Die letzte Schlacht (Romanauszug III)

[fN]Leichnam

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05.10.2004
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Weitere Bilder folgten. Schlaf und Tod vereinigten sich und die Novizin kämpfte mit allen Kräften gegen beide an. Da war der „Adler“, die blaue Etage mit den lebendigen Knochenmenschen, sie hörte die Untergangsmusik Blutcellos, sie sah noch einmal die Hinrichtung am Markt. All das wechselte nun vor ihrem lebendigen Auge in rascher Traumfolge und schien mal mehr dem Leben, mal mehr dem Tode zugeneigt. Der betrunkene Kapitän tanzte Polka mit Pedros Vater, während Rebecca noch immer den Schmutz aus Geishas Kleidern wusch. Sie fühlte zurück, spürte noch einmal das Gefühl, wohlbehalten und errettet in Gattas Arm zu liegen, sie sah wieder das horizontweite Blumenmeer ihrer Grotte. Noch weiter ließ sich blicken. Es kämpften und fraßen die Käfer in ihrer Hand, sie sah sich und Hergat mit Erde beschmiert, sah sich am Strand, sah sich ins Meer und in die Wellen eintauchen.
Sie wusste, wie bedrohlich nah sie jetzt dem Tode war. Sie spürte es an dem Verlangen, sich hinzugeben – aufzugeben - voller Zuversicht und Erschöpfung ja zu sagen. Nicht mehr kämpfen, nicht mehr siegen, nicht mehr die Niederlage erleiden. In jede Richtung offenbarten sich jetzt Fluchtwege, überall lockte die Erlösung, überall zeigte sich ihr der Tod. In Lenas verlassenem Bett, in den leeren Schriften Atmandus, kein Fleck und keine Stelle, die nicht von seinen Spuren besudelt war. Gegen Morgen war sie an einen Scheitelpunkt gelangt, der nun nach Endgültigkeit und Entscheidung verlangte. Das Mädchen schob sich aus dem Bett.

In unheimlicher Ferne leuchtete eine Sonne, blass und abgelegen, sehr schwach, ein weißer Zwerg. Vom Rest des Himmels war nichts zu sehen, er war weg. Kein Weiß, kein Blau, nicht Schwarz, gar nichts, es war da ein Loch in der Welt, so als wäre dort nie etwas gewesen. Als sie die Bettdecke richten wollte, versank diese in der Matratze und ließ nichts als einen Abgrund zurück. Hastig stürzte Geisha aus der Kammer. Der Flur war in surreale Längen und Ausmaße verzerrt, das Ziffernblatt der schweren Standuhr drehte sich synchron zu deren Zeigern, von der Decke tropfte Wasser, gefror im Fluge und verblieb in der Schwebe.
Unter mühsamer Anstrengung erreichte sie die Treppe. Die Stufen fuhren ihr entgegen, führten plötzlich wieder auf- statt abwärts, kollabierten hinter ihr. Jeder zurückgelegte Meter sank in die Versenkung und schon bald war vom Ostflügel des Klosters außer dichten Wolken nichts mehr zu sehen. In der Eingangshalle lag die große Sanduhr in Scherben und der Staub, der sie einst füllte, stand wie dichter Nebel im Raum. Geisha gelangte in den Kreuzgang, durchschritt ihn zügig, alle Brunnen waren gefroren, die Bilder an den Wänden waren zu Türen und Pforten geworden, die geradewegs ins nichte Jenseits führten. Erschöpft fand sie zur Bibliothek, sie sah Hergat unter einer gewaltigen Menge leerer Bücher begraben, er war tot. Weitere Regale stürzten ein und drohten auch sie zu überschütten. So erreichte Geisha die Wendeltreppe, stieg sie rasch hinan und stand schließlich – in schwarzem Kleide – am Eingang der Meisterwohnung. Hinter ihr sank die Wendeltreppe ins Nichts.
Alles war hier noch wie in jener letzten Nacht, als Lena starb und sie, Geisha, sich vor dem Meister versteckt hielt und Angst hatte. Sie hastete durch den Gang, fand die Halle und den großen Tisch. An der Decke schien noch immer die Sonne vom Grund eines tiefen Meeres herauf.
Das Mädchen durchschritt den Raum, betrat das Nachbarzimmer und hier saß, an einem winzigen Tisch und mit dem Rücken zu ihr, der Meister.
„Geisha.“ sprach er ohne sie anzusehen.
„Meister.“
„Du bist also gekommen.“
„Ihr habt es so gewollt.“
Sie starrte dem Vermummten ins Genick, wo eine Kapuze angebracht und sorgsam über den Kopf gezogen war.
„Allerdings habe ich es gewollt.“ sprach der Meister. „Letzte Nacht wollte ich deine Freundin - und ich bekam sie.“
Er drehte sich zu ihr. Aus der Kapuze starrten dunkle Augen hervor und ihr Blick brannte entsetzlich auf alles was sie ansahen.
„Ich bin gekommen, den Pfad zu betreten.“ beschwor ihn Geisha.
Der Meister lachte.
„Und wer soll dich davon abhalten – wenn nicht ich?“
„Ihr werdet mich nicht abhalten. Weder wollt, noch könnt Ihr es.“
„Was macht dich denn so sicher?“
Sie trat näher an ihn heran.
„Ich bin gekommen, den Tod zu morden und Ihr, Meister, seid der Tod.“
Der Meister nickte bedächtig und zog sich die Kapuze ins Genick. Es quollen die Locken des schönen Geigers hervor, unbewegt blickte Geisha in das Antlitz Blutcellos.
„Ich weiß, du liebst mich.“ sprach er. „Doch mehr noch fürchtest du mich, noch größer als deine Liebe ist deine Angst. Beides wird dir nicht nützen. So lasse deine Waffen sprechen, kleines Mädchen.“
Geisha zog unter ihrem Kleide den Dolch hervor, die Augen des Geigers blitzten auf.
„Du trägst den Dolch?“ sprach er. „Die Waffe Atmandus, die Waffe der Ahnen?“
Sie nickte und fuhr mit dem Nagel das Mutterlandssymbol der Klinge nach. Der Tod musterte das Mädchen, ließ seine fahlen Augen auf ihrem Gesicht ruhen.
„Und nun hast du gefunden, wonach du auf der Suche warst?“ fuhr er fort. „Möchtest du nicht von deinem Schicksal, möchtest du nicht vom Dolch der Großen Gebrauch machen?“
Geisha sah in lange an, sah ihn den Hals bieten wie ein unterwürfiges Tier. Langsam trat sie ihm näher, den Dolch fest umklammert, und als sie ganz bei ihm war, zitterte Blutcello wollüstig in Erwartung der Klinge. Geisha beugte sich über ihn und an sein Ohr.
Sie sprach: „Deine Macht ist das Nichts, meine dagegen das All. Lass mich dich nicht hassen, ich will dich gerne mit einbeziehen, lass mich dich befreien.“
Und als der Geiger diese Worte vernahm, sah er wie das Mädchen den Dolch beiseite legte, sich das dunkle Haar aus dem Gesicht strähnte und ihm feste in die Augen blickte. Geisha berührte den Mund des Todes mit dem ihren, schloss die Augen und küsste ihn. Abermillionen gewesener und gegangener Seelen erwiderten den Kuss, und sie waren nicht grau und verwahrlost, sondern eine jede in der Form und Figur, da sie der Vervollkommnung am nächsten gewesen ist. Auch von Hergat und Atmandu, auch von Pedro und dessen Mutter, auch von Lena empfing sie den Kuss. Dies Reich des Todes war weit größer und mächtiger als der enge Bezirk des Lebens. Es war zeitlos und sprach doch von allen Zeiten, künftigen wie vergangenen, es war raumlos, dennoch vorhanden und beständig sich erweiternd wie die Welt selbst. Geisha sog es auf, liebkoste die unzählig tausenden Lippen, Mäuler und Schnäbel, schenkte einem jeden ihre kinderhafte, vorbehaltlose Liebe, spürte die große Vielfalt der Toten und ihre stille Einheit. Da waren Mensch und Tier und Pflanze an einem Punkt zusammengeführt, sich nicht mehr widersprechend, einander nicht mehr bekämpfend, sich nicht mehr unterscheidend und als sie nach diesem weiten Blick die Augen wieder aufschlug, war Blutcello verschwunden.

Noch an jenem Tage verließ Geisha das Kloster. Der Himmel war zurückgekehrt, die Vögel, der Wald, alles triumphierte, alles sang das Lied des Lebens und alles war vereinigt in der jungen Meisterin, die frohen Schrittes den Pfad entlang ins Mutterland einwanderte.
 
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