Kindheit

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bin nicht sonderlich erfahren im Schreiben. habe aber meine Freude am Schreiben entdeckt, weshalb ich eine kleine Kurzgeschichte geschrieben habe. Hoffe es gefällt.


Kindheit

Ich sitze im Zug und bin auf dem Weg nach Hause. Wie immer fährt der Zug nicht pünktlich ab. Draussen haben sich die grauen Wolken verzogen und die Sonne lässt sich nach fast einer Woche mal wieder blicken. Doch mein Gemüt ändert sich nicht. Es stimmt mich jedes Mal traurig, wenn ich aus dem Fenster schaue und die Menschen beobachte, wie sie seelenlos durch den grossen Bahnhof umherwandeln und das Tag ein, Tag aus. Als wären wir alle Ameisen in einer grossen Ameisenkolonie. Alle zusammen und doch irgendwie jeder für sich.
Der Zug ist heute ausnahmsweise nicht voll. Mir gegenüber sitzt lediglich ein junger Mann. Wahrscheinlich ein Student. Im Prinzip mag ich Studenten ja nicht besonders, aber im Zug sind sie sehr angenehm, da sie die ganze Fahrt meistens schlafend oder lernend verbringen und mich daher nicht mit unangenehmen Blicken durchlöchern. Das andere Abteil nebenan ist sogar völlig unbesetzt. Allerdings liegt da eine Jacke, die scheinbar niemandem gehört. Ich denke mir nichts dabei und schliesse meine Augen und versuche zu schlafen. Die Sonne scheint mir genau ins Gesicht. Es blendet mich sogar mit geschlossenen Augen.
Endlich. Der Zug fährt ab. Normalerweise kommt jetzt die Phase, in der ich einschlafe, doch heute ist es anders. Es geht nicht. Ich schaue ständig aus dem Fenster. Häuser, Bäume, Gebüsche, Strassenbeleuchtungen, alles fliegt so schnell an mir vorbei. Ich bin tief in Gedanken, denke über vieles nach, vor allem an die schöne Zeit früher.
Die Kontrolleurin steht plötzlich neben mir. Ich habe sie beinahe nicht bemerkt, war so tief in Gedanken. Sie verlangt unsere Billette und fragt uns gleichzeitig ob uns diese grüne Jacke da drüben gehört. Der Student antwortet mit einem nein, nachdem er sein Billett hervorgeholt hat. Auch ich zeige ihr meine Fahrerlaubnis und verneine. Die Kontrolleurin überprüft unsere Papiere und macht sich gleich daran, die grüne Jacke etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Jacke scheint mit irgendetwas gefüllt zu sein. Sie zieht den Reissverschluss runter und schaut nach. Ein bisschen enttäuscht, lehnt sich der Student wieder ans Fenster und versucht weiter zu schlafen. Es ist lediglich ein altes Stofftier in Form eines Hasen, das in der Jacke steckte. Der Hase ist völlig verwahrlost, seine Augenknöpfe sind nur noch sehr locker am Kopf angemacht und auch die langen grauen Ohren hängen runter und sind ganz schmutzig. Er sitzt da und schaut bedrückt ins Leere. Die Kontrolleurin lässt ihn und die Jacke liegen und läuft weiter um die anderen Fahrgäste zu kontrollieren.
Ich kann meinen Blick von diesem Stofftier nicht lassen. Da liegt es, ganz alleine in diesem Zug, völlig vereinsamt.

Ich frage mich wie es dazu kam und stelle mir ein zierliches Mädchen vor, das im Zug sitzt und sich die gleichen Fragen stellt wie ich einst. Sie bekommt aber keine Antworten. Sie weint und schluchzt, schaut aus dem Fenster und versteht die Welt nicht mehr. Der einzige, der ihr Trost spendet, ist ihr pelziger Freund, den sie ganz fest umklammert. Der Student ist mit seinem Fachbuch beschäftigt und ignoriert sie und auch die anderen Fahrgäste schauen weg.
Stunden vergehen. Nach und nach leeren sich die Zugabteilungen. Mittlerweile hat der Zug die Endstation erreicht. Die wenigen Fahrgäste die noch verblieben sind, steigen aus dem Zug. Das Mädchen selbst bleibt noch eine Weile sitzen. Sie legt das Stofftier auf ihren Schoss und schaut es an. Wissend, dass das der letzte Moment mit ihrem treuen Begleiter ist, flüstert sie: 'Es tut mir Leid' und zieht ihre Jacke aus um damit den Hasen warm zu umhüllen. Schliesslich verlässt sie mit erhobenem Haupt den Zug und ergibt sich...
Der Weltschmerz klingelt langsam aus. Jede Form von Gefühl stirbt in ihr. Doch dass die Seele mit der Umwelt nicht mehr eins werden kann, wenn man in der Welt der Erwachsenen vollkommen verwahrlost umhergeistert, hat sie gerade in diesem Augenblick für immer vergessen.

Ich würde ihr gerne ihre warme Jacke und ihr weisses Stofftier zurückgeben, würde sie gerne fest in meine Arme schliessen, ihr ihre Tränen vom Gesicht wischen und sie schliesslich an das erinnern, was ich selbst schon längst verloren habe...

Ich hoffe es geht ihr gut und steige aus dem Zug.
 
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aussage und idee der story gut bis ausgezeichnet, formulierung und sprachstil mäßig. bilder und metaphern nicht besonders innovativ.

glückwunsch, das was man am schreiben nicht oder nur schlecht erlernen kann besitzt du, das handwerkszeug ist ausbaufähig.
 
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danke für die kritik.

und wie erlernt man das handwerkszeug? viel lesen?
 
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lesen von primär- und sekundärliteratur.
lesen von allgemeiner literaturtheorie.
besuchen von theoriekreisen.
universität.

fiele mir jetzt spontan ein. oh und natürlich viel schreiben. :)
 

shaoling

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Zustimmung an COs Einschätzung: inhaltlich sehr ansprechend, sprachlich noch etwas ungeschliffen. Seine Empfehlung würde ich so nur bedingt aussprechen.

Das erste und wichtigste, was du tun solltest, ist viel lesen und viel schreiben.
Sei dabei wählerisch und gib besserer Literatur den Vorzug, lerne von den Meistern. Das hat gleich zwei erhebliche Vorteile: zum einen wirst du gleich an eine ansprechende Stilhöhe herangeführt, zum anderen bieten gedanklich gehaltvolle Werke jederzeit eine Quelle neuer Inspiration für die eigene Arbeit.
Und lies am besten, was du schreiben willst: Wenn du hauptsächlich Kurzgeschichten schreibst, lies auch solche; sie sind gerade als Einstieg in die Schreiberei ohnehin eine vorzügliche Wahl.

Wenn du daran Freude hast, kannst du auch gezielt experimentieren, indem du etwa verschiedene Stillagen ausprobierst, mal den Stil eines Autors möglichst exakt zu kopieren versuchst oder den Inhalt einer Geschichte möglichst identisch in einem ganz anderen Stil wiedergibst und anschließend vergleichst. Doch das ist freilich nur eine Möglichkeit; genau wie die Beschäftigung mit dem theoretischen Unterbau, zumal vielen Menschen die Analyse ja nicht unbedingt liegt.
Ich würde mich da nicht zu übertriebener Handwerklichkeit gedrängt fühlen. Tu nur, was dir auch Spaß macht.

Wichtig ist, dass du dir einen analytisch-kritischen Blick aneignest, am besten indem du bewusst auch den Stil liest und die Sprache nicht nur als bloße Hülse des Inhalts an dir vorbeirauschen lässt. Lies also mit wachem Auge sowohl für die Gedanken als auch ihre Form.
Du wirst merken, dass dein Stil teils großen Schwankungen unterworfen ist, was völlig normal ist und nicht mal eben stören muss.
Bis man sich einen wirklich soliden und konstanten Stil angewöhnt hat, braucht es viel Zeit. Bis man gar soweit ist, seinen Stil treffgenau dem gewünschten Zweck anpassen zu können, ist es ein sehr weiter Weg - ich möchte behaupten, dass selbst viele professionelle Autoren diese Kunst nur unzureichend beherrschen.
Ob du dieses Ziel langfristig anstrebst, bleibt freilich dir selbst überlassen.

Da du ja selbst sagst, dass Schreiben dir große Freude bereitet, lohnt sich ein etwas tieferer Einstieg in die Materie zweifellos. Du lässt sehr gute Anlagen erkennen und es würde mich freuen, wenn du bisweilen wieder etwas von dir lesen ließest.
 
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wow. hätte nicht gedacht, dass man im Literatur Forum mehr als eine Antwort bekommt :)

erstmal danke für die Tipps. Allerdings würde ich noch gerne wissen, was ich genau lesen soll. Ich kenne nicht sehr viele Bücher und muss leider zugeben, dass ich literarisch nicht sehr gebildet bin.
Ich mache zur Zeit eine stinknormale Ausbildung als Büroarbeiter (da ich kurz vor der Matura von der Schule flog, was ich jetzt ein bisschen bereue...).

gerne gelesen habe ich damals Bücher wie:

Demian - Hermann Hesse
Siddharta - Hermann Hesse
Der Steppenwolf - Hermann Hesse
Das Bildnis des Dorian Gray - Oscar Wilde

und noch paar andere, die mir jetzt spontan aber nicht einfallen. (mir wurde aber schon mal von einem Germanistikstudent gesagt, das sei typische Schulliteratur für pupertierende Proleten :8[:)

würde mich auf ein paar Empfehlungen freuen.

gibts nicht irgendwo sowas wie www.last.fm für Bücher? wo halt Bücher aufgelistet werden, die ähnlich sind.
 
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Sowas wie last.fm für Bücher gibt es leider nicht. Da du Hermann Hesse mochtest, würde ich dir auch die anderen großen Werke von ihm empfehlen: "Narziss und Goldmund" und "Das Glasperlenspiel".

Um mal ein wenig das Spektrum durchzugehen, würde ich dir einfach einige Autoren mit einem sehr markanten Stil empfehlen:

Zum Beispiel traditionelle Erzähler wie Thomas Mann ("Der Zauberberg", Kurzprosa), Dostojewski ("Verbrechen und Strafe", "Der Idiot") oder Theodor Fontane ("Effie Briest", "Irrungen, Wirrungen"). Und im Kontrast dazu moderne Erzähler wie Franz Kafka ("Die Verwandlung", "Das Schloß") oder Alfred Döblin ("Berlin Alexanderplatz").
Ansonsten kommt man an den Klassikern Schiller und vor allem Goethe wohl auf kurz oder lang nicht vorbei: Wenn du dich auch für die lyrische Seite interessierst, kannst du unendlich viel im "Faust" lernen. Aber auch sonst schadet die Beschäftigung mit "Iphigenie auf Tauris" oder "Die Leiden des jungen Werther" nicht.
Wenn du dich auch für Dramen interessierst, würde ich dir meine drei liebsten Dramatiker empfehlen: Goethe, Kleist, Hebbel.

Wie du merkst sind solche Aufzählungen schwierig, weil selbst der kleinste Kanon Weltliteratur schon riesig ist. Um also auf deine genannten Werke zurückzukommen: Wenn du Hermann Hesse magst, müsste dir auch Milan Kundera ("Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", "Die Unsterblichkeit") gefallen. Er ist ein genialer, noch lebender tschechischer Romancier, der mit großer Leichtigkeit die verschiedensten Themen in seinen Romanen verwebt. Oft verknüpft er seine fiktiven Texte mit der Geschichte der tschechischen Republik (Prager Frühling 68) oder mit anderen literarischen Werken (zB von Nietzsche oder Goethe), sodass seine Lektüre oft weitere Lektüre nach sich zieht.
 
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Gibt eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
Bei manchen "Genres" würde ich anderes empfehlen, aber das ist wohl Geschmackssache.

Oh eins fehlt noch, vielleicht ist das Lesen moderner Popliteratur auch ganz gut, speziell was Formulierungsfähigkeit angeht.
Da empfehle ich Benjamin Stuckrad-Barre und Michel Houellebecq.
 

[fN]Leichnam

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Original geschrieben von Clueso

und wie erlernt man das handwerkszeug? viel lesen?

sehr empfehlenswert ist imho "das leben und das schreiben" von stephen king. auch wenn du ihn nicht weiter magst oder so. das buch gibt einen schönen einblick in das handwerk.
 
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