Meine Kurzgeschichte

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Altobello

Lyrik-Contest Sieger 2008
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Als er seine roten Augen vor dem Badezimmerspiegel rieb, fiel sein Blick auf das Paar Ohrringe, das sie vergessen hatte. Goldene, große Ohrringe mit kleinen Korallenstücken, die gut zu ihrem blonden Haar passten. Er erinnerte sich daran, wie er ihr einmal Perlohrstecker geschenkt hatte, das war noch ganz am Anfang gewesen, und sie hatte gelächelt, ihr bezauberndes, ergreifendes, alles andere in den Schatten stellendes Lächeln, und hatte ihm dann liebevoll, aber bestimmt erklärt, dass Perlohrstecker etwas für... wie hatte sie das gesagt... ach ja: „ein Erkennungsmerkmal erzkonservativer, arroganter Frauen mit Möchtegern-Eleganz“ seien. Doch alleine dieses Lächeln, ihr Lächeln, war diese harsche Abfuhr wert gewesen, und er hatte es ebenso schnell wieder vergessen wie alles andere Negative, wenn er mit ihr zusammen gewesen war.
Genug, dachte er, während er ihre anscheinend modernen, liberalen und wahrhaft eleganten Ohrringe im untersten Fach seines Badezimmer-Schranks verschwinden ließ, genug, du hast jetzt fast 2 Wochen getrauert, geweint, das Telefon und die Klingel ignoriert, also hör verdammt nochmal auf, an sie zu denken, und denk mal an dich. Er hob seinen Blick, der auf sein unrasiertes, fast schon vollbärtiges Gesicht fiel, mit den Ringen unter den Augen, welche die zahllosen schlaflosen oder -armen Nächte hervorgerufen hatten, mit den harten, fast versteinerten Zügen und eben jenen blutunterlaufenen, roten Augen, deren Zustand durch das, was sie da im Spiegel betrachten mussten, nicht besser wurde.
Heute, hatte er sich gesagt, heute würde er diesem Trauerspiel ein Ende setzen. Trauer-Spiel, dachte er, erstens ein komisches Wort, und zweitens nur die halbe Wahrheit. Immerhin, sein Hirn funktionierte noch, reagierte noch – Zeit, damit etwas anzufangen.
Seit Tagen hatte er keine Nachrichten mehr gehört oder gesehen, geschweige denn gelesen, völlig untypisch für ihn; aber er war gar nicht auf die Idee gekommen, sich über irgendetwas zu informieren, was um ihn herum passierte, denn tagsüber hatte er sich damit beschäftigt, die Zeit totzuschlagen, melancholische Songs von Phil Collins zu hören und an die Decke zu starren, bis er dabei nach Stunden eindöste; nachts lag er sowieso wach und konnte, wenn überhaupt, erst beim Morgengrauen eine gewisse Art von Ruhe finden, nachdem das anbrechende Tageslicht ihm zu versichern schien, dass er es durch eine weitere Nacht ohne sie geschafft hatte. Genug auch davon, dachte er, du wirst dich heute aufraffen und rausgehen, und wenn es nur bis zum Kiosk an der Ecke ist, um eine Zeitung zu holen und etwas anderes zu sehen als deine Zimmerdecke.
Er kam ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief, wie eigentlich die ganze Zeit. Nicht dass er je hingeschaut hätte, aber der Fernseher suggerierte ihm, dass jemand da war, dass er nicht völlig alleine war, dass die Welt sich weiter drehte, und es hatte ihm nachts geholfen, immer mal wieder ein wenig Schlaf zu finden. Es lief Werbung, und im selben Moment, in dem er das feststellte, nachdem sein Blick tagelang am Fernseher vorbeigegangen war, musste er an das „Werbungraten“ denken, das sie immer gespielt hatten, wenn sie es sich zu zweit gemütlich gemacht hatten und der Film wieder mal unterbrochen wurde. Er war der Zapper-Typ, sie die gemütliche Durchschauerin, und so hatte sie sein ständiges Umschaltbedürfnis durch eben jenes Spiel ersetzt, bis sie so gut wie jeden Clip auswendig wussten und bereits an den ersten Sequenzen erkannten, was den Spaß aber nicht minderte, sondern vielmehr in lauten Lachanfällen gipfelte, wenn sie sich beinah zeitgleich Produktnamen ins Gesicht schrien. War es wirklich so lustig gewesen, oder war es ihm nur so erschienen, weil er es mit ihr gespielt hatte, fragte er sich, während er „Persil“ und wenig später „SAP“ vor sich hin sagte. Eigentlich auch egal, dachte er, und sagte halblaut „Mercedes“. Als der leere Raum ihm keine Zustimmung gewährte, kein Lob spendete oder gar Konkurrenz darstellte, ließ er den Fernseher einfach laufen, griff nach seinem Geldbeutel und trat hinaus in den Flur.
Auf dem Boden lagen immer noch die Scherben des Glasaschenbechers, den sie in ihrem Zorn zu Boden geworfen hatte, mit den Stummeln ihrer langen, weißen Zigaretten daneben. Er hatte eigentlich nie geraucht, aber mit ihr und ihr zuliebe manchmal eben doch; nach dem Sex meistens oder wenn sie zusammen gekocht hatten und den Abend zusammen kuschelnd bei einem Glas Wein und einem Spielfilm, inklusive Werbungraten, ausklingen ließen. Immerhin, dieses Laster konnte er nun ablegen, dachte er, während er die Scherben ausdruckslos betrachtete. Scherben bringen Glück, hatte sie immer gesagt, schon bei ihrem ersten Treffen, als er so aufgeregt gewesen war, dass er ein Glas umgestoßen hatte und sie ihn zum ersten Mal mit ihrem wissenden, wunderschönen Lächeln bedacht hatte; in diesem Moment hatte er gewusst, dass er alle Gläser dieser Welt zu Boden werfen würde, wenn es ihm jedes Mal dieses Lächeln einbringen würde. Er betrachtete die Scherben, die Zigarettenstummel, die Asche auf dem Boden, und überlegte kurz, ob er das alles erst schnell wegwischen sollte, aber dann hielt er inne. Scherben bringen Glück, dachte er wieder, und so ließ er sie einfach liegen.
Als er nach draußen trat, schien die Sonne, und ihn überraschte die Lebendigkeit der Straße vor seinem Haus. Er fühlte sich fehl am Platz und irgendwie müde, und beides war vollkommen unsinnig, denn das war seine Straße, sein Viertel, und er hatte die letzten Tage nur herumgelegen. Also ging er die Straße hinunter, den gleichen Weg, den sie beide sonntags immer gegangen waren, um sich noch mit frischen Brötchen am Kiosk zu versorgen und sich dann schnell wieder in ihrer kleinen Enklave verkriechen zu können, in der nur sie beide, das Bett und ab und zu Nahrung wichtig gewesen waren. Er musste sich zusammenreißen, setzte mechanisch einen Schritt vor den anderen, und kam an der Wäscherei vorbei, in der die kleine Chinesin ihre Sachen immer gewaschen hatte. Er persönlich hatte die Chinesin nie sonderlich gemocht, er fand sie relativ unfreundlich, wenn man das von einer immer monoton lächelnden, nickenden Frau ohne größere Deutschkenntnisse sagen konnte, außerdem hatte sie seine beste Hose verwaschen, was er ihr sehr übel genommen hatte, und ihre Preise waren viel zu hoch, aber sie... Sie hatte ihn auf das mögliche Flüchtlingsschicksal der Chinesin hingewiesen, und ihr zuliebe war er also ebenso freundlich zu der kleinen Frau gewesen. Flüchtlinge aus China, gibt’s das überhaupt, fragte er sich, und die Preise waren auch wieder erhöht worden, wie er dem Aushang entnahm. Nein, das ist kein Schicksal, sondern Kapitalismus in seiner Urform, dachte er nur, während er im Vorbeigehen freundlich in das große Schaufenster hineinblickte und ein stummes „Hallo“ mit seinen Lippen in Richtung der wie immer lächelnden, nickenden Chinesin formte.
Auf seinem restlichen Weg versuchte er, die Aufnahme weitere Eindrücke aus seiner Umgebung zu vermeiden, er wollte ja auch nur zum Kiosk, komm schon, dachte er, das kann doch alles nicht so schwer sein. Er vermied es, Kennzeichen zu betrachten und nach Ähnlichkeiten zu ihrem Kennzeichen zu suchen, wie er es sonst immer getan hatte, er streifte die Haltestelle, an der sie immer ein- und ausgestiegen war, nur mit einem schnellen Blick, und war froh, als er den Kiosk erreichte.
Eine rothaarige, recht hübsche Verkäuferin begrüßte ihn mit einem fast zu freundlichen „Guten Morgen“, als sie von ihrer Zeitschrift aufsah, er kannte sie nicht, sie war wohl neu, und er produzierte schnell ein möglichst ebenso freundliches Lächeln und ein kräftiges „Morgen“. Sie war etwa so alt wie er, vielleicht ein, zwei Jahre jünger, schlicht gekleidet und eher unauffällig, aber das Betrachten ihrer weiblichen Figur und ihr nettes Lächeln taten ihm wirklich gut, und er beschloss, sich ausgiebig die Zeitungsauslage anzusehen – nicht etwa nur wegen ihr, immerhin war er ja tagelang von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, und ein ausgiebiges Informations-Update konnte sicher niemandem schaden.
Die Rothaarige hinter der Theke wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, wie er aus den Augenwinkeln sehen konnte, und er betrachtete abwechselnd sie und die Titelseiten der Tageszeitungen genauer. Die Zeitungen waren allerdings ohne wirklich interessante Neuigkeiten, und so schenkte er der Frau hinter der Theke nach und nach mehr Aufmerksamkeit. War er schon bereit zum Flirten? War das ein normales, geschäftsmäßiges „Guten Morgen“ gewesen, war sie vielleicht einfach nur sehr nett? Sollte er darauf reagieren? Und welche Zeitung sollte er sich jetzt kaufen?
Kurzentschlossen griff er zur erstbesten, setzte wieder sein Lächeln auf und trat zur Kasse hin. Gerade als er sich einen Satz überlegt hatte, von dem er sicher war, dass er ihn ohne Stottern herausbringen würde, gerade als sie sich ihm voll zuwendete und wieder so nett lächelte, blitzte an ihrem Ohr ein kleiner Perlohrstecker auf.
„Die FAZ und sonst noch etwas, der Herr?“ fragte sie höflich und sah ihm direkt ins Gesicht.
Ohne wirklich zu wissen warum, schaute er sie traurig und enttäuscht an. „Nein... Danke. Ähm... Also eigentlich möchte ich nur ein paar Zigaretten. Die... die langen weißen da oben rechts. Danke.“ Er gab ihr hastig die Zeitung, die sie etwas verwundert in Empfang nahm, bezahlte stumm die Zigaretten und verließ den Kiosk mit gesenktem Haupt, ohne noch ein einziges Mal aufzublicken.
 
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