Brütlinge
Er hat der Videoaufzeichnung seines Ablebens zugestimmt, unter der Bedingung, dass sie uns ein Stück modernster Technologie nutzen lassen. Illusion im Austausch für das Protokoll einer fatalen Verwandlung.
Das blendende Licht nimmt ab. Wir öffnen die Augen.
Wir befinden uns in einem Waldstück, ein paar Dutzend Meter entfernt vom Zielpunkt der Holographie-Umgebung.
An meiner Seite atmet es schwer.
„Das ist zu früh“, sagt der Mann. „Irgendwo da muss es sein. Bring mich hin.“ Aber er wollte es so, er wollte einen Weg, eine kurze Distanz, die es noch zu überwinden gilt.
Vielleicht reduziert ihn sein nahender Tod auf gewisse Vorstellungen seines Volkes, Ideen von einem letzten Gang. Er macht die Augen wieder zu und überlässt sich meiner Führung.
Mit diesem Wald waren sie gründlich, das erkennt sogar ein Bewusstsein, das nie etwas wie zusammenhängende Waldflecken gekannt hat. Die Luft ist feucht, still, regenschwanger, ganz gleich ob in einer beeinträchtigten Nase oder einer Gesichtsmaske.
Die Krankenstation meldet sich in meinem Intercom. Ob der Übertritt funktioniert habe, möchten sie wissen. Ich bestätige. Danach schweigen sie, denn offenbar ist alles an diesem Szenario – Protagonist, Helfer, Hintergrund und Zweck – so neu, dass sie begreifen, wie leer ihre arttypische Wortemacherei wirken würde, und lieber zusehen und warten.
Also nehme ich den Protagonisten beim Arm und geleite ihn vorwärts.
Er hat Schwierigkeiten beim Gehen. Er hängt sich beinahe mit ganzer Kraft an meine Stütze, lässt sich führen wie ein Blinder. Ausgiebige Beschäftigung mit seiner Spezies hat mir verraten, dass Exemplare in seiner Lage nachsichtiger gegenüber fundamentalen Unterschieden werden; so nimmt scheinbar auch das Misstrauen ab. Ein ewiger Rest aber muss bleiben.
„Wenn die mich jetzt sehen könnten“, murmelt er, als teile er meine Erwägungen. „Scheiße. Ist es noch weit?“
„Nein.“
Es ist tatsächlich nicht mehr weit. Sich öffnender Wald, eine Böschung, die wir hinunter stolpern. Es liegt nicht an meiner Kraft; er zittert inzwischen so sehr, dass seine ganze Form, zwei Haupteslängen kleiner als meine, vibriert und zuckt.
„Sind wir da?“
„Es scheint so.“
„Gut.“ Sein Gewicht an meinem rechten Arm wird kurz schwerer. „Irgendeinen Platz, wo ich mich hinsetzen kann.“
Dann setzt er sich. Grunzt wie ein Tier, lehnt sich zurück, die Augen immer noch geschlossen, die Lippen voller Speichel. Während er um Atem ringt, erfasse ich die Umgebung, trete von ihm zurück und stelle die Instrumententasche ab.
Als ich mich umdrehe, hat er sich der holographischen Illusion soeben erstmals vollkommen ausgeliefert. Da die Standardausrüstung seiner Einheit ihm nicht länger passt, haben sie ihn in eine Thermohose, Weste und Allzweckstiefel gekleidet. Vom Brustbein aufwärts bleibt er Soldat, hat auf Schulterpolster bestanden, aber darüber, wie abgesondert, hängt ein fahles, schlaffes Gesicht, ohne Helm. Die Augen sind geweitet.
„Verdammt noch eins, das ist perfekt“, sagt er. „Perfekt. Schau dir das an.“
Auf einem beliebigen Fleck einer Schlackenebene, unter über unseren Häuptern hin- und her gleitenden Trägern und Kreuzern, im schwefligen Halblicht, sind er und ich uns begegnet, Zwei aus Vielen, bloße Köpfe einer unwahrscheinlichen Verhandlung. Instinktiver Hass auf das Fremde auf beiden Seiten, hier sie, dort wir, auf immer unvereinbar – aber Vertreter von Zivilisationen, die das wimmelnde Chaos des gemeinsamen Feindes etwas gelehrt hat… Etwas. Demut vielleicht. Zweckdenken.
Warum er mich als Begleiter wollte, entzieht sich nach wie vor meinem Verständnis. Jetzt wartet er offenbar darauf, dass ich die künstliche Umgebung mit einem Kommentar versehe, und in Anbetracht seiner elenden Lage und der allgemeinen Mission komme ich seinen Wünschen nach.
„Ich schaue.“
Ich gebe mir Mühe. Sein schwammiges Vertrauen hat zumindest das verdient.
Vor uns, um uns, erstrecken sich die Überbleibsel einer niedrigen Halle. Das Dach und die Wände fehlen. Nackte Streben, rostbraun, formen das Skelett des Gebäudes. Alles befindet sich im Stadium fortgeschrittenen Verfalls; ein hoher, lichtgrauer Himmel überspannt die Szenerie, Bäume und Büsche sind durch die Gebäudereste hineingewachsen, eine Borte diffusen Triumphs der Natur. Am Boden ruhen nur noch ein paar Hüllen, regennass und ausgebleicht. Bei den Hüllen, erkenne ich, handelt es sich um kleine, räderlose Fahrzeuge.
„Das ist perfekt, verdammt nochmal“, verkündet der sitzende Mann wieder.
„Warum?“
Wir wechseln einen Blick. Trübe Kugeln aus Gallert treffen auf milchiges Hellblau.
„Verrottete Fahrzeuge“, sage ich. „Außer Betrieb. Funktionsuntüchtig.“ Und dann, nach einem innerlichen Wegschieben der trennenden Gedankenwelten: „Warum hast du dir kaputte Fahrzeuge gewünscht?“
Der Mann, der am Boden des verfallenen Holographie-Szenarios kauert, sieht zu mir auf, zum einstigen Feind. Da ist ein Funken kecker Herausforderung. „Du hast uns doch studiert. Meinesgleichen.“ Er streckt sich; eine unwillkürliche Bewegung – es ist bald soweit. „Wie wir denken. Wie wir ticken.“
„Du könntest es mir erklären.“
Er sinkt in sich zusammen; Gesichtshaut glänzt vor Schweiß. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, und der Boden sondert folgsam Staubwölkchen ab.
„Das wird dich nicht interessieren“, sagt er. „Trotzdem. Ich komme aus einem kleinen Ort in Blackwater… So nannte sich das, bevor –” Er bricht ab.
„Vor ihnen.“
„Ganz genau.“ Dann lässt er mich teilhaben – an einem unwichtigen Sammelsurium von Details, Erinnerungen aus der Zeit seiner Jugend, und zwischen diese wirren Fetzen streut er reflektierende Blitzlichter, gefärbt von Selbsthass, gefärbt von Erlebnissen, die, wie ich nach und nach begreife, aus seiner Zeit im Feld stammen: Individuen wie er, die vor ihrem Ableben von Gefährtinnen erzählen, die ihnen rückblickend vor Baumhintergründen erscheinen, oder von kleinen Gebäckstücken, von einer Ahnin zubereitet.
Als er fertig ist, hat er seine verbliebene Zeit fast aufgebraucht. Und mir ist es nicht geglückt, zu verstehen, warum er die Ruine eines Ortes gewählt hat und nicht den Ort selbst.
Die Krankenstation meldet sich erneut im Intercom.
Sie hören mit, das war nicht zu vermeiden; von unnötigen Unterbrechungen sehen sie ab, aber jetzt wird mir mitgeteilt, der Wirkstoff, der den Protagonisten bisher am Leben hält, verliere seinen Einfluss. Sie sagen wohl die Wahrheit. Der Mann am Boden atmet noch schwerer, und da ist ein neuer Ton in seinen Atemgeräuschen, ein Blubbern und Rasseln, so laut, dass es das Summen meines Schilds übertönt. Seine Beine strecken sich immer wieder, als versuche er ruckartig, sich hochzuschieben. Schweiß rinnt ihm über das kleine, flache Gesicht.
„Scheiße…“, stöhnt er.
„Möchtest du mehr Schmerzmittel?“
Er schüttelt den Kopf. Die Bewegung verschwimmt, als er plötzlich heftig das Kinn hochreckt, wie um sich selbst das Genick zu brechen, und die Zähne zusammenbeißt. Das Beinestrecken nimmt seinen Fortlauf. Ich schaue mir den aberwitzigen Rhythmus, der sich da entfalten will, kurz an. Dann baue ich vier Meter entfernt die Kamera auf.
Beim Zurückgehen aktiviere ich die zweite Kamera, eingelassen in das Headset, das sie mir angepasst haben.
Die Meinen werden diese Aufzeichnung nicht brauchen. Einige der Seinen, er unter ihnen, glauben, ihr einen wissenschaftlichen oder propagandistischen Wert entnehmen zu können.
Ihm, das sehe ich – soweit habe ich mich schon auf sie eingelassen -, bringt es einen Nutzen: Trost. Er stirbt vielleicht nicht umsonst.
Allerdings glaube ich kaum, dass sein Zustand ihm noch viel Raum für Gedanken lässt. Sein Körper, so zerbrechlich ohne wehrhafte Hülle, wird von zunehmend stärkeren Konvulsionen erschüttert. Was geht in seinem Kopf vor? Denn der Kopf, das wissen wir, bleibt wie zum Hohn auf den gesamten, grausigen Vorgang unangetastet und wird noch da sein, wenn sich der Rest von innen nach außen gekehrt hat.
Aber was auch immer er denkt und fühlt, hat mittlerweile ohne Worte auszukommen. Er ist nicht mehr in der Lage, sich zu artikulieren. Er murmelt, winselt und weint; ich meine, Flüche herauszuhören, dann und wann ein gestottertes „Scheiße“ – es muss sehr weh tun. Oder die illusorische Umgebung quält ihn. Oder beides.
Da kommen sie.
Sein ohnehin übermäßig geschwollener Leib quillt auf, Spasmen schütteln seine Gliedmaßen, bis er einen Stiefel verliert. Plötzlich schießt eine Blutfontäne aus einem Loch, das sich wie eine platzende Blase auftut, wird über den staubigen Boden versprüht, dann reißen die Ränder des Lochs. Die Kameras laufen mit. Sie werden diesen Film ihren Rekruten vorspielen. Ich höre Wortmeldungen im Intercom, achte aber nicht auf sie. Beinahe im Handumdrehen verwandelt sich, was eben noch ein – wenn auch sterbenskranker – Mann war, in einen zerfledderten Sack. Sein Körper gebiert die Monster; er ist längst tot, und die Zuckungen und schlackernden Finger entsprechen nur noch einem letzten Nervenaufbäumen.
Wir haben das mehrfach mit angesehen, er und ich und Andere, bei den Seinen und den Meinen. Das Phänomen ist alt, diese Variante bedauerlicherweise neu – auch das vermögen sie jetzt -, der Schrecken bleibt derselbe, immer frisch.
Die Brütlinge sind deutlich kleiner als die simpelste Kampfeinheit ihrer Spezies, braun, augenlos, mit einem dreieckigen, abgeflachten Leib, zwei Gliedmaßen und einem stachelbewehrten Schwanz. Ohne das geringste Atemholen oder Verharren nach ihrer Geburt explodieren sie in wilde Beweglichkeit, stoßen sich von ihrem Wirt ab, schleifen dickes Blut und andere, festere Teile mit. Sie greifen sofort an: das erste verfügbare Individuum in ihrer Nähe. Also natürlich mich.
Ich nagle den ersten, geringfügig schnelleren mit der Klinge am Boden fest. Der zweite springt hinterher, fängt sich eine Salve aus der terranischen C-14 Impaler ein, stürzt fauchend und flieht. Er verschwindet wie ein übergroßer Zwitter aus Insekt und Krustentier hinter einem der räderlosen Fahrzeuge, mit denen der tote Marine sein persönliches, holographisches Sterbebett garniert hat.
Ich gehe dem zweiten Brütling nicht nach. Ihre Lebensdauer ist enorm kurz, er wird auch ohne meine Hilfe innerhalb der nächsten Viertelstunde verenden.
Stattdessen schiebe ich die Leiche des ersten mit der Stiefelspitze durch den Staub, bis sie in bestmöglicher Ausrichtung zur Kamera liegt. Immer noch ertönen Stimmen in meinem Intercom. Sie haben faktisch, was sie wollten; vielleicht aber sagt ihnen das Ende der makabren Vorstellung nicht zu – vielleicht entsteht durch die Passivität des Helfers, des Protoss, der einen Menschen in den Tod begleitet hat, eine Leere, eine Gleichgültigkeit oder Schicksalsergebenheit, die ihnen nicht behagt.
Ich stelle mich taub. Stattdessen gehe ich neben dem Protagonisten in die Hocke und warte – exakt sechzig Sekunden lang, ihn wird es nicht kümmern -, betrachte seine zersprengte Form und rätsle. Er hat nicht nach einem menschlichen Begleiter verlangt, der Mitleid empfinden könnte. Er hat niemanden angefordert, dem seine vagen Erinnerungen an einen Eckpfeiler seines Lebens – ‚Vergnügungspark‘ und ‚Autoskooter‘, Begriffe, die ich in meine Übersicht terranischer Sprache aufnehmen muss – etwas bedeuten. Er wollte mich. Das fremde, unbeugsame Gegenüber, die Idee eines Kameraden vor dem gemeinsamen Feind.
Danach erhebe ich mich. Sie erwarten meine Rückkehr. Während der zweite Brütling hinter der Hülle eines Fahrzeugs schnarrt und kratzt, werfe ich einen letzten Blick auf den hohen, hellgrauen Himmel, der in vielen Heimatwelten nicht existiert.
Es ist leer hier, und einsam. Hier könnten sie kein Unheil anrichten.
Der Mann zu meinen Füßen ist tot.
Ich meine nun zu begreifen, dass er die Brütlinge nicht in ein belebtes Szenario entlassen wollte, nicht einmal in die schiere Holographie eines solchen. Darum dieses Bild. Darum die Autoskooter.
Er hat der Videoaufzeichnung seines Ablebens zugestimmt, unter der Bedingung, dass sie uns ein Stück modernster Technologie nutzen lassen. Illusion im Austausch für das Protokoll einer fatalen Verwandlung.
Das blendende Licht nimmt ab. Wir öffnen die Augen.
Wir befinden uns in einem Waldstück, ein paar Dutzend Meter entfernt vom Zielpunkt der Holographie-Umgebung.
An meiner Seite atmet es schwer.
„Das ist zu früh“, sagt der Mann. „Irgendwo da muss es sein. Bring mich hin.“ Aber er wollte es so, er wollte einen Weg, eine kurze Distanz, die es noch zu überwinden gilt.
Vielleicht reduziert ihn sein nahender Tod auf gewisse Vorstellungen seines Volkes, Ideen von einem letzten Gang. Er macht die Augen wieder zu und überlässt sich meiner Führung.
Mit diesem Wald waren sie gründlich, das erkennt sogar ein Bewusstsein, das nie etwas wie zusammenhängende Waldflecken gekannt hat. Die Luft ist feucht, still, regenschwanger, ganz gleich ob in einer beeinträchtigten Nase oder einer Gesichtsmaske.
Die Krankenstation meldet sich in meinem Intercom. Ob der Übertritt funktioniert habe, möchten sie wissen. Ich bestätige. Danach schweigen sie, denn offenbar ist alles an diesem Szenario – Protagonist, Helfer, Hintergrund und Zweck – so neu, dass sie begreifen, wie leer ihre arttypische Wortemacherei wirken würde, und lieber zusehen und warten.
Also nehme ich den Protagonisten beim Arm und geleite ihn vorwärts.
Er hat Schwierigkeiten beim Gehen. Er hängt sich beinahe mit ganzer Kraft an meine Stütze, lässt sich führen wie ein Blinder. Ausgiebige Beschäftigung mit seiner Spezies hat mir verraten, dass Exemplare in seiner Lage nachsichtiger gegenüber fundamentalen Unterschieden werden; so nimmt scheinbar auch das Misstrauen ab. Ein ewiger Rest aber muss bleiben.
„Wenn die mich jetzt sehen könnten“, murmelt er, als teile er meine Erwägungen. „Scheiße. Ist es noch weit?“
„Nein.“
Es ist tatsächlich nicht mehr weit. Sich öffnender Wald, eine Böschung, die wir hinunter stolpern. Es liegt nicht an meiner Kraft; er zittert inzwischen so sehr, dass seine ganze Form, zwei Haupteslängen kleiner als meine, vibriert und zuckt.
„Sind wir da?“
„Es scheint so.“
„Gut.“ Sein Gewicht an meinem rechten Arm wird kurz schwerer. „Irgendeinen Platz, wo ich mich hinsetzen kann.“
Dann setzt er sich. Grunzt wie ein Tier, lehnt sich zurück, die Augen immer noch geschlossen, die Lippen voller Speichel. Während er um Atem ringt, erfasse ich die Umgebung, trete von ihm zurück und stelle die Instrumententasche ab.
Als ich mich umdrehe, hat er sich der holographischen Illusion soeben erstmals vollkommen ausgeliefert. Da die Standardausrüstung seiner Einheit ihm nicht länger passt, haben sie ihn in eine Thermohose, Weste und Allzweckstiefel gekleidet. Vom Brustbein aufwärts bleibt er Soldat, hat auf Schulterpolster bestanden, aber darüber, wie abgesondert, hängt ein fahles, schlaffes Gesicht, ohne Helm. Die Augen sind geweitet.
„Verdammt noch eins, das ist perfekt“, sagt er. „Perfekt. Schau dir das an.“
Auf einem beliebigen Fleck einer Schlackenebene, unter über unseren Häuptern hin- und her gleitenden Trägern und Kreuzern, im schwefligen Halblicht, sind er und ich uns begegnet, Zwei aus Vielen, bloße Köpfe einer unwahrscheinlichen Verhandlung. Instinktiver Hass auf das Fremde auf beiden Seiten, hier sie, dort wir, auf immer unvereinbar – aber Vertreter von Zivilisationen, die das wimmelnde Chaos des gemeinsamen Feindes etwas gelehrt hat… Etwas. Demut vielleicht. Zweckdenken.
Warum er mich als Begleiter wollte, entzieht sich nach wie vor meinem Verständnis. Jetzt wartet er offenbar darauf, dass ich die künstliche Umgebung mit einem Kommentar versehe, und in Anbetracht seiner elenden Lage und der allgemeinen Mission komme ich seinen Wünschen nach.
„Ich schaue.“
Ich gebe mir Mühe. Sein schwammiges Vertrauen hat zumindest das verdient.
Vor uns, um uns, erstrecken sich die Überbleibsel einer niedrigen Halle. Das Dach und die Wände fehlen. Nackte Streben, rostbraun, formen das Skelett des Gebäudes. Alles befindet sich im Stadium fortgeschrittenen Verfalls; ein hoher, lichtgrauer Himmel überspannt die Szenerie, Bäume und Büsche sind durch die Gebäudereste hineingewachsen, eine Borte diffusen Triumphs der Natur. Am Boden ruhen nur noch ein paar Hüllen, regennass und ausgebleicht. Bei den Hüllen, erkenne ich, handelt es sich um kleine, räderlose Fahrzeuge.
„Das ist perfekt, verdammt nochmal“, verkündet der sitzende Mann wieder.
„Warum?“
Wir wechseln einen Blick. Trübe Kugeln aus Gallert treffen auf milchiges Hellblau.
„Verrottete Fahrzeuge“, sage ich. „Außer Betrieb. Funktionsuntüchtig.“ Und dann, nach einem innerlichen Wegschieben der trennenden Gedankenwelten: „Warum hast du dir kaputte Fahrzeuge gewünscht?“
Der Mann, der am Boden des verfallenen Holographie-Szenarios kauert, sieht zu mir auf, zum einstigen Feind. Da ist ein Funken kecker Herausforderung. „Du hast uns doch studiert. Meinesgleichen.“ Er streckt sich; eine unwillkürliche Bewegung – es ist bald soweit. „Wie wir denken. Wie wir ticken.“
„Du könntest es mir erklären.“
Er sinkt in sich zusammen; Gesichtshaut glänzt vor Schweiß. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, und der Boden sondert folgsam Staubwölkchen ab.
„Das wird dich nicht interessieren“, sagt er. „Trotzdem. Ich komme aus einem kleinen Ort in Blackwater… So nannte sich das, bevor –” Er bricht ab.
„Vor ihnen.“
„Ganz genau.“ Dann lässt er mich teilhaben – an einem unwichtigen Sammelsurium von Details, Erinnerungen aus der Zeit seiner Jugend, und zwischen diese wirren Fetzen streut er reflektierende Blitzlichter, gefärbt von Selbsthass, gefärbt von Erlebnissen, die, wie ich nach und nach begreife, aus seiner Zeit im Feld stammen: Individuen wie er, die vor ihrem Ableben von Gefährtinnen erzählen, die ihnen rückblickend vor Baumhintergründen erscheinen, oder von kleinen Gebäckstücken, von einer Ahnin zubereitet.
Als er fertig ist, hat er seine verbliebene Zeit fast aufgebraucht. Und mir ist es nicht geglückt, zu verstehen, warum er die Ruine eines Ortes gewählt hat und nicht den Ort selbst.
Die Krankenstation meldet sich erneut im Intercom.
Sie hören mit, das war nicht zu vermeiden; von unnötigen Unterbrechungen sehen sie ab, aber jetzt wird mir mitgeteilt, der Wirkstoff, der den Protagonisten bisher am Leben hält, verliere seinen Einfluss. Sie sagen wohl die Wahrheit. Der Mann am Boden atmet noch schwerer, und da ist ein neuer Ton in seinen Atemgeräuschen, ein Blubbern und Rasseln, so laut, dass es das Summen meines Schilds übertönt. Seine Beine strecken sich immer wieder, als versuche er ruckartig, sich hochzuschieben. Schweiß rinnt ihm über das kleine, flache Gesicht.
„Scheiße…“, stöhnt er.
„Möchtest du mehr Schmerzmittel?“
Er schüttelt den Kopf. Die Bewegung verschwimmt, als er plötzlich heftig das Kinn hochreckt, wie um sich selbst das Genick zu brechen, und die Zähne zusammenbeißt. Das Beinestrecken nimmt seinen Fortlauf. Ich schaue mir den aberwitzigen Rhythmus, der sich da entfalten will, kurz an. Dann baue ich vier Meter entfernt die Kamera auf.
Beim Zurückgehen aktiviere ich die zweite Kamera, eingelassen in das Headset, das sie mir angepasst haben.
Die Meinen werden diese Aufzeichnung nicht brauchen. Einige der Seinen, er unter ihnen, glauben, ihr einen wissenschaftlichen oder propagandistischen Wert entnehmen zu können.
Ihm, das sehe ich – soweit habe ich mich schon auf sie eingelassen -, bringt es einen Nutzen: Trost. Er stirbt vielleicht nicht umsonst.
Allerdings glaube ich kaum, dass sein Zustand ihm noch viel Raum für Gedanken lässt. Sein Körper, so zerbrechlich ohne wehrhafte Hülle, wird von zunehmend stärkeren Konvulsionen erschüttert. Was geht in seinem Kopf vor? Denn der Kopf, das wissen wir, bleibt wie zum Hohn auf den gesamten, grausigen Vorgang unangetastet und wird noch da sein, wenn sich der Rest von innen nach außen gekehrt hat.
Aber was auch immer er denkt und fühlt, hat mittlerweile ohne Worte auszukommen. Er ist nicht mehr in der Lage, sich zu artikulieren. Er murmelt, winselt und weint; ich meine, Flüche herauszuhören, dann und wann ein gestottertes „Scheiße“ – es muss sehr weh tun. Oder die illusorische Umgebung quält ihn. Oder beides.
Da kommen sie.
Sein ohnehin übermäßig geschwollener Leib quillt auf, Spasmen schütteln seine Gliedmaßen, bis er einen Stiefel verliert. Plötzlich schießt eine Blutfontäne aus einem Loch, das sich wie eine platzende Blase auftut, wird über den staubigen Boden versprüht, dann reißen die Ränder des Lochs. Die Kameras laufen mit. Sie werden diesen Film ihren Rekruten vorspielen. Ich höre Wortmeldungen im Intercom, achte aber nicht auf sie. Beinahe im Handumdrehen verwandelt sich, was eben noch ein – wenn auch sterbenskranker – Mann war, in einen zerfledderten Sack. Sein Körper gebiert die Monster; er ist längst tot, und die Zuckungen und schlackernden Finger entsprechen nur noch einem letzten Nervenaufbäumen.
Wir haben das mehrfach mit angesehen, er und ich und Andere, bei den Seinen und den Meinen. Das Phänomen ist alt, diese Variante bedauerlicherweise neu – auch das vermögen sie jetzt -, der Schrecken bleibt derselbe, immer frisch.
Die Brütlinge sind deutlich kleiner als die simpelste Kampfeinheit ihrer Spezies, braun, augenlos, mit einem dreieckigen, abgeflachten Leib, zwei Gliedmaßen und einem stachelbewehrten Schwanz. Ohne das geringste Atemholen oder Verharren nach ihrer Geburt explodieren sie in wilde Beweglichkeit, stoßen sich von ihrem Wirt ab, schleifen dickes Blut und andere, festere Teile mit. Sie greifen sofort an: das erste verfügbare Individuum in ihrer Nähe. Also natürlich mich.
Ich nagle den ersten, geringfügig schnelleren mit der Klinge am Boden fest. Der zweite springt hinterher, fängt sich eine Salve aus der terranischen C-14 Impaler ein, stürzt fauchend und flieht. Er verschwindet wie ein übergroßer Zwitter aus Insekt und Krustentier hinter einem der räderlosen Fahrzeuge, mit denen der tote Marine sein persönliches, holographisches Sterbebett garniert hat.
Ich gehe dem zweiten Brütling nicht nach. Ihre Lebensdauer ist enorm kurz, er wird auch ohne meine Hilfe innerhalb der nächsten Viertelstunde verenden.
Stattdessen schiebe ich die Leiche des ersten mit der Stiefelspitze durch den Staub, bis sie in bestmöglicher Ausrichtung zur Kamera liegt. Immer noch ertönen Stimmen in meinem Intercom. Sie haben faktisch, was sie wollten; vielleicht aber sagt ihnen das Ende der makabren Vorstellung nicht zu – vielleicht entsteht durch die Passivität des Helfers, des Protoss, der einen Menschen in den Tod begleitet hat, eine Leere, eine Gleichgültigkeit oder Schicksalsergebenheit, die ihnen nicht behagt.
Ich stelle mich taub. Stattdessen gehe ich neben dem Protagonisten in die Hocke und warte – exakt sechzig Sekunden lang, ihn wird es nicht kümmern -, betrachte seine zersprengte Form und rätsle. Er hat nicht nach einem menschlichen Begleiter verlangt, der Mitleid empfinden könnte. Er hat niemanden angefordert, dem seine vagen Erinnerungen an einen Eckpfeiler seines Lebens – ‚Vergnügungspark‘ und ‚Autoskooter‘, Begriffe, die ich in meine Übersicht terranischer Sprache aufnehmen muss – etwas bedeuten. Er wollte mich. Das fremde, unbeugsame Gegenüber, die Idee eines Kameraden vor dem gemeinsamen Feind.
Danach erhebe ich mich. Sie erwarten meine Rückkehr. Während der zweite Brütling hinter der Hülle eines Fahrzeugs schnarrt und kratzt, werfe ich einen letzten Blick auf den hohen, hellgrauen Himmel, der in vielen Heimatwelten nicht existiert.
Es ist leer hier, und einsam. Hier könnten sie kein Unheil anrichten.
Der Mann zu meinen Füßen ist tot.
Ich meine nun zu begreifen, dass er die Brütlinge nicht in ein belebtes Szenario entlassen wollte, nicht einmal in die schiere Holographie eines solchen. Darum dieses Bild. Darum die Autoskooter.