Die Pistole (Traum eines Besessenen)

[fN]Leichnam

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Seit vielen Jahren bin ich von dem Gedanken besessen, meinem Leben mit der Pistole, mit einem Mundschuss, ein Ende zu setzen. Ein lächerlicher Gedanke, denn weder besitze ich die Pistole, noch habe ich Aussicht darauf, in absehbarer Zeit ihren Besitz zu erlangen. Ihr Typ, ihr Kaliber, das Gefühl, sie in meiner Hand und später dann in meinem Mund zu spüren, sind mir unbekannt. Ich weiß nicht, ob die Pistole als solche heute schon existiert, d.h. ob sie bereits zusammengebaut in einem Depot auf mich wartet oder ob die Pistole heute vielleicht noch gar keine Pistole ist, heute, da ich so intensiv an sie denke, denn ich habe ein Anrecht auf diese Pistole, ich habe sie notwendig, ich brauche diese Pistole mehr als jeder andere. Es ist nicht meine Pistole, aber ich brauche sie, ich werde sie gebrauchen.
Ursprünglich schuf man die Waffen zur Selbstverteidigung, zum Angriff, zur Selbstverteidigung mittels Angriff. Man greift einen Angreifer mit der Pistole an und hat sich damit selbstverteidigt. Der Präventivangriff dient auch dem noblen Zweck der Selbstverteidigung. Sich selbst verteidigen zu können, ist den Menschen sehr wichtig, sich behaupten zu können, sich durchzusetzen, zu gewinnen, am Leben zu bleiben. Mir liegt nichts daran. Ich werde die Pistole einzig und allein gegen mich selber einsetzen, sie zu diesem Zwecke gebrauchen, nur ein einziges Mal. In diesem meinem Szenario, über das ich schon so lange, so viele Jahre lang nachdenke, gibt es den Angreifer, mich, den Angegriffenen, wieder mich, den Verlierer (seines Lebens in diesem Fall) und den Gewinner, mich, den Gewinner, denn ich verspreche mir hohe Erfolgsaussichten von diesem meinem Waffeneinsatz der Pistole gegen mich selber, eine deutliche Verbesserung meiner Lage, denn ich bin wie alle Menschen in erster Linie Egoist und würde anders handeln, wenn ein anderes Handeln meinen Zwecken und Absichten zuträglicher wäre. Aber die Pistole ist ideal. Sie erfüllt alle meine Wünsche und Anforderungen. Ich bin von ihr und dem Gedanken an sie besessen, wie gesagt. Es gibt niemals, jemals einen Grund, am Leben zu sein. Niemals, jemals. Deswegen bin ich von dem Gedanken an die Pistole so besessen. Es gibt keinen Grund, nur Gedanken. Die großen Gedanken besitzen wir nicht, sie besitzen uns, deswegen sind sie groß, deswegen sind wir von ihnen besessen. Für mich ist der Gedanke an die Pistole ein solcher großer Gedanke. Aber da die Pistole nicht hier ist, ist mein großer Gedanke an die Pistole zugleich auch ein lächerlicher und wird ein lächerlicher Gedanke bleiben bis die Pistole in meinem Besitz ist. Von diesem Punkt an allerdings wird aus dem lächerlichen Gedanken ein ernsthafter Gedanke werden, der sich steigern wird bis zur äußersten Ernsthaftigkeit. Von der gegenwärtigen großen Lächerlichkeit bis zur zukünftigen äußersten Ernsthaftigkeit reicht dieser mein großer, mich besitzender Gedanke an die Pistole.
Wenn Menschen sich erschießen, tun sie das nur aus dem einzigen Grund, um schlimmeres zu verhindern. Der Einwand, dass es nichts schlimmeres gibt, als sich zu erschießen, ist eine Naivität und darf getrost ignoriert werden. Frech und dumm ist dieser Einwand. Anmaßend. Man lese die entsprechenden Aufsätze von David Hume und Arthur Schopenhauer, deren Fazit es ist, dass es zu den Grundrechten eines Menschen zählt, seinem Leben zu einem selbstgewählten Zeitpunkt ein Ende zu bereiten. In einer so aufwändig inszenierten Kombination aus Unter- und Überforderung wie sie das Menschenleben darstellt, welches niemanden im ihm entsprechenden, fördernden und Glück bringenden Maße fordert, ist es absolut unmöglich, eine richtige Entscheidung zu treffen. Niemals ist in dieser von Grund auf verkehrten, ungerechtfertigten und absolut überflüssigen Welt auch nur eine einzige richtige Entscheidung getroffen worden. In einer falschen Welt ist eine richtige Entscheidung völlig unmöglich. Auch die Entscheidung für die Pistole und der große Gedanke an die Pistole ist falsch, verlogen, durch nichts zu rechtfertigen. Nichts wird durch ihn, den Gedanken, oder sie, die Entscheidung, erlöst und gerettet werden. Es wird im Gegenteil für jedermann alles beim Alten und Gewohnten bleiben. Die gewöhnliche Welt, die vollkommen falsche, gewöhnliche Welt bleibt durch ihre Bewohner natürlich unberührt, unberührbar für immer. Die Pistole wird nichts daran ändern.
 
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Es stellt sich die Frage, ob der Erzähler die Pistole wirklich benutzen würde. "Ich würde, wenn ich könnte!". Da kann man sich schon sehr drauf versteifen, immer entschlossener kann man diesen Gedanken hegen und pflegen. Immer in der Sicherheit, dass man ja nicht kann und vermutlich nie können wird. Wenn er dann wirklich in den Besitz in einer Pistole kommt, wird er vielleicht entgegen seiner Erwartung ernüchtert feststellen, dass er einfach nur seine Gedanken an diese Pistole verschwendet hat!
 
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Ich frage mich, ob man überhaupt seine Entscheidungen, die man trifft, in richtig und falsch einordnen kann. Nach dem Ezähler scheint man das zu können, er sieht die Welt einfach: schwarz oder weiß, richtig oder falsch, gut oder böse.
Diese einfach dualistische Sichtweise lässt die Frage aufkommen, ob er die Pistole als richtige Entscheidung sieht.
 

Photon

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Ein sehr aufbauender Text.

Ich mag die Moral der Geschichte.
 
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