Richard

[fN]Leichnam

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Ne alte kleine Geschichte von mir zum Frühlingsanfang:

Richard

„Du traust dich ja doch nicht.“

Die beiden Jungen, sechzehn und siebzehn Jahre alt, standen in luftiger Höhe am Ende des Sprungturms und schauten über die in der Sonne glänzende Begrenzung hinab auf die Wiesen und das Bad. Der jüngere war ich. Aus den Haaren lief uns das Wasser in ungenauen Bahnen in die Gesichter und über den Hals und die Schultern. Das Becken lag blau unter uns, zehn Meter unter uns und davon weg und im Eck darum angeordnet lagen die sanft ansteigenden Hänge mit den Badetüchern und den spielenden und lärmenden Kindern, den schattigen Baumgruppen, dem kleinen Badlokal und dem großen Schachspielplan.
Ein Kind lief darüber und stieß mit dem Fuß einen Bauer oder Läufer vor sich her. Es war von hier oben nicht leicht zu erkennen. Die Wiesen waren übersät mit braunen und blassen, mit jungen und alten Leibern, die faul in der Sonne lagen oder laut lachend und tobend umher sprangen. Am Beckenrand schritt ein fetter Bademeister auf und ab, der warf den schönen Mädchen Blicke nach, wenn sie von ihren Freunden zum Spaß ins Wasser gezerrt oder von dort belauert und bespritzt worden. Über die Wasserfläche hinweg hüpften große, aufgeblasene Gummibälle, einer davon stellte die Erdkugel dar. Daran erinnere ich mich recht gut, denn es gab ein schönes Bild, wie der Erdenball zwischen Großvater und Enkel hin und her geschoben wurde. Wir hatten fantastisches Wetter, es war ein später Hochsommernachmittag, kurz bevor die Sonne einen Teil ihrer Kraft einbüßt und den Tag in atmosphärischen Goldfarben ausklingen lässt. Am Himmel war nur eine einzelne Wolke zu sehen; eine ferne, weiße Flocke mit gelben Rändern.
„Du traust dich ja doch nicht.“
Nein, ich traute mich in der Tat nicht. Es war doch etwas anderes hier oben. In der Tiefe schimmerte die Wasserfläche durchsichtig über den blauen Kacheln des Beckenbodens. Der laue Wind trocknete uns das Wasser vom Körper. Richard war mein Freund und Bruder, und ich war ihm erlegen, als er mich beschwor, ihm bis hier herauf zu folgen. Freilich nicht um zu springen, nur um zu schauen und jetzt stand ich da und schaute Richard in die feucht glänzenden Augen.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich springe.“
„Aber es gehofft und dir gewünscht hast du. Schau!“
Er zog mich an den Rand der Plattform.
„Du musst nur einen Schritt weiter tun. Es ist ganz leicht, du musst nur da herunter hüpfen, fallen tust du dann von allein.“
Ich kniff ihm in die Seite und wich zurück und an die Ballustrate. Ich sah unseren Liegeplatz bei einer Gruppe eng stehender, junger Fichten. Die Mädchen lagen dort und halfen einander, den Sonnenschutz aufzufrischen. Trotz der heiklen Lage, in die ich mich da hatte ziehen lassen, fühlte ich mich prächtig wohl und all die Bewegung, das erfrischende, kalte Wasser und das Lachen und sich gehen lassen taten mir wohl. So kümmerte es mich nicht weiter, von unten neugierige und lauernde Blicke auf mich gerichtet zu sehen. Was gingen mich die Harakirispringer an, die sich von hier oben aus in gewagten Figuren in die Tiefe stürzten? Das war nett anzusehen und manch einer von den Zuschauern mag vielleicht auch von mir eine solch kühne Vorführung erwartet haben. Allein das stand mir nicht im Sinne und ich glotzte entspannt zurück. Sollten sie doch raufkommen und sich selbst den Kasper spielen. Mir war das fürchterlich egal.
Richard war anders. Er beantworte die Blicke auf seine Weise, indem er zwischen mir und dem Abgrund hin und wieder schritt, bald die Zehen um den Rand krallte - die Arme gebreitet wie ein wahrer Harakirispringer - und dabei leicht aus den Knien auf und nieder federte. Das wiederholte er einige Male, bis er sich schließlich mit dem Rücken zum Wasser zeigend positionierte, mir listig ins Gesicht grinste und dann mit kräftigem Sprung in die Schraube hinein vor meinen Augen verschwand. Ich kannte das an ihm und bewunderte es auch, doch war ich nicht gewillt, ihm, wenn auch mit lumpigem Kerzensprung, zu folgen. Stattdessen erwartete ich ihn lachend an der Leiter, die er jedes mal wieder zu mir heraufkam, um sein kleines, schaustellerisches Treiben fortzusetzen. Ich lachte. Vom Bad her drang reges Kinderspiel, junge Stimmen riefen einander. Ich setzte mich an den Rand und ließ die Beine baumeln. Richard setzte sich daneben. Der Himmel färbte sich ins Violette und war so schön wie es im Traum nicht vorkommt, sondern wie es nur die Wirklichkeit von Zeit zu Zeit hervorbringt. Wir sprachen eine lange Zeit kein Wort, jeder war da für sich und doch untrennbar mit dem anderen verbunden, inmitten dieses sommerlichen Freibadabends. Ich schwieg und war doch innerlich zum Bersten angereichert mit allerlei glücklichen Gefühlen gegen den Freund und das Leben. Das Leben. Jener traumartige, fragwürdige Zustand – kaum zu ertragen, die meiste Zeit über, nur hin und wieder. Hin und wieder, in seltsamen Augenblicken, scheinbar aus dem Nichts geboren und wie zufällig, diese heitere Klarheit: Du bist noch dabei. Noch dabei.
Und dann keinen Menschen an der Seite haben! Aber ich hatte ja einen. Da saß auf dem nassen, steinernen Boden mein Freund Richard und besah sich Finger und Hände, schaute gegen den Himmel und den aufkommenden Mond. Unten in der grünen Wiese wusste ich mein Mädchen. Das war ein gutes Gefühl. Es fühlte sich nach einem guten Abend an.
„Richard..“
„Ja?“
„Ach nichts.“
Es war ja nicht auszusprechen. Es war ja in mir drinnen und gehörte nicht nach draußen. Es hätte hier ja nur für Verwirrungen und Missverständnisse gesorgt. Also behielt ich jenes Unaussprechliche in mir, lauschte ihm und pflegte es rücksichtsvoll. Und das ging fantastisch. Einmal hob ich den Kopf zu Richard und sah, dass es ihm nicht anders erging. Da musste ich lächeln und wie ich mich wegdrehte, lächelte auch er.

Der Notarzt hatte keine fünf Minuten gebraucht. Fassungslos stand ich daneben, die Freundin an der Schulter. Im Wasser schwamm noch, jetzt dünn geworden – sein Blut. Dicht ums Becken waren kleine Kinder, junge und alte Menschen gedrängt. Manche sprachen, die meisten waren einfach schweigend da. Der Gummiglobus schwamm noch draußen vor sich hin. Einer der Sanitäter fragte, ob den Verunglückten jemand kenne. Ich rührte keinen Finger. Richards Freundin Sophie lief weinend auf und ab. Da löste sich mein Mädchen und begann leise mit dem Sanitäter zu sprechen. Mein Haar war noch nass, es fror mich entsetzlich am Kopf. Die Sonne war hinter fernen Hügeln verschwunden, der Mond stand nun sichelförmig am Abendhimmel. Vereinzelt waren Sterne zu sehen. Sehr früh für Sterne, dachte ich mir und wusste nicht warum. Aber sie waren da, weiß glänzend, irgendwo dort draußen, hinter dem Himmel. Und wir darunter, Sophie, mein Mädchen, der tote Richard und ich. So ging also der Abend zu Ende. Und ich hatte davon erst mitbekommen, als im Bad erschrockene Rufe vernehmbar waren. Da lief ich an den Rand des Sprungturms und sah im Wasser Richard treiben, stark aus einer Wunde am Kopf blutend, bewegungslos. Lasst ihn nicht ertrinken! Stürzte die Leiter hinab, rutschte dabei, brach mir beinahe selbst das Genick, riss mir die Füße blutig – ins Wasser, schnell, ihn rausgezerrt mit anderen Leuten. Kein Puls. Kein Puls.
Irgendwer hatte telefoniert. Irgendwann kam der Rettungswagen.
„Wer kennt den Verunglückten?“ Wer kennt den Toten? Das spukte mir im Kopf herum. Wer kennt den Toten, wer kennt den Toten? Ich nicht. Ich kannte den lebendigen Richard, den toten kannte ich noch nicht. Ich lernte ihn gerade erst kennen. Und ich mochte ihn nicht, ich hasste ihn, wie er da reglos am Boden lag. Es wurde mir bewusst, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Weinen konnte ich nicht, trotzdem mir die Seele danach schrie, es war alles verstopft, alles so fürchterlich eng und unwahr. Es musste eine Lüge sein, ein schlechter Scherz vielleicht, ein böser Traum. Gleich würden die Sanitäter lachen und Richard wird die Augen aufschlagen. Ich wartete darauf. Es geschah aber nicht. Sie hoben ihn auf ihre Bahre und fuhren ihn zum Bad heraus. Langsam, langsam. Ganz behutsam trugen sie das zerstörte Leben mit sich fort. An den Rest des Abends kann ich mich kaum erinnern. Wir drei saßen noch lange draußen am Eingang, die beiden Mädchen hielten sich in den Armen, wir alle schwiegen. Ich rauchte meine letzten Zigaretten, eine nach der anderen, bis ich die leere Schachtel zurück in die Tasche schob. Mit dem letzten Bus fuhren wir dann heim. Ich musste an Richards Eltern denken und mir kam der Gedanke, sie noch zu besuchen. Es würde sie mit Sicherheit schon jemand benachrichtigt haben. Jemand vom Krankenhaus. Ich wollte es versuchen. Doch wie ich vor dem Hause stand, in dem alle Lichter brannten, kam mir das Grausen und ich lief schnell weiter heimwärts. Meinen Eltern ging ich aus dem Weg. Kaum war ich in meinem Zimmer, kaum war die Tür hinter mir verschlossen, liefen mir immer schneller und immer mehr Tränen über die Wangen. Ich weinte. Ohne Halt, ohne Hoffnung. Stundenlang.

Es folgten leere, bittere Tage und Wochen. Gleich zu Beginn ging ich zu Richards Eltern, sprach der wie in Trance lebenden Mutter mein Beileid aus, drückte dem Vater seine kalte, feste Hand. Geschwister hatte Richard keine gehabt. Er war das einzige Kind der Familie. Ich bot auch meine Dienste an. Ich könnte ja im Garten den Rasen mähen und am Freitag das Altpapier und den Glasmüll wegbringen, so wie es Richard getan hatte. Sie lehnten mit müdem Dank ab. Da kam ich mir dumm vor und ich bereute meinen Vorschlag. Bald darauf war ich aus der Türe raus und lief ziellos durch die Stadt, am Wehr entlang, wo der Fluss rauschte, noch prächtig angefüllt vom letzten, großen Regen. Auf der Brücke vor der Stadt machte ich einen Halt, stützte mich auf das Geländer und sah traurig dem ziehenden Wasser nach. Wir hatten hier früher oft zusammen gestanden und geschwatzt, ganze Abende hindurch bis in die Nacht. Man konnte von hier aus den Flusslauf ein gutes Stück weit mit dem Auge verfolgen, ehe er, beiderseits von überhängenden Bäumen gesäumt, in einer Biegung verschwand. Ich dachte an nichts anderes, als den toten Freund. Einmal hörte ich ihn lachen, drehte mich rasch um, doch da war niemand. Vielmehr war da nur ein Spatz, der vom Baum herab zu mir sang, er blieb nicht lang, brachte sein kurzes, fröhliches Lied zum Schluss und flog dann davon. Zunächst wollte ich ihm ein Stück weit nachlaufen, machte aber bald kehrt und ging zurück in die Stadt.
 
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