[fN]Leichnam
Literatur-Forum
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k, mal was längeres.
ich empfehle ausdrucken und lauschiges lesen bei gutem dope oder pfefferminztee.
und bitte verzeiht mir die vielen komma- und rechtschreibfehler.
Kinderkind
Meine Augen stehen in Tränen. Die Tage sind zu lang und ich weiss nicht mehr wo ich hindenken soll, wie ich den nächsten Augenblick überstehen kann, ohne ganz abzurutschen. Wir hatten Gesprächsstoff für eine Viertelstunde, dann war auch das vorbei und ich bat dich zu gehen. Meine Einsamkeit geht niemanden an. Ich möchte sie nicht mit dir teilen. Ich habe wohl den Glauben an die Sprache verloren, an Kommunikation sowieso. Zumindest ablenken konnte sie mich doch hin wieder. Und manchmal mich sogar ganz vergessen lassen; in der Intensität eines Gesprächs. Das ist jetzt vorbei. Die Automation und Selbstverständlichkeit meines bisherigen Lebens ist ganz empfindlich gestört. Ich zerpflücke und vergewaltige Situationen. Oft mit hämischer Schadenfreude und Genugtuung meinem Gegenüber seine wertvolle Lebenszeit zu stehlen und ihn auf meinen Charme auflaufen zu lassen. Die Mechaniken des Lebens sind mein Ziel. Sand für das Getriebe, Irrwege für deine Venen.
Jetzt, wo du doch schon lange gegangen bist, versuche ich mich angestrengt am freien Atmen. Aber die Luft schmeckt nicht. Sie ist leer und verbraucht. Ich hasse Sauerstoff, ich will damit nichts zu tun haben. Wenn die Bäume und Pflanzen wüssten, was sie jeden Tag an nährreichen Gasen produzieren und damit die trübsten Gedanken und Taten antreiben. Sie würden vielleicht eingreifen und gleich einer grünen Horde unbeweglicher Märtyrer ihr Chlorophyll verschlucken und ihr gefährliches Treiben einstellen. Aber damit ist nicht zu rechnen, die Flora ist da gnadenlos. Ich habe mehrmals versucht die Sache für mich abzuschließen. Auf dem einzigen Wege, der einem Neugeborenen zu Gesicht steht. Das ist eine komplizierte geistige Übung. Von jetzt auf dann die Atmung zu unterlassen und der lieben Welt den Rücken zu kehren ist wahre Kunst und das schon früh erklärte Ziel meines Daseins. Mein Dasein, diese Katastrophe. Dieser nicht enden wollende Schreck. Doch, es wird enden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann und wie ich erfuhr, dass ich sterblich bin, aber es muss mich hart getroffen, die Katastrophe gesteigert haben. Als ich noch ein Kind war, konnte mich der Tod trotzdem nicht wirklich schrecken. Denn ich würde ihn verweigern, die Augen nicht schließen und weiter mit traurigem Trotz meine Katastrophe beäugen. Nein! Ich würde niemals sterben, konnte gar nicht fassen, dass so viele es trotzdem versuchten und taten. An jedem Tag taten sie es. Im Fernsehen, im Radio, draußen starben sie dahin wie die Fliegen und ich wusste nicht warum. Insgeheim war ich natürlich mit der Sache vertraut. Du bist jetzt sieben Jahre alt und deine Erinnerung reicht zurück in vergangene Ewigkeiten. Die Leute werden grau und uralt. Ja, so ein Leben ist quasi unendlich. Schon ein einziges Jahr ist ja kaum aufzubrauchen. Geschnitten, mein Freund. Die Zeit beschleunigt. Du kreiselst hoffnungslos auf das Zentrum des Strudels zu. Und was wird dann sein? Was bedeutet es, „nicht mehr am Leben zu sein“? In meinen frühen Geistesübungen und Todesvorstellungen war zwar das Licht erloschen, die Sinne nur noch Erinnerung und die Fähigkeit zur Bewegung abhanden gekommen, aber das Bewusstsein war noch da. Das war mein damaliger Tod. Heute muss ich das alles nüchterner betrachten, meine optimistische Vision korrigieren. Heute bin ich auch im gewöhnlichen Alltag schon deutlich toter, als in meinen damaligen Fantasien. Heute tröstet mich der Tod, ist mir der einzige Verbündete und Lebensziel. Ich bin nicht depressiv oder gemütskrank. Keine volkstümliche Ermattung könnte bei mir bestehen. Ich weiss, wie ich dem Körper die so wichtigen Botenstoffe, Enzyme und Hormone abgewinnen kann. Ich weiss, wie man glücklich wird. Es ist ganz leicht. Doch es ist nicht mein Ziel. Ich nehme das Glück mit mir, wenn ich mich eines Tages selbst beende und meine gemarterte Seele sich schließt.
Freitag:
Ich kam von der Arbeit nach Hause und wusste, heute müsse noch etwas geschehen. Etwas ganz Unglaubliches und Einmaliges, sonst würde die Zeit stehen bleiben und der Nachmittag mir zum ewigen Arrest werden. Guter Dinge verstaute ich also die eingekauften Sachen in den Schränken und Regalen, setzte mir einen Kaffee an und drehte das Radio auf. Musik ist Freund und Feind. Ist Magier und Langweiler und kommt grundsätzlich nicht aus Lautsprechern, sondern nur aus den Abgründen und herab von den Gipfeln deiner selbst. Erstaunlich wie sich die bekannten Platten im Laufe der Zeit verschoben und entwickelt haben. Heute höre ich das selbe Stück ganz anders, als ich es noch vor zwei Jahren hörte oder in zwei Jahren hören werde. Ich neige dazu mich in eine neue Platte zu verlieben, sie rauf und runter und tot zu spielen, bis ich meine, sie allseitig zu kennen und nichts neues darin finden zu können. Und da liegt der Trugschluss. Musik wird genau wie Literatur als unfertiges Produkt gekauft und durch Momente, ob golden oder eher blechern ist der Kunst ganz gleich, zur Vollendung gebracht. Der Konsument macht die entscheidende Arbeit selbst. Die Musik in meinem Besitz, ist also nicht nur Unikat, da sie ja ein jeder anders hört. Nein, sie ist ein Phantom. Ein Chamäleon, genau wie ihr Eigentümer. Mit flinken, schlauen Fingern durchforste ich meine Plattensamlung und dann, hoppla, weiss der Geier, wie das funktioniert, werde ich fündig. Ich stoße auf die einzige CD, nach der die Situation verlangt und übergebe sie dem komplizierten Gerät, welches die eingebrannten Harmonien und Dissonanzen in diesen Raum schleudern und ihn ganz damit ausfüllen wird. Der Opener ist ein schnelles Stück von schwungvollem Rhythmus. Es ist gut und richtig so, die Grundierung ist aufgetragen und mittlerweile ist auch der Kaffee soweit. Das Leben funktioniert.
Als ob es schon immer so gewesen wäre. All die groben Patzer, die Enttäuschungen und Peinlichkeiten liegen noch gut sichtbar hinter mir, aber abgeschlossen. Sie sind erlebt, sie haben ihre Schwere verloren. Notwendig erscheinen sie mir jetzt. Und notwendig werden auch die Fehler der Zukunft sein. Ich muss mich nicht vermeiden, ein herrliches Gefühl. Am schweren Esstisch sitzend überflog ich die Tagespresse. Wie immer ist sie randvoll mit allerlei merkwürdigen Gemeinheiten, die sich Menschen gegenseitig aus verzweifelten Antrieben heraus antuen. Ein junger Mann ist gestern kastriert und ermordet aufgefunden worden. In einer Stadt nicht weit von hier. Ich denke an ihn. Was er wohl getan hat, was er als Kind erlebt haben könnte und wie ist er in eine so missliche Lage geraten? Und ich denke an vorige Woche. Mehr noch als die aktuellen Opfer interessieren mich die künftigen. Ich hatte vor einer Woche schon an ihn gedacht. Als er oder sie noch lebte und mit den selben Zaubern und Nöten wie ein jeder sein Leben bestritt. Ich dachte: „Mensch, vielleicht schon morgen werde ich von deinem Ende in der Zeitung Bericht finden. Heut bist du noch Leser, wie ich und wir anderen und morgen ist nur noch eine Spur von dir, gedruckt als Überschrift und sachlich kurzer Text, auffindbar.“
Wie geht man damit um? Verdrängung. Was sonst? Das Leben geht weiter, wenn auch deines zu Ende ist, mein Gott. Diese Kälte. Ich würde mich nicht als Opfer des Informationszeitalters sehen, eher als Betroffener. Ich nehme mir gerne die Zeit, ein wenig den Toten nachzusinnen, auch wenn ich sie nicht kannte und meine Vorstellungen reine Fantasiegebilde sind. Das spielt gar keine Rolle. Ich nehme sie auf und gliedere sie in meinen eigenen Schmerz ein um damit nicht so allein dazustehen.
Zum Glück findet sich ja auch allerlei Erheiterndes in meiner Zeitung. Auch daran nehme ich gerne unbemerkt teil. Ein Rentnerpäarchen streckt gütig und schon ein wenig überreif lächelnd einen riesigen Kürbis in das Bild. Eine lokale Rekordfrucht, warum nicht? Ich lese von einer Gewerkschaftsdemonstration. Die zu diesem Ereignis aus verschiedenen Städten herbeizitierten Polizeikräfte kamen sich offenbar aus irgendeiner nicht geregelten Kompetenzfrage in die Haare. Die Lage eskalierte und die Ordnungshüter beschimpften einander aufs Übelste und versuchten sogar sich gegenseitig zu verhaften. Erst dazwischengehende Demonstranten konnten die Lage ein wenig entspannen. Ich mag solche Geschichten und wäre gerne öfter selbst darin verwickelt.
Ich wollte leben, ich wollte heute noch so richtig leben. Ich schob das Blatt beiseite und schlurfte am Kaffee. Aber was? Was fällt dir ein? Nur unnütze Gedanken meldeten sich an. Herrgott, darf hier denn jeder rein? Komm schon, du hast nicht ewig Zeit, streng dich an. Es kam nichts, je mehr ich suchte und je mehr ich es wollte, desto unklarer wurde mir der Tag und mein Leben darin. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich auf diesem Wege nicht fündig werden könne und beschloss, es einfach so hinzunehmen und nach draußen zu gehen. Im Treppenhaus roch es nach Hausputz und die Stufen waren noch mit nassen Flecken bedeckt. Nicht berühren! Ich nahm drei Stufen auf einmal, dann einen ganzen Absatz, wo ich mir ein wenig die Handfläche am Geländer verbrannte, welches eigentlich meinem Sprung als Führung dienen sollte, stolperte durch die Tür und nach draußen auf die Straße. Es ist eine kleine Stadt und an manchen erhöhten Stellen kann man von einem Ortsrand bis zum anderen blicken. Dazwischen liegt diese mir so vertraute Struktur aus Straßen, Gebäuden, Parks und Grünflächen. Vielgesichtig ist dieser Ort. Manchmal erscheint er mir noch als das Paradies meiner Kinderzeit, sonnig und mit Kondensstreifen ziehenden Fliegern am blauen Himmel. Und wenn das Echo lachender Kinder zwischen den Wohnblöcken hin und her geworfen wird, dann ist es wie früher. Dann ist es, als ob auch mein Lachen noch zwischen den Häuserzeilen stehen würde. Hell und ehrlich, zutiefst beglückt. Es weht dann der alte Wind noch einmal, der die tiefe Verwurzelung meiner jungen Jahre in dieser, meiner Welt nur sanft berührt und pflegend streift. Anders schaute mich die Stadt in manchen Nächten an. Wenn ich frierend und berauscht durch die verregneten Gassen schlich. Dann sah ich hier die finsterste Seite des Mittelalters, vermutete an jeder Ecke ein Attentat und roch schon mein Blut.
Heute war es schön, die frühe Abendsonne stand hinter den entfernten Hügeln und tränkte die Straße in ein bezauberndes Gold. Ich liebe dieses Licht, es zeigt die Welt von ihrer schönsten Seite und jede solche Minute ist unendlich kostbar, durch massives Gold nicht aufzuwiegen. Ich schlenderte über den Friedhof, nahm ein paar Umwege und genoss die klare, warme Luft. Vertraute Menschen begegneten mir unterwegs und man nickte einander zu oder wechselte ein kurzes Wort. Andere, obwohl seit Jahren bekannte Gesichter werden wohl nie zu mir sprechen. Ein Großteil des Menschenpools in Städten solcher Größe kennt sich durch jahrelanges Sichbegegnen zumindest optisch recht gut. Man verfolgt die Entwicklungen, sieht die Gesichter über die Jahre altern, sieht sie lachend, sieht sie staunend oder hilflos dahinblickend immer und immer wieder. In diesem lose gesponnenen Netz der Bekanntschaften spielen Namen, Berufe, Ansichten und Einstellungen keine Rolle, denn man weiss nichts darüber. Man denkt auch nicht groß an diese Leute. Nur wenn man sich mal wieder trifft, auf der Straße oder beim Einkauf, rücken die kurzen Momente, die man mit diesen Leuten teilte, zusammen und werden stumm ergänzt. Einige sieht man gar nicht mehr. Es gab in unserer Stadt einen Obdachlosen, welcher in braunem Mantel und mit schneeweißem Haar einen Winter nach dem anderen überstand. Er hatte durch sein Raucherbein einen eigentümlichen Gang und ein gewisses heruntergekommenes, versoffenes und verlottertes Charisma. Trotz seines eher kargen Lebens merkte man ihn nie fluchen oder auch nur ärgerlich dreinschauen. Er war immer in Bewegung, ich sah ihn nie sitzen und ruhen. Er zog immerzu seinen verkrüppelten Fuß durch die Stadt, einen Beutel voller Schnaps bei der Hand. Dann irgendwann entdeckte ich ihn lange nicht mehr, dachte ab und zu an den armen Penner, aber blicken lies er sich nicht mehr. Er muss wohl gestorben sein.
ich empfehle ausdrucken und lauschiges lesen bei gutem dope oder pfefferminztee.
und bitte verzeiht mir die vielen komma- und rechtschreibfehler.
Kinderkind
Meine Augen stehen in Tränen. Die Tage sind zu lang und ich weiss nicht mehr wo ich hindenken soll, wie ich den nächsten Augenblick überstehen kann, ohne ganz abzurutschen. Wir hatten Gesprächsstoff für eine Viertelstunde, dann war auch das vorbei und ich bat dich zu gehen. Meine Einsamkeit geht niemanden an. Ich möchte sie nicht mit dir teilen. Ich habe wohl den Glauben an die Sprache verloren, an Kommunikation sowieso. Zumindest ablenken konnte sie mich doch hin wieder. Und manchmal mich sogar ganz vergessen lassen; in der Intensität eines Gesprächs. Das ist jetzt vorbei. Die Automation und Selbstverständlichkeit meines bisherigen Lebens ist ganz empfindlich gestört. Ich zerpflücke und vergewaltige Situationen. Oft mit hämischer Schadenfreude und Genugtuung meinem Gegenüber seine wertvolle Lebenszeit zu stehlen und ihn auf meinen Charme auflaufen zu lassen. Die Mechaniken des Lebens sind mein Ziel. Sand für das Getriebe, Irrwege für deine Venen.
Jetzt, wo du doch schon lange gegangen bist, versuche ich mich angestrengt am freien Atmen. Aber die Luft schmeckt nicht. Sie ist leer und verbraucht. Ich hasse Sauerstoff, ich will damit nichts zu tun haben. Wenn die Bäume und Pflanzen wüssten, was sie jeden Tag an nährreichen Gasen produzieren und damit die trübsten Gedanken und Taten antreiben. Sie würden vielleicht eingreifen und gleich einer grünen Horde unbeweglicher Märtyrer ihr Chlorophyll verschlucken und ihr gefährliches Treiben einstellen. Aber damit ist nicht zu rechnen, die Flora ist da gnadenlos. Ich habe mehrmals versucht die Sache für mich abzuschließen. Auf dem einzigen Wege, der einem Neugeborenen zu Gesicht steht. Das ist eine komplizierte geistige Übung. Von jetzt auf dann die Atmung zu unterlassen und der lieben Welt den Rücken zu kehren ist wahre Kunst und das schon früh erklärte Ziel meines Daseins. Mein Dasein, diese Katastrophe. Dieser nicht enden wollende Schreck. Doch, es wird enden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann und wie ich erfuhr, dass ich sterblich bin, aber es muss mich hart getroffen, die Katastrophe gesteigert haben. Als ich noch ein Kind war, konnte mich der Tod trotzdem nicht wirklich schrecken. Denn ich würde ihn verweigern, die Augen nicht schließen und weiter mit traurigem Trotz meine Katastrophe beäugen. Nein! Ich würde niemals sterben, konnte gar nicht fassen, dass so viele es trotzdem versuchten und taten. An jedem Tag taten sie es. Im Fernsehen, im Radio, draußen starben sie dahin wie die Fliegen und ich wusste nicht warum. Insgeheim war ich natürlich mit der Sache vertraut. Du bist jetzt sieben Jahre alt und deine Erinnerung reicht zurück in vergangene Ewigkeiten. Die Leute werden grau und uralt. Ja, so ein Leben ist quasi unendlich. Schon ein einziges Jahr ist ja kaum aufzubrauchen. Geschnitten, mein Freund. Die Zeit beschleunigt. Du kreiselst hoffnungslos auf das Zentrum des Strudels zu. Und was wird dann sein? Was bedeutet es, „nicht mehr am Leben zu sein“? In meinen frühen Geistesübungen und Todesvorstellungen war zwar das Licht erloschen, die Sinne nur noch Erinnerung und die Fähigkeit zur Bewegung abhanden gekommen, aber das Bewusstsein war noch da. Das war mein damaliger Tod. Heute muss ich das alles nüchterner betrachten, meine optimistische Vision korrigieren. Heute bin ich auch im gewöhnlichen Alltag schon deutlich toter, als in meinen damaligen Fantasien. Heute tröstet mich der Tod, ist mir der einzige Verbündete und Lebensziel. Ich bin nicht depressiv oder gemütskrank. Keine volkstümliche Ermattung könnte bei mir bestehen. Ich weiss, wie ich dem Körper die so wichtigen Botenstoffe, Enzyme und Hormone abgewinnen kann. Ich weiss, wie man glücklich wird. Es ist ganz leicht. Doch es ist nicht mein Ziel. Ich nehme das Glück mit mir, wenn ich mich eines Tages selbst beende und meine gemarterte Seele sich schließt.
Freitag:
Ich kam von der Arbeit nach Hause und wusste, heute müsse noch etwas geschehen. Etwas ganz Unglaubliches und Einmaliges, sonst würde die Zeit stehen bleiben und der Nachmittag mir zum ewigen Arrest werden. Guter Dinge verstaute ich also die eingekauften Sachen in den Schränken und Regalen, setzte mir einen Kaffee an und drehte das Radio auf. Musik ist Freund und Feind. Ist Magier und Langweiler und kommt grundsätzlich nicht aus Lautsprechern, sondern nur aus den Abgründen und herab von den Gipfeln deiner selbst. Erstaunlich wie sich die bekannten Platten im Laufe der Zeit verschoben und entwickelt haben. Heute höre ich das selbe Stück ganz anders, als ich es noch vor zwei Jahren hörte oder in zwei Jahren hören werde. Ich neige dazu mich in eine neue Platte zu verlieben, sie rauf und runter und tot zu spielen, bis ich meine, sie allseitig zu kennen und nichts neues darin finden zu können. Und da liegt der Trugschluss. Musik wird genau wie Literatur als unfertiges Produkt gekauft und durch Momente, ob golden oder eher blechern ist der Kunst ganz gleich, zur Vollendung gebracht. Der Konsument macht die entscheidende Arbeit selbst. Die Musik in meinem Besitz, ist also nicht nur Unikat, da sie ja ein jeder anders hört. Nein, sie ist ein Phantom. Ein Chamäleon, genau wie ihr Eigentümer. Mit flinken, schlauen Fingern durchforste ich meine Plattensamlung und dann, hoppla, weiss der Geier, wie das funktioniert, werde ich fündig. Ich stoße auf die einzige CD, nach der die Situation verlangt und übergebe sie dem komplizierten Gerät, welches die eingebrannten Harmonien und Dissonanzen in diesen Raum schleudern und ihn ganz damit ausfüllen wird. Der Opener ist ein schnelles Stück von schwungvollem Rhythmus. Es ist gut und richtig so, die Grundierung ist aufgetragen und mittlerweile ist auch der Kaffee soweit. Das Leben funktioniert.
Als ob es schon immer so gewesen wäre. All die groben Patzer, die Enttäuschungen und Peinlichkeiten liegen noch gut sichtbar hinter mir, aber abgeschlossen. Sie sind erlebt, sie haben ihre Schwere verloren. Notwendig erscheinen sie mir jetzt. Und notwendig werden auch die Fehler der Zukunft sein. Ich muss mich nicht vermeiden, ein herrliches Gefühl. Am schweren Esstisch sitzend überflog ich die Tagespresse. Wie immer ist sie randvoll mit allerlei merkwürdigen Gemeinheiten, die sich Menschen gegenseitig aus verzweifelten Antrieben heraus antuen. Ein junger Mann ist gestern kastriert und ermordet aufgefunden worden. In einer Stadt nicht weit von hier. Ich denke an ihn. Was er wohl getan hat, was er als Kind erlebt haben könnte und wie ist er in eine so missliche Lage geraten? Und ich denke an vorige Woche. Mehr noch als die aktuellen Opfer interessieren mich die künftigen. Ich hatte vor einer Woche schon an ihn gedacht. Als er oder sie noch lebte und mit den selben Zaubern und Nöten wie ein jeder sein Leben bestritt. Ich dachte: „Mensch, vielleicht schon morgen werde ich von deinem Ende in der Zeitung Bericht finden. Heut bist du noch Leser, wie ich und wir anderen und morgen ist nur noch eine Spur von dir, gedruckt als Überschrift und sachlich kurzer Text, auffindbar.“
Wie geht man damit um? Verdrängung. Was sonst? Das Leben geht weiter, wenn auch deines zu Ende ist, mein Gott. Diese Kälte. Ich würde mich nicht als Opfer des Informationszeitalters sehen, eher als Betroffener. Ich nehme mir gerne die Zeit, ein wenig den Toten nachzusinnen, auch wenn ich sie nicht kannte und meine Vorstellungen reine Fantasiegebilde sind. Das spielt gar keine Rolle. Ich nehme sie auf und gliedere sie in meinen eigenen Schmerz ein um damit nicht so allein dazustehen.
Zum Glück findet sich ja auch allerlei Erheiterndes in meiner Zeitung. Auch daran nehme ich gerne unbemerkt teil. Ein Rentnerpäarchen streckt gütig und schon ein wenig überreif lächelnd einen riesigen Kürbis in das Bild. Eine lokale Rekordfrucht, warum nicht? Ich lese von einer Gewerkschaftsdemonstration. Die zu diesem Ereignis aus verschiedenen Städten herbeizitierten Polizeikräfte kamen sich offenbar aus irgendeiner nicht geregelten Kompetenzfrage in die Haare. Die Lage eskalierte und die Ordnungshüter beschimpften einander aufs Übelste und versuchten sogar sich gegenseitig zu verhaften. Erst dazwischengehende Demonstranten konnten die Lage ein wenig entspannen. Ich mag solche Geschichten und wäre gerne öfter selbst darin verwickelt.
Ich wollte leben, ich wollte heute noch so richtig leben. Ich schob das Blatt beiseite und schlurfte am Kaffee. Aber was? Was fällt dir ein? Nur unnütze Gedanken meldeten sich an. Herrgott, darf hier denn jeder rein? Komm schon, du hast nicht ewig Zeit, streng dich an. Es kam nichts, je mehr ich suchte und je mehr ich es wollte, desto unklarer wurde mir der Tag und mein Leben darin. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich auf diesem Wege nicht fündig werden könne und beschloss, es einfach so hinzunehmen und nach draußen zu gehen. Im Treppenhaus roch es nach Hausputz und die Stufen waren noch mit nassen Flecken bedeckt. Nicht berühren! Ich nahm drei Stufen auf einmal, dann einen ganzen Absatz, wo ich mir ein wenig die Handfläche am Geländer verbrannte, welches eigentlich meinem Sprung als Führung dienen sollte, stolperte durch die Tür und nach draußen auf die Straße. Es ist eine kleine Stadt und an manchen erhöhten Stellen kann man von einem Ortsrand bis zum anderen blicken. Dazwischen liegt diese mir so vertraute Struktur aus Straßen, Gebäuden, Parks und Grünflächen. Vielgesichtig ist dieser Ort. Manchmal erscheint er mir noch als das Paradies meiner Kinderzeit, sonnig und mit Kondensstreifen ziehenden Fliegern am blauen Himmel. Und wenn das Echo lachender Kinder zwischen den Wohnblöcken hin und her geworfen wird, dann ist es wie früher. Dann ist es, als ob auch mein Lachen noch zwischen den Häuserzeilen stehen würde. Hell und ehrlich, zutiefst beglückt. Es weht dann der alte Wind noch einmal, der die tiefe Verwurzelung meiner jungen Jahre in dieser, meiner Welt nur sanft berührt und pflegend streift. Anders schaute mich die Stadt in manchen Nächten an. Wenn ich frierend und berauscht durch die verregneten Gassen schlich. Dann sah ich hier die finsterste Seite des Mittelalters, vermutete an jeder Ecke ein Attentat und roch schon mein Blut.
Heute war es schön, die frühe Abendsonne stand hinter den entfernten Hügeln und tränkte die Straße in ein bezauberndes Gold. Ich liebe dieses Licht, es zeigt die Welt von ihrer schönsten Seite und jede solche Minute ist unendlich kostbar, durch massives Gold nicht aufzuwiegen. Ich schlenderte über den Friedhof, nahm ein paar Umwege und genoss die klare, warme Luft. Vertraute Menschen begegneten mir unterwegs und man nickte einander zu oder wechselte ein kurzes Wort. Andere, obwohl seit Jahren bekannte Gesichter werden wohl nie zu mir sprechen. Ein Großteil des Menschenpools in Städten solcher Größe kennt sich durch jahrelanges Sichbegegnen zumindest optisch recht gut. Man verfolgt die Entwicklungen, sieht die Gesichter über die Jahre altern, sieht sie lachend, sieht sie staunend oder hilflos dahinblickend immer und immer wieder. In diesem lose gesponnenen Netz der Bekanntschaften spielen Namen, Berufe, Ansichten und Einstellungen keine Rolle, denn man weiss nichts darüber. Man denkt auch nicht groß an diese Leute. Nur wenn man sich mal wieder trifft, auf der Straße oder beim Einkauf, rücken die kurzen Momente, die man mit diesen Leuten teilte, zusammen und werden stumm ergänzt. Einige sieht man gar nicht mehr. Es gab in unserer Stadt einen Obdachlosen, welcher in braunem Mantel und mit schneeweißem Haar einen Winter nach dem anderen überstand. Er hatte durch sein Raucherbein einen eigentümlichen Gang und ein gewisses heruntergekommenes, versoffenes und verlottertes Charisma. Trotz seines eher kargen Lebens merkte man ihn nie fluchen oder auch nur ärgerlich dreinschauen. Er war immer in Bewegung, ich sah ihn nie sitzen und ruhen. Er zog immerzu seinen verkrüppelten Fuß durch die Stadt, einen Beutel voller Schnaps bei der Hand. Dann irgendwann entdeckte ich ihn lange nicht mehr, dachte ab und zu an den armen Penner, aber blicken lies er sich nicht mehr. Er muss wohl gestorben sein.