Geständnis von Günter Grass). Im Gespräch mit der F.A.Z. bewertet nun der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler die Aussagen des Schriftstellers, redet über Grass als moralische Autorität und kritisiert den späten Zeitpunkt, an dem der Nobelpreisträger an die Öffentlichkeit trat.
Herr Wehler, was sagen Sie dazu, daß Günter Grass Mitglied in der Waffen-SS war?
Darüber kann ich mich nicht aufregen. Diese Camouflage ist für diesen Jahrgang plausibel und für einen Historiker insofern nichts Ungewöhnliches, das ist das Normalschicksal. Ich bin Jahrgang 1931, war damals Pimpf und habe damals die Älteren, die in die Waffen-SS gingen, fast noch beneidet. Das war eine Eliteeinheit.
Das sagt Grass auch.
Man muß da unterscheiden: Die Waffen-SS war nicht die SS und wurde von Himmler deswegen aufgebaut, damit sie eines Tages die Wehrmacht schlucken könnte. Wenn der Krieg weitergegangen wäre, hätte die Waffen-SS mehr als eine Million Mitglieder gehabt. Kurz vor Kriegsende waren es 900.000. Das waren ja nicht alles Gläubige. Das eigentliche Dilemma ist nicht die Mitgliedschaft, sondern, daß er sie erst jetzt zugibt.
Und was glauben Sie, warum?
Ich kann es mir nicht erklären. Es wäre jedenfalls ehrlicher gewesen, wenn er sich 1959, gleich nach dem Erscheinen der „Blechtrommel“, hingestellt und gesagt hätte, Leute, hört her, ich verstehe etwas vom Krieg, denn ich war dabei.
Das hat er auch nie bestritten. Denken Sie, daß Grass nur aus Rücksicht auf seine Karriere geschwiegen hat - wenn die Mitgliedschaft als solche doch kein schweres Vergehen war?
Es ist natürlich ein Unterschied ob man freiwilliger oder unfreiwilliger Kriegsteilnehmer war. Grass war, wie wir jetzt wissen, Freiwilliger. Aber von der SS-Division „Frundsberg“, zu der er gehörte, sind keine Gemetzel überliefert, das war eine reine Nachhut-Division. Aber das macht die Sache fast noch prekärer, als wenn er in einer dieser berüchtigten Divisionen gewesen wäre. Warum muß das alles jetzt erst und so quälend herauskommen? Er hätte es sagen müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm damals, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre jemand einen Strick daraus gedreht hätte. Seinem Schreiben selber hätte das nicht geschadet.
Also wäre ihm schon viel früher ein Geständnis möglich gewesen?
Sicher. Ich bin jedenfalls gespannt, was er an Begründungen noch liefern wird. Der Hinweis auf seine Autobiographie und daß es endlich rausmußte, ist nicht überzeugend, weil Grass sich als intellektuelle und moralische Instanz einen Ruf erworben hat - übrigens sehr überzeugend, wie ich meine.
Also war es einfach Taktik, die Rücksicht auf die Karriere?
Das ist ein Argument, das sich geradezu aufdrängt. Wenn er damals etwas gesagt hätte, hätte er damit seinen strahlenden Aufstieg vielleicht doch belastet oder zumindest erschwert.
Hat seine moralische Autorität dadurch gelitten?
Das glaube ich nicht. Was er in der Zeit der Großen Koalition und später in der Brandt-Ära gesagt hat, waren ja kluge Sachen. Das kann man jetzt nicht in Frage stellen. Grass gehörte zum guten Teil des moralischen Gewissens der Bundesrepublik. Er hat sich doch zum Beispiel sehr viel Mühe gegeben in Hinsicht auf Polen. Aber das Geständnis ist eben insofern heikel, als er an andere immer strenge Maßstäbe gelegt hat.
Also ein moralisches Versagen ist es nicht. Was für eines dann?
Es ist ein politisches Versagen. Grass hat den Weg in den politischen Alltag bewußt gesucht und ist als Mahner, als eine Art Präceptor Germaniae aufgetreten. Er war sogar gegen die Wiedervereinigung - wegen Auschwitz! Da denke ich heute, Mann, Mann, Mann, wo bleibt da dein politischer Verstand?
Würden Sie sagen, das Schweigen war ein Fehler?
Ja. Das würde ich mit meinem protestantischen Habitus sagen. Es hätte doch tausend Gelegenheiten dazu gegeben.
Hätte er es dann nicht lieber ganz verschweigen sollen?
Nein, das gebietet schon die intellektuelle Redlichkeit. Seine Autobiographie ist nun einmal der zwingende Ort dafür. Wenn er das dort auch noch verschwiegen und das nach Erscheinen jemand herausbekommen hätte, das hätte einen zerstörerischen Effekt gehabt. So bleibt ein kleiner Bodengewinn, weil er es von sich aus gesagt hat und nicht von anderen in die Ecke getrieben wird.
Wenn das Geständnis seine moralische Autorität auch im nachhinein nicht beschädigt - wie wird es in Zukunft sein, wenn Grass sich zu all diesen Fragen noch einmal äußern sollte?
Da ist er beschädigt. Die Leute werden von nun an jedes Wort von ihm auf die Goldwaage legen. Sie werden denken, da hat er sich nun selber so lange geziert mit der Wahrheit, dem können wir jetzt nicht mehr alles glauben.
Wie erklären Sie sich, daß die Sache jetzt überhaupt erst herauskommt? Das hätte doch längst jemand aufdecken können.
Dafür habe ich keine Erklärung. Ich habe davon nicht einmal von Ferne, als Gerücht gehört.
Die Fragen stellte Edo Reents.
Text: F.A.Z., 14.08.2006, Nr. 187 / Seite 31
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